Die Luft war in der letzten halben Stunde deutlich kälter geworden. Doch niemand merkte es. Niemand war im Haus, der nach draußen treten oder aus dem Fenster sehen konnte. Niemand, der die ersten Tropfen fallen sah oder sie prasseln hörte.
Und keiner sah die kleine Gestalt, die sich, als der Regen stärker wurde, aus den Büschen löste. Er wußte, das Haus war leer. Tagelang, jeden Abend, wenn es dunkel wurde, war er drum herum geschlichen.
Heute war er erst lange nach Einbruch der Dunkelheit hergekommen. Nachdem er über einen Baum hinweg die hohe Mauer überwunden hatte, hatte Romaeus gewartet, bis alles schlief. Sogar Varius schlief schon, selbst Neco hatte nicht bemerkt, wie er sich davongestohlen hatte. Wahrscheinlich würde Neco später wieder sauer tun, weil er ihm auf seine Art helfen wollte. Lysandra würde mal wieder gar nichts sagen, aber immer wenn sie das tat, sprachen ihre Augen und ihr Lächeln dafür.
Auf Zehenspitzen, obgleich seine nackten Füße im Gras kaum zu hören waren, huschte der Junge zur Tür, die vom Garten aus ins Gebäude hinein führte. Vorsichtig zog er sein kleines Messer aus dem Hosenbund, das schon ganz stumpf war von all den Schlössern, die er damit aufgebrochen hatte. Aber es leistete dennoch gute Arbeit. Zwar dauerte es etwas länger, weil er natürlich leise sein mußte, aber nach einer knappen Viertelstunde hörte der Junge jenes leise Klicken, das ihm sagte, daß er es geschafft hatte.
Vorsichtig drückte er die Tür zu einem schmalen Spalt auf, so daß er sich gerade hindurchzwängen konnte. Aufmerksam sah er sich um. Das hier war das Zimmer mit den langen Sitzliegen. Triclinium hieß es auf Latein, soviel wußte er schon, das war das Eßzimmer bei den Römern.
Zum Glück waren seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt und er wußte, wie man sich nachts in fremden Räumen sicher fortbewegen konnte. Langsam, Schritt für Schritt, tastete er sich an den Clinen und am Tisch entlang, bis er sich ungefähr im Höhe der nächsten Tür wußte.
Auf ihrer Schwelle blieb der kleine Einbrecher erneut stehen, um sich prüfend umzusehen.
Er wußte nur grob, wo die Küche lag. Das Haus stand noch nicht allzu lang leer und so hoffte er, dort zurückgebliebenes Essen zu finden, das sich länger hielt.
Der Junge mußte ein paarmal im Flur auf und ab wandern, bis er die richtige Tür gefunden hatte. Um die Schränke zu durchforsten, brauchte er allerdings Licht. Rasch hatte er die kleine Kerze aus seinen Lumpen hervorgewühlt. Das Anzünden war nach all den Jahren der Übung ein Klacks! Gut, daß bei leerstehenden Häusern immer die Fensterläden zu waren - zum Schutz vor Einbrechern. Daß es gerade die Fensterläden waren, die ihn vor ungebetenen Blicken schützten, brauchte ihn immer wieder zum Kichern.
Grinsend hob er die Kerzenflamme an, zog schließlich einen Schemel näher zu den Schränken hin. Jeder einzelne wurde so von dem kleinen Dieb durchforstet. Aber das einzige, was er in der Küche vorfand, waren vertrocknete Zwiebeln und eine dicke fette Spinne, die plötzlich über seine Hand hinweg huschte.
Enttäuscht schob Romaeus die Unterlippe vor und stieg vom Schemel runter. Jetzt blieb ihm nur noch der Keller als letzte Hoffnung ... Wie bei den meisten römischen Häusern schloß die Treppe zur unterirdischen Speisekammer an die Küche an. Dennoch lief Romaeus vorsichtig die Stufen hinunter, da das heiße Kerzenwachs allmählich anfing, ihm auf die Hand zu tropfen. Daß er dabei möglicherweise Spuren auf dem Boden hinterließ, war ihm egal. Niemand würde aufgrund von Wachsflecken feststellen können, wer hier herumgeschnüffelt hatte!
In der Speisekammer angekommen, suchte Romaeus auch dort sämtliche Ecken ab - und wurde, ganz oben im Regal, sogar fündig!
Dort standen noch zwei kleine Behälter mit eingelegtem Obst und Gemüse. Das Wort, welches die Römer dazu benutzten, konnte er sich einfach nicht merken - aber es war ein besonderes Essen, das er zuletzt vor Jahren mal probiert hatte. Ingolf hatte es damals als Überraschung besorgt ... Jetzt war er schon über ein Jahr lang tot. Nicht bloß weg, wie Varius immer noch behauptete ...
Fest preßte Romaeus die Lippen aufeinander.
Nicht jetzt daran denken!
Behutsam fischte er mit der freien Hand nach der ersten Dose. Lysandra und Neco würden sich sicher freuen, und ihr Herr würde nie davon erfahren! Dieses kleine Festmahl gehörte ganz allein ihnen!