Hortus | Verabredung im Garten

  • Der Garten war im Moment wohl ein durchaus als angenehm zu bezeichnender Aufenthaltsort. Die herbstliche Frische hatte die drückende Hitze des Sommers, die jedes Jahr aufs neue die Bürger der ewigen Stadt quälte, vertrieben, ein leichter Windhauch, nicht zu kalt, um unangenehm zu wirken und doch frisch genug, um den in der bedrückenden Enge der Räume träge werdenden Geist zu erquicken, spielte mit den Blättern an den Bäumen. Dank der in letzter Zeit ergiebigen Regengüsse bot die allgemeine pflanzliche Gestaltung des flavischen Gartens noch einen durchaus erfrischend grünen Anblick, wobei sich, dem aufmerksamen Auge nicht entgehend, an allen Ecken und Enden schon die ersten Anzeichen des aufziehenden Herbstes zeigten. Eine verspielt gestaltete kleine Sitzgruppe, umgeben von Hecken, an einer munter plätschernden Quelle, die ihr erfrischendes Nass in ein sorgsam angelegtes kleines Becken ergoss, hatte Flaccus als einladenden Ort für die Begegnung mit der an der Sponsalia so faszinierenden jungen Frau auserwählt. Ein paar Schritte abwärts, unter einem noch üppig belaubten Bäumchen stand eine Sklavin, um die Wünsche des Dominus nach Getränken und kleinen Erfrischungen zu erfüllen.


    Hierher also führte Phoebus die Iunia und Flaccus selbst erhob sich, als er die beiden von der Villa aus Garten kommen sah. Sich an den bei der Sponsalia etwas in die Hose gegangenen Versuch, galante Umgangsformen zu pflegen erinnernd, trat der junge Flavier lediglich einen Schritt auf die stetig näher Kommenden zu. Bei weitem weniger offenkundige Extravaganz lag im heutigen Auftreten der Iunia, wenngleich ein Hauch derselben und die Liebe zu verspielten Details dennoch nicht gänzlich verborgen blieb. „Axilla!“, begann Flaccus also, sobald er sie in Hörweite wägte, „Ich freue mich, dich hier begrüßen zu dürfen!“ Mit einer einladenden Geste wies er um sich, tat jedoch nichts weiter, um die Form der Begrüßung diesmal völlig in den Händen der jungen Frau zu belassen.

  • Der flavische Garten war... groß. Also, so wirklich groß. Richtig groß. Und grün. Und herrschaftlich. Und gepflegt. Ordentlich. Axilla sah sich auf dem Weg ein wenig unauffällig um, die vielen Kleinigkeiten, die den Garten noch ein wenig besonderer wirken ließen. Je weiter sie schritt, umso größer kam ihr das ganze vor im Vergleich zu dem, was sie kannte. Nun, nicht zu ALLEM, was sie kannte, sie hatte auch lange genug im Palast gelebt. Und die Palastgärten standen diesem hier auch nicht wirklich nach. Nur hatte sie bei diesen nie das Gefühl gehabt, das wären IHRE Gärten gewesen. Ihre Gärten waren zuhause in Tarraco, ein Stückchen trockener Erde, auf der mit Wasser und gutem Zureden ein paar Blumen wuchsen, und die weiten Wiesen vor dem Haus bis hin zum Wald, wo alles wuchs, wie es ihm gefiel. Ihr Garten war in Alexandria gewesen, mit der Statue des Faunen, den Farngewächsen und den intensiv riechenden Blumen, die überall wucherten, wenn man nicht aufpasste. Und ihr Garten war in der Casa Iunia, einfach, klein, nur mit dem großen Baum in der Mitte und den Steinwegen überall, den mühsam gepflegten Blumen. Das hier, das war dagegen überwältigend groß. Und herrschaftlich. Und grün. Und gepflegt.
    Axilla ging dem Sklaven nach, bis sie zu einem kleinen Teich kamen, an dem Flaccus sie begrüßte. Dass er sie nur mit dem Cognomen anredete, obwohl sie einander ja eigentlich so gut wie kannten, bemerkte sie dabei nur am Rande. Ihr persönlich waren solche Kleinigkeiten auch nicht so wichtig, auch wenn sie das eigentlich sein sollten. So nahm sie es nur als Einladung, es bei ihm genauso zu handhaben und lächelte ihn etwas schüchtern an. Sie war noch immer sehr überwältigt von der ganzen Pracht der flavischen Villa. “Salve, Flaccus. Euer Garten ist wirklich atemberaubend schön.“ Da er keine Anstalten machte, ihr die Hand zu küssen, drehte sich Axilla einmal um die eigene Achse, auch wenn es vielleicht etwas albern aussehen mochte, als müsse sie den Garten noch einmal in seiner Gesamtheit erfassen, ehe sie vernünftig mit ihrem Gastgeber reden konnte.
    “Ich bin mir sicher, wenn sich das bei den Nymphen herumspricht, könnt ihr euch vor Baumgeistern bald nicht mehr retten“, meinte sie leichtherzig lächelnd, ehe sie sich mühte, nicht ganz so unbedarft zu erscheinen. Allerdings half ihr die Erkenntnis, dass dies nach wie vor die Villa Flavia war, doch ganz ordentlich dabei, so dass ihr Lächeln mehr in den Bereich des Höflichen geriet und nicht mehr in dem des Verzückten verweilte.

  • Dass die Gärten der flavischen Villa einen derart überwältigenden Eindruck auf die Iunia machten, konnte Flaccus nicht ahnen, zumal er selbst die junge Frau ohnehin ob ihrer Weltgewandtheit und Erfahrung beneidete. Nicht älter als er selbst mochte sie sein und hatte doch bereits Ägypten bereist und die sagenhafte Stadt Alexanders besucht. Was könnte einen Sterblichen wohl noch beeindrucken, wenn er die Wunder des Ostens mit eigenen Augen gesehen hatte? Auf ihn selbst hatte der Garten bei seiner Ankunft wohl eine ebensolche Faszination ausgeübt, weniger allerdings ob des Umstands seiner Größe, hatte das väterliche Landgut bei Paestum doch noch weitaus größere Ländereien und Gartenanlagen besessen, sondern vielmehr ob der kunstfertigen Perfektion die er in der Gestaltung des Gartens verwirklicht sah. Kein noch so kleines Detail schien dem Zufall überlassen, die Anordnung der verschiedenen Pflanzen zueinander, die Anlage der Wege und Grünflächen, der verspielte Einsatz kleiner Quellen und Brunnen, alles das schien, einem wohldurchdachten, ordnenden Prinzip folgend, gleichsam einen kleinen, von Menschenhand geschaffenen Kosmos zu bilden. Wenngleich der Hauch der Vollkommenheit auch allgegenwärtig schien, so vermochte die scheinbar verspielte Art der Anlage dennoch eine freundliche, eine angenehm lockere Atmosphäre zu schaffen, die die offenkundige Perfektion und durchdachte Planung zugunsten des Eindrucks eines, scheinbar alles dem Zufall überlassenden, Wunderwirkens der Natur, in den Hintergrund treten ließ. Diesem Geniestreich des Gestalters war es wohl zu verdanken, dass die Gärten zwar einen repräsentativ-beeindruckenden ersten Eindruck erweckten, bei längerem Verweilen jedoch nach und nach ihr freundlich-lockeres Gesicht zum Vorschein kehrten.


    Während Axilla, scheinbar um die prächtige Atmosphäre der Anlage gänzlich zu erfassen, sich einmal um die eigene Achse drehte, entließ Flaccus den jungen Sklaven Phoebus mit einer kaum merklichen Bewegung wieder in Richtung der Villa. Der Knabe würde wohl im Haus gebraucht werden, und für das Wohl des Dominus und seines Gastes würde ohenehin jene Sklavin sorgen, die noch immer, den Kopf gesenkt, unter dem Baum am Teich stand, mehr einer der, an passenden Stellen im Garten platzierten Statuen, denn einem lebendigen Menschen gleichend.


    „Oh, das hat es schon! Die Nymphen sind nur etwas schüchtern und zeigen sich Fremden nicht sofort, es braucht schon einige Zeit und Zuwendung, bis sie ihre grünen Verstecke verlassen und uns Sterbliche mit ihrer bezaubernden Anwesenheit erfreuen…“, erwiderte er ihre Begrüßung lächelnd und nahm erfreut zur Kenntnis, dass Axilla den Topos ihrer letzten Begegnung erneut aufgriff, eine angenehm verspielte Atmosphäre schaffend. „Aber komm doch näher …“, mit einer einladenden Geste wies er auf die auserwählte Sitzgruppe, „… vielleicht haben wir ja Glück, und die ein oder andere Naturgottheit lässt sich blicken.“, ein vergnügtes Lächeln umspielte seine Lippen, als er sprach. „Darf ich dir etwas zu Trinken anbieten, oder vielleicht etwas Obst?“ Eines war klar, an Köstlichkeiten würde es im flavischen Haushalt wohl nie mangeln.

  • “Oh, muss ich eifersüchtig sein?“ Zu dieser kleinen Spitze der Albernheit ließ sich Axilla dann doch noch hinreißen. Sie glaubte ja nicht, dass hier Nymphen wären, dazu war der Garten zu... zu... ordentlich. Zu sehr vom Menschen unterworfen und in Bahnen gebracht. Und Nymphen waren noch letzte Reste des Chaos, des Verspielten und ungebundenen, der fröhliche Teil der wilden Natur. Wo Silvanus und Mars rohe Kraft waren, da waren sie eher munter plätschernde Quellen und uralte Bäume, das Rauschen im Laub. Aber das würde Axilla sicher nicht so sagen, sie war ja hier, um sich zu unterhalten, und nicht, um philosophische Streitgespräche zu führen. Vor allem, was sollte sie da anführen? 'Aber mein Vater hat mich in einen Nymphenwald mitgenommen, und da war kein so sauber gemähter Rasen weit und breit?' Nein, sie fand es ja schön hier. Und Flaccus war auch nett und lud sie gleich ein.


    Axilla lächelte ihm also noch einmal zu, sah sich noch einmal kurz um und setzte sich dann auf den angebotenen Platz. Eine Winzigkeit lang sah es so aus, als wolle sie ihre Beine auf die Sitzfläche hochziehen. Zuhause tat sie das fast immer, saß irgendwo entweder mit untergeschlagenen Beinen oder die Knie angewinkelt. Hier aber erinnerte sie sich rechtzeitig an ihre Manieren, auch wenn sie nervös war und diese Haltung ein wenig Sicherheit versprach. So strich sie nur einmal über das Kleid und sah zu der Quelle, als Flaccus auch schon seine Qualitäten als Gastgeber unter Beweis stellte.
    “Oh, gerne, das wäre nett. Aber keinen Wein.“ Axilla lächelte entschuldigend bei den letzten Worten, aber wenn sie eines aus ihren Begegnungen mit dem anderen Geschlecht gelernt hatte, dann das, dass sie niemals Wein trinken sollte. Das führte fast augenblicklich zu schlimmen Katastrophen. Immer. Ohne Ausnahme. Jedes. Einzelne. Mal.
    Sie wartete also, bis ihr ein Becher gereicht wurde, und bekämpfte noch ein wenig mehr ihre Nervosität. So allein mit Flaccus im Garten, das war schon etwas anders als auf einer Feier inmitten von dutzenden anderer Leute. Auch wenn sie sich eigentlich keine Gedanken darüber machte, er könne sich dabei etwas anderes gedacht haben, als eben noch ein wenig über Alexandria zu plaudern. Wenn sie das gedacht hätte, dann wäre sie vielleicht nicht gekommen. Oder gekommen, aber die ganze Zeit vor Nervosität am plappern gewesen. Oder stocksteif und misstrauisch dahingeschritten. So aber war sie nur etwas nervös und erschlagen von der Pracht der patrizischen Villa und suchte nach einem vernünftigen Gesprächsanfang.
    “Und du hast dir heute extra für mich frei genommen, oder hast du so viel Muße?“ Axilla meinte das im Sinne der Zeit, in der sie lebten, und damit alles andere als abfällig. Wer es sich leisten konnte, nicht zu arbeiten und sich den schönen Künsten hinzugeben, tat das auch. Deshalb hießen sie ja die schönen, die freien Künste. Und abgesehen davon fiel Axilla auch nichts originelleres so ad hoc ein.

  • Das leichte Lächeln des Flaviers verbreitete sich bei den folgenden Worten Axillas zu einem Grinsen über das ganze Gesicht. „Das liegt wohl ganz in deinem Ermessen …“, warf er eine eher nebulöse denn konkret greifbare Erwiderung auf ihre belustigenden Worte in die Luft. Es war in der Tat betrüblich, dass Axilla ihre Gedanken bezüglich der lokalen Präferenzen der blumigen Baumbewohner nicht verbalisierte sondern für sich behielt, denn in der Tat hätte das wohl zu einer interessanten Diskussion geführt, war Flaccus selbst doch gänzlich gegenteiliger Meinung, dass gerade die geordnete, durch Menschenhand geformte Natur den Göttinnen ein willkommener Aufenthaltsort sei, so wie er überhaupt in der Ordnung an sich die deutlichste Manifestation göttlichen Wirkens sah. Wie dem auch sei, Axilla sagte nichts dergleichen, sondern lächelte den schlanken Flavier lediglich an, um gleich darauf seiner Einladung nachzukommen und sich auf der angebotenen Sitzgruppe niederzulassen. Die etwas verklemmt wirkende Haltung, die sie dabei einnahm, registrierte Flaccus mit einem belustigten Lächeln. Offenbar war die junge Frau etwas nervös, was nun gar nicht in der Absicht des Flaviers lag, wollte er doch einfach eine schöne Zeit mit ihr verbringen. Er selbst legte sich also bequem gegenüber Axilla hin und stütze den Kopf auf einem Arm ab. „Ich kann dir Apfelsaft anbieten, er kommt aus dem Landgut auf dem ich geboren wurde…“, tatsächlich war es nunmehr lediglich der Ort seiner Geburt, waren es doch allein die Erinnerungen an Nikodemos, die bei dem jungen Flavier überhaupt noch Gefühle für jenen Ort erregten. Sein Zuhause war nun hier, in Rom, und das war auch gut so. Auf einen kleinen Wink hin erwachte die bisher in annährender Regungslosigkeit verharrte Sklavin zum Leben und brachte, aus einem kleinen, mit bunten mosaikartigen Steinchen ausgekleideten Becken, das ein zierlicher Springbrunnen, der durch das Wasser derselben Quelle, die sich auch in den Teich ergoss, gespeist wurde, befüllte, einen Tonkrug, der offenbar durch das plätschernde Wasser auf eine angenehme Temperatur gekühlt worden war, zum Vorschein und füllte daraus die Becher der beiden.


    Die offensichtliche Nervosität Axillas blieb dem aufmerksamen Blick des jungen Flaviers keineswegs verborgen, und so suchte er durch ein offenes Lächeln eine angenehme Atmosphäre zu schaffen, schließlich gab es keinen Grund nervös zu sein. Alles, was Flaccus für diese Begegnung geplant, und sich gleichsam erhofft hatte, waren ein paar schöne Stunden mit einer interessanten jungen Frau. „Meine Pflichten sind im Moment noch ziemlich rar gesät…“, begann er Axillas höfliche Nachfrage nach seiner Freizeit zu erwidern. „… ich bekleide noch kein Amt, und das Engagement im Cultus Deorum nimmt mich nicht allzu sehr in Anspruch. Du siehst, ich habe genug Freizeit, um mich der Studia und so angenehmen Begegnungen, wie dieser hier, zu widmen.“ Denn in der Tat schien sich der Tagesablauf des jungen Mannes momentan allein um diese beiden Dinge zu drehen. Wenn er nicht in die Lektüre vertieft war, schrieb er an seiner Korrespondenz mit seinen Freunden in Athen, allen voran Polykarpos oder versüßte sich die Zeit mit ein wenig eigener Dichtung. Würde er erst das angestrebte Amt eines Tresvir auro argento aere flando feriundo bekleiden, sollte sich dieser Umstand ohnehin noch früh genug ändern. „Ich hoffe, meine Einladung hat auch dich nicht in die missliche Lage gebracht, etwaige Pflichten zu vernachlässigen?“ Nicht bloß eine höfliche Gegenfrage, sondern tatsächlich eine ehrliche Befürchtung des so pflichtbewussten jungen Flaviers.

  • Jetzt hätte Axilla sich merken müssen, wo das denn gewesen war, damit sie ordentlich hätte beeindruckt sein können. Sie hatte sich nur gemerkt, dass er in Athen gewesen war, aber wo er geboren war... gähnende Leere in den Gedanken. So also rettete sich Axilla in ein schüchternes Lächeln. “Ja, gerne.“ Und wenige Momente später konnte sie auch schon beobachten, wo der Saft denn versteckt gewesen war. Als die Sklavin ihr den Becher gab, flüsterte sie ihr ein leises “Danke“ zu. Auch wenn sie wusste, dass man das eigentlich nicht machen sollte und manche Menschen komisch darauf reagierten, wenn man sich bei Sklaven bedankte. Alte Gewohnheiten legte man nur schwer ab. Und zuhause bedankte sie sich auch immer, ohne darüber nachzudenken.


    Axilla nahm einen kleinen Schluck und sah sich leicht weiter um, während Flaccus zu erzählen anfing. In dem nahen Baum saß ein Vogel, Axilla wusste nicht, was für einer, und zwitscherte immer wieder zu ihnen herunter. Sie musste darüber etwas ehrlicher lächeln, was einen Teil der Anspannung löste, so dass sie sich etwas entspannter Flaccus widmen konnte. Auch wenn seine Frage ihr ein ganz klein Wenig die Röte in die Wangen trieb.
    Axilla erinnerte sich noch an die Reaktion von Nigrina, als sie ihr gesagt hatte, dass sie eigene Betriebe leitete. Die Flavia war nicht irgendwie abfällig geworden oder vergleichbares, hatte aber doch zurückhaltend reagiert. Und sie glaubte nicht, dass es bei Flaccus groß anders sein würde, waren sie doch beide Flavier. “Ich hab auch jede Menge Zeit, die irgendwie ausgefüllt werden will. Ich glaube, inzwischen habe ich die gesamte Bibliothek in der Casa Iunia gelesen.“ Ein schüchternes Lächeln, ehe ein “Zweimal“ folgte.
    Der Vogel flog mit einem Mal weg, und kurz lenkte die plötzliche Bewegung ab und Axilla sah ihm hinterher. Vielleicht eine Amsel, er war klein und dunkel, aber nicht so klein wie ein Fink. “Ich arbeite noch bei der Acta Diurna als Lectrix und habe ein paar eigene Betriebe, aber um die kümmern sich hauptsächlich meine Verwalter. Sie sind auch in Ägypten, da geht es ja nicht anders.“ Bevor wieder jemand dazukam und sie verpetzte, gestand Axilla es lieber gleich von selber, aber in einer Art und Weise, die es verharmloste. Es war ja auch nichts schlimmes, zumindest ihrer Auffassung nach. Und von irgendwas musste sie ja auch ihre schönen Kleider bezahlen, Silanus war ja mit dem Großteil seines Vermögens zur Genesung nach Hispania gegangen. Und das Vermögen ihres verstorbenen Mannes war eingefroren, mitsamt ihrer Dos.
    “Und du bist im Cultus? Meine Cousine Iunia Serrana ist auch Aeditua... für Minerva, glaube ich.“ Ein gefährliches Thema eigentlich. Axilla stritt sich eigentlich immer mit ihrer Cousine. Jedes Mal. Auch wenn sie das gar nicht vorhatte, es passierte immer. Und Axilla war auch dem Cultus Deorum nicht unbedingt sehr verhaftet, im Grunde bezweifelte sie die Nützlichkeit der ganzen Rituale, von wenigen Ausnahmen und besonderen Anlässen einmal abgesehen. Aber das musste sie ja Flaccus nicht auf die Nase binden, und für den Anfang war es sicher unverfänglich genug. “Und du begibst dich deinen Worten nach bald auf den Cursus Honorum? Dann hast du sicherlich schrecklich viel dann zu tun, wenn du beides gleichzeitig machen willst. Dann ist es ja gut, dass wir uns jetzt getroffen haben, sonst ergäbe sich zu so einem Treffen gar keine Möglichkeit.“ Axilla wusste noch immer nicht, worüber sie so genau reden wollte, was sie aber nicht daran hinderte, trotzdem was zu sagen. Es würde sich schon alles ergeben, und wenn sie ihre Nervosität ganz abgelegt hatte und nicht mehr ganz so überwältigt war, würde es sicher auch noch besser. Sie brauchte nur einen Moment, um richtig warm zu werden.

  • Ein Bücherwurm also. Das Lächeln verharrte auf den Lippen des jungen Flaviers als nun er seinerseits den Worten der Iunia über ihre eigene – wohl in ähnlichem Maße intensive Liebe zum geschriebenen Wort – lauschte. „Du liest also gerne?“, mehr eine Feststellung denn eine tatsächliche Frage, „Wenn du möchtest, können wir später unsere Bibliothek ein wenig durchstöbern … vielleicht findet sich das eine oder andere Werk, das dich interessiert.“ Völlig ohne negative Hintergedanken sprach er, keinesfalls wäre ihm in den Sinn gekommen, die Bibliothek der Iunier der flavischen nachzustellen, er wollte einfach durch ein freundliches Angebot eine noch lockerere Atmosphäre schaffen. „Was liest du denn besonders gern?“, eine möglicherweise beiläufig anmutende Frage, für den jungen Flavier jedoch von eminenter Bedeutung, hatte er doch ehrliches Interesse am literarischen Geschmack Axillas. Aus den Augenwinkeln nahm Flaccus die flüchtige Bewegung des aufflatternden Vogels wahr, und richtete seine Aufmerksamkeit einen kleinen Moment auf das zierliche Tier, das anmutig durch die Lüfte entwich, dem in der Herbstsonne strahlenden Äther entgegen. Ein eher beiläufiger Zusatz über die wirtschaftliche Situation der jungen Frau hieß die Aufmerksamkeit des jungen Mannes wieder auf das Gespräch zu richten, wobei das wirtschaftliche Geständnis, als das es der Iunia womöglich anmutete, bei Flaccus keineswegs die vielleicht zu erwartende Reserviertheit auslöste - viel zu lange hatte er selbst die Mühen harter Arbeit, wenn schon nicht am eigenen Leib, so doch zumindest in seinem näheren Umfeld erfahren, um nicht die Tüchtigkeit mancher Menschen, selbst mehrere Betriebe anständig zu führen, zu bewundern. „In Ägypten?“, hakte der junge Mann interessiert nach, malte er sich doch zumindest rein logistisch als eine gewaltige Herausforderung aus, so weit entfernt vom Ort des Geschehens die Fäden zu ziehen.


    Für einen kurzen Moment war die unscheinbare Sklavin, nachdem sie die Getränke serviert hatte verschwunden, nun kehrte sie mit einem kostbaren Tablett von der Villa zurück, das sie schließlich, bei den beiden jungen Menschen angekommen, auf dem abgeflachten, als Tisch dienenden Stein inmitten der Sitzgruppe abstellte. In kunstvoller Weise angeordnet befanden sich darauf pralle Trauben, golden schimmernde Quitten inmitten köstlicher Datteln und Feigen, sowie knackige Äpfel und zarte Marillen, allein die bunte Vielfalt der Früchte bot ein prächtiges Bild. Nachdem sie das silberne Tablett heil auf den Tisch manövriert hatte, zog die junge Sklavin, bei näherem Betrachten war ihre jugendliche Schönheit kaum zu leugnen, sich wieder zu dem Baum zurück, um dort bereitzustehen, falls der Dominus weitere Wünsche erkennen ließe.


    „Oh ja, ich stehe kurz vor dem großen Abschlussopfer meiner Ausbildung. Den theoretischen Unterricht hat übrigens deine Cousine in dankenswerter Weise übernommen – eine ganz fabelhafte Aeditua.“, fügte er noch mit einem ehrlichen Lächeln hinzu, denn die junge Priesterin war ihm die gesamte Ausbildung hindurch als eine durchaus kompetente und angenehme Frau erschienen – zu schade, dass sie ob ihrer Schwangerschaft nicht auch die praktische Unterweisung hatte gewähren können! Der Cursus Honorum. Tatsächlich richtete sich das Augenmerk des Flaviers im Moment besonders auf die baldige Bekleidung des Vigintivirats, strebte er doch nichts Geringeres an, als alle Ämter suo anno, also zum frühestmöglichen Zeitpunkt, (der für Patrizier ja deutlich niedriger angesetzt war, als etwa für Plebejer) zu erreichen. „Ja, das war der Wunsch meines Vaters. Sein sich abzeichnendes Ende war es ja, das mich gleichsam mit Gewalt aus Griechenland zurück nach Italien rief. Du kannst dir vielleicht vorstellen, dass es nicht gerade einfach ist, den Rat eines Sterbenden nicht zu befolgen, den letzten, gemeinsam mit der Seele ausgehauchten Wunsch nicht zu erfüllen, bei den Göttern!“, womöglich kein sonderlich erfrischendes Gesprächsthema für eine erste Begegnung, und doch drängte eine undefinierbare Kraft (das Wirken eines Gottes?), den Flavier dazu, endlich einmal über das ihm bestimmte Fatum, über die Umstände des Todes seines Vaters zu sprechen. „Vor einigen Monaten bin ich schließlich hierher gekommen, um mich dem Schicksal zu beugen und meinen Weg im Dienst der Götter, Roms, und der Familie aufzunehmen.“ Ein Schluck des süßen Apfelnektars spülte den bitteren Geschmack fort, der sich bei seinen Worten ausgebreitet hatte. „Aber genug von mir: Nach unserer letzten Begegnung waren mir doch erhebliche Zweifel an deiner göttlichen Abstammung gekommen…“, so nymphenhaft ihr Aussehen auch gewirkt haben mochte, „ erzähl, woher du stammst, und sag jetzt nicht, dein Vater wäre kein Sterblicher gewesen!“ Grinsend schob er sich eine der weichen Datteln in den Mund.

  • Axilla zuckte etwas verlegen mit den Schultern. “Nunja, ich hab viel Zeit und wenig zu tun.“ Sie würde nicht sagen, dass sie gerne las. Gerne hatte sie andere Dinge getan. Auf Bäume klettern. Ihrem Vater zuhören. Laufen. Oder später für Nikolaos arbeiten. Lesen tat sie zwar alles andere als ungern, aber nicht so gern wie andere Dinge. Nur dass sie die nicht tun durfte (was wohl mit ein Grund war, warum sie so im Nachhinein betrachtet umso erstrebenswerter erschienen). Flaccus fragte ein wenig näher nach und brachte Axilla da leicht in Verlegenheit. Was sollte sie jetzt sagen, was nicht zu kitschig klang? “Ach, ich weiß nicht. Ich mag Ovid und Catull und Propertius, aber genauso mag ich auch Homer und Vergil. Ich les gern von Geschichten und von Mut und Verzweiflung und... naja, Geschichten eben.“ Axilla blickte einen Moment leicht verträumt vor sich hin, ehe sie merkte, wie kitschig das ganze jetzt doch klang. “Aber ich hab auch viele philosophische Werke gelesen. Plato und Sokrates und... noch einige. Vor allem in der Bibliothek des Museions.“ Das klang sicher weitaus beeindruckender als Liebeslyrik.
    Flaccus lud sie auch gleich in die flavische Bibliothek ein. Axilla lächelte und nickte, noch immer etwas verlegen. Sie fand die Möglichkeit, mal wieder in einer großen Bibliothek ein wenig zu stöbern und vielleicht etwas zu lesen, was sie noch nicht kannte, aufregend. “Ja, das wäre sehr schön. Bestimmt gibt es da etwas, was ich noch nicht kenne. Sofern ich mir das dann leihen darf.“ Sie konnte ja schlecht mehrere Stunden täglich in der Villa Flavia vorbeikommen, um ein Buch zu lesen. Das sähe dann vielleicht doch etwas seltsam aus.


    Flaccus fragte bei ihren Betrieben noch einmal nach und brachte das Thema auf Ägypten. Das wiederum fiel ihr weitaus leichter und ihre Haltung entspannte sich. Sie nahm einen Schluck Apfelsaft und nickte dann beinahe kindlich, ehe sie zu erzählen anfing. “Ja, mein Vetter schenkte mir eine Färberei, als ich neu nach Alexandria kam. Damit ich ein wenig Beschäftigung habe, weil er war damals Tribun bei der Zweiundzwanzigsten und hatte nicht so viel Zeit. Und deshalb steht sie in Alexandria, am Rand des Deltas. Also, das ist ein Stadtteil. Da leben hauptsächlich Juden und Christianer, aber das stört ja beim Standort der Färberei nicht. Die Waren haben wir sowieso auf dem Xenai Agorai verkauft, oder eben direkt an die Stammkunden geliefert. Und...“ Just in diesem Moment merkte Axilla, dass sie plapperte. Mehr noch, sie plapperte Dinge, die vermutlich niemanden interessierten. Ihr Lächeln wurde wieder etwas verlegen. “... ähm, naja, weil es dort unten die Materialien viel besser gibt und eben wegen den Stammkunden steht sie da noch und wird verwaltet. Von Ivander, einem Griechen.“


    Die Sklavin brachte ein Tablett mit Früchten herbei. Axilla sah darauf und traute sich erst nicht, etwas zu nehmen. Erst, als Flaccus anfing, zu erzählen, nahm sie dann doch eine Marille. Sie kannte die Frucht nicht und war neugierig, was das wohl sein sollte. Als sie hineinbiss, bemerkte sie die klebrige Konsistenz und den aufgrund der Trocknung süßen, aber leicht schwefeligen Geschmack. Und dass es saftete, denn ihre Hand wurde ganz klebrig. Axilla schluckte das Stück Aprikose und überlegte gerade, ob sie sich jetzt die Hand einfach heimlich ablecken sollte oder doch besser nach einem Tuch fragte, als Flaccus auf seinen Vater zu sprechen kam. Der letzte Wunsch eines sterbenden Vaters...
    Axilla wurde ruhiger, kleiner. Sie blieb einfach sitzen und ließ den leichten Wind über sich streichen. Es war schon recht kühl, und sie fröstelte ganz kurz leicht. Und doch war ihr nicht kalt.
    Ihre Hand wanderte nach unten mit der halbgegessenen Marille und blieb auf ihrem Bein liegen. Allerdings glücklicherweise so, dass sie sich nicht mit dem Saft beschmierte. Ihre Gedanken waren ganz weit weg, und erst, als Flaccus sie direkt fragte, schreckte sie halb hoch. “Mein Vater?“ Etwas verwirrt legte sie die Frucht weg und fuhr sich mit beiden Händen übereinander, als wolle sie sie abwischen, und merkte dann, dass da ja noch immer der klebrige Saft war. Etwas missmutig schaute sie auf ihre Handflächen, dann zuckte sie die Schultern.
    “Nein, man Vater war kein Unsterblicher, auch wenn er es verdient hätte, einer zu sein. Er war... großartig.“ Bei dem letzten Wort ging ihr Blick noch einmal wehmütig lächelnd in weite Ferne. “Er war Tribun bei der Legio in Hispania. Er fiel bei einem Hinterhalt von Aufständischen im Norden Hispanias, als ich etwa 12 Jahre alt war.“ Meistens erzählte sie das weit trockener, ließ es nicht an sich heran. Aber im Moment hatte Flaccus sie doch recht kalt erwischt, so dass sie sich verlegen am Arm kratzte und man ihr durchaus ansehen konnte, dass sie das Thema mit Wehmut erfüllte.
    Sie räusperte sich leicht und erzählte weiter, jetzt wieder unemotional. Der nächste Teil fiel ihr weiter. “Ich blieb dann noch bei meiner Mutter auf dem Hof in Hispania, bis sie auch gestorben war. Sie war immer sehr krank, hatte einen Husten, der ihren Körper ausgebrannt hat. Als sie starb, war ich fünfzehn. Danach bin ich dann zu meinen nächsten Verwandten gereist. Das waren mein Cousin Silanus und meine Cousine Urgulania, in Alexandria.“ Sollte sie davon erzählen, dass Terentius Cyprianus Urgulania hatte umbringen lassen? Nein, besser nicht. “Und vor etwa einem Jahr bin ich nach Rom gekommen, hab geheiratet, und... naja, bin jetzt immernoch hier. Klingt nicht sehr aufregend, nicht?“ Axilla versuchte es mit einem leichtherzigen Lächeln, auch wenn ihre Betrübnis nicht mehr ganz weichen wollte und sie es nicht überspielen konnte. “Und dein Vater hat sich gewünscht, dass du Senator wirst?“ lenkte sie daher das Thema wieder schnell auf ihn.

  • Hatte er sich etwa geirrt? Zumindest klang die fast schon beiläufige Antwort, Axilla hätte eben viel Zeit und wenig zu tun,nicht gerade so euphorisch wie Flaccus vielleicht erwartet hätte. Eher aus der Not hinaus schien sie die Bücher studiert zu haben, wohl um wenigstens irgendetwas zu tun, eine Haltung, die dem bildungshungrigen jungen Flavier, wenn schon nicht völlig fremd, so doch ungewohnt schien. Die meiste Ignoranz in Bezug auf seine Interessen hatte er wohl noch zu Hause in Paestum von seinen eigenen Eltern erfahren, war er aber erst nach Athen gekommen, hatte sich die so faszinierende schier grenzenlose Neugier und Offenheit der Griechen gänzlich auf ihn übertragen, und er selbst hatte die für das kulturelle Leben so fruchtbare Situation - wohl etwas naiv - als Norm betrachtet. Spätestens seit seiner Rückkehr nach Italien und der Reise nach Rom, hatte der junge Mann, wenn schon nicht sonderlich oft, waren es doch eher elitäre Kreise, in denen er sich bewegte, so doch manchmal erzwungenem Kontakt mit der blinden Ignoranz mancher Römer den freien Künste gegenüber, nicht aus dem Weg zu gehen vermocht. Dennoch ließ die nun folgende Antwort der jungen Frau nicht gerade darauf schließen, dass sie zu eben jener bemitleidenswerten Gruppe von Menschen gehörte, denen falscher Blindheit wegen, auf ewig der strahlende Schatz der Bildung verborgen bleibt - wartete sie, nach ihren literarischen Vorlieben gefragt, doch mit den absoluten Highlights der lateinischen und griechischen Literatur auf, wenngleich sie, zumindest im griechischen Bereich, eher den absolut archaischen Formen verhaftet schien, erwähnte sie zwar den gewaltigen Homer, nicht jedoch die kostbaren Kleinode der hellenistischen Dichtung, die wohl, ob ihres Aufenthaltes in Alexandria, also in unmittelbarer Nähe zum Museion und damit der Quelle eben dieser kunstvollen Lyrik, viel eher zu erwarten gewesen wären. So erwähnte sie die großen Elegiker Ovidius, Propertius, Tibullus, nicht aber den gerade von Flaccus selbst so verehrten Horatius, mit dem ihn mehr als die gemeinsamen Prae- und Cognomina verbanden. Pflegte er doch gerade mit diesem Gespräch hier im Garten das Ideal horazischen respektive epikureischen Lebensgenusses. Als Axilla jedoch erwähnte, dass sie auch philosophische Werke gelesen hatte, lauschte der junge Flavier erstmals völlig gespannt. Nicht nur, dass es allgemein wohl eher als selten anzusehen war, dass Frauen sich mit philosophischen Schriften auseinander setzten, so schien gerade diese junge Frau - diesen Schluss wagte Flaccus aus der kurzen Bekanntschaft bereits zu ziehen - eher den lebenspraktischen Dingen zugewandt, denn der Beschäftigung mit trockenen philosophischen Problemstellungen. Anscheinend hatte er sich geirrt, vielleicht war Axilla auch einfach für Überraschungen gut, jedenfalls ließ ihn die Erwähnung der beiden griechischen Philosophiegiganten schmunzeln, war es ihm doch neu, dass Sokrates auch nur ein einziges Wort schriftlich festgehalten hätte, das bis heute überliefert ist. Hier hakte der Flavier jedoch nicht nach, vielleicht war die Iunia ja in Alexandria auf ihm unbekannte Schriften aus Sokrates eigener Hand gestoßen, vor allem jedoch ließ ihn die Erwähnung des Museions, jener mehr sagenhaft, legendären, denn in der Vorstellung des Flaviers real existierenden Bibliothek konzentriert lauschen, konnte jenes Institut doch als Keimzelle jener wissenschaftlichen Beschäftigung mit alten Texten angesehen werden, die Jahrtausende später als Philologie bezeichnet werden würde.


    "Na klar, ich würde mich freuen, wenn du etwas findest, das dir gefällt ... ", waren doch alle bisher erwähnten Gattungen der Literatur, die (Liebes)Lyrik, die Epik aber auch das philosophische Schrifttum in der flavischen Bibliothek bestens repräsentiert. Aber auch neuere hellenistische Literatur, oder Komödien eines Plautus oder Terentius, nicht zu vergessen die zahlreichen alten griechischen Tragödien, deren Lektüre wohl schwierig, aber jedesmal ein unbeschreibliches Erlebnis für den so graecophilen Flavier darstellte, waren in Hülle und Fülle vorhanden. "Das Museion...", lenkte Flaccus nun auf jenes Thema ein, das, von Axilla selbst angesprochen, seine Aufmerksamkeit so sehr gefesselt hatte, "... erzähl doch etwas davon, ich habe Atemberaubendes darüber gelesen..." Zweifellos, irgendwann würde Flaccus nach Ägypten reisen müssen, am besten so bald, als möglich, war er schließlich erst senatorischen Ranges, würde sich die Angelegenheit als erheblich schwieriger herausstellen. Nun schien Axilla jedoch richtig aufzutauen, die anfängliche Schüchternheit wie weggeblasen, als sie loslegte und über Ägypten und ihre Betriebe zu erzählen begann. Gespannt folgte Flaccus ihrer Erzählung und schob dann und wann eine der köstlichen Trauben in den Mund. Als sie plötzlich, anscheinend durch ihren eigenen Redeschwall erschreckt, dem Exkurs nach Ägypten ein vorläufig abruptes Ende setzte, versuchte der junge Flavier durch ein freundliches Lächeln zu signalisieren, dass ihre Worte ihn keinesfalls nicht interessiert oder gar gelangweilt hätte, sondern dass er durchaus Interesse an ihrer Vergangenheit und gegenwärtigen Situation hegte. Und so begann nun Flaccus eine Weile zu sprechen und während das Gespräch sich in Richtung seines nunmehr unter den Schatten weilenden Vaters entwickelte, war der junge Mann schlichtweg zu konzentriert, um den innerlichen Konflikt, der offensichtlich gerade hinter der schönen Stirn der Iunia tobte, wie das Dilemma der, vom süßen Marillenmark klebrigen Hand am angemessensten zu lösen sei, nachzuvollziehen. Die ohnehin bereits etwas ernstere Stimmung begann nun endgültig in offene Wehmut umzuschwanken, da Axilla, anders als Flaccus selbst, schon vor einigen Jahren beide Eltern verloren hatte und der Verlust, scheinbar besonders des Vaters, sie noch heute zu berühren schien. Völlig nachvollziehbar war das in den Augen des Flaviers, verstörte es ihn doch stets selbst, zu sehen, wie vergleichsweise wenig ihn der Verlust seines Vaters berührt hatte, so dass er manchmal ernsthaft bezweifelte, ob er zu tiefen Liebesgefühlen überhaupt fähig war. Dann jedoch erinnerte er sich an Nikodemos, jenen Mann, der dem Knaben Flaccus mehr Freund denn nur Mentor gewesen war, und mit dem ihn noch heute kaum beschreibbare Gefühle tiefster Zuneigung und Liebe verbanden. Auf diese Weise also versichert, dass er nicht gänzlich unfähig schien, Liebe und Zuneigung zu empfinden, konnte Flaccus schon getroster in die Zukunft blicken, im konkreten Fall auf die Antwort, die die von Axilla soeben gestellte Frage zweifellos erwartete. "Nicht direkt. Sein Wunsch war, dass ich mich in den Dienst des Staates und der Gens stelle, und beiden gleichermaßen zu Ruhm und Ehre verhelfe - wie auch immer das konkret aussehen mag..." Ein Vogel zwitscherte und der junge Mann wandte sich zum Baum um, um das zierliche Tier zu betrachten. In diesem Moment trat auch die hübsche Sklavin erneut an den Tisch heran, die wohl, im Gegensatz zu Flaccus, das Marillen-Dilemma, in dem die Iunia sich befand, durchaus wahrgenommen hatte, und reichte Axilla, den Blick stets demütig gesenkt, ein blütenweißes Stofftuch, auf dass jene sich damit ihre Hände in angemessener Weise säubern konnte.

  • Die Frage nach dem Museion fiel erst einmal unter den Tisch. Zu schnell war die Sprache auf ihre Väter gekommen, und Axilla hatte darüber das Museion im ersten Augenblick vollkommen vergessen.
    Allerdings war das Thema ihres Vaters auch schnell wieder vorüber. Flaccus fragte nicht weiter nach. Niemand fragte jemals weiter nach, als wüssten alle, in welche Not sie Axilla damit brachten und wie schwer es ihr fiele, da weiterhin beschwingt und leichtherzig zu klingen. Noch nie hatte jemand mehr als diese anfängliche Frage gestellt, und Axilla war durchaus dankbar dafür. Wenigstens ein klein wenig Gnade, das die Welt mit ihr zu haben schien, wenn auch sonst schon alles im Chaos versank. So machte sie auch von sich aus keine Anstalten, auf ihren eigenen Vater noch einmal zurück zu kommen, wenngleich dieser durch ihre Gedanken nun ein wenig stärker als sonst spukte. Vor allem, als Flaccus davon sprach, was sein Vater für ihn genau wünschte, was dessen letzte Worte gewesen waren. Die letzten Worte, die ihr Vater an sie gerichtet hatte, waren 'Komm nun schon von dem Baum herunter, und gib mir einen Abschiedskuss, kleines Eichhörnchen'. Was sie im übrigen mit einem kindlich schmollenden 'Nein' beantwortet hatte. Sie hatte nicht gewollt, dass ihr Vater wieder ging, er war damals gerade nur ein paar Tage daheim gewesen. Sie hatte es ungerecht gefunden, dass er so schnell wieder zurück zu den Legionen gemusst hatte, und hatte einen rechtschaffenen Zorn auf die Aufständigen empfunden – nicht wegen der Auflehnung gegen den Kaiser, sondern weil deshalb ihr Vater so rasch schon wieder gehen musste. So war es nicht einfach, sich davon nun nicht die Stimmung verderben zu lassen, sondern weiterhin möglichst leicht und unbekümmert zu sein, wie die Nymphe, die Flaccus vielleicht in ihr sah. “Ach, das schaffst du bestimmt. Du bist ein Mann, du bist Patrizier, dir stehen da doch alle Wege offen, deiner Familie Ehre zu machen.“ Axilla lächelte zuversichtlicher, als sie sich eigentlich bei ihrem inneren Gefühlschaos fühlte. Aber sie wusste, sie hatte recht. Wäre sie ein Mann, sie würde zur Legion gehen. Ritter werden, aber auf dem militärischen Weg. Sie würde alles daran setzen, ihrer Familie zu Ruhm und Ehre zu helfen, vielleicht sogar so viel Ruf erwerben, bis der Kaiser ihr seine Provinz, sein Ägypten als LAPP übergab. Ja, das würde sie. Wenn sie ein Mann wäre. Aber sie war keiner. Und für einen Patrizier war die senatorische Laufbahn wohl auch angemessener als die ritterliche.


    Ein kurzer Moment des Schweigens entstand, als die Sklavin Axilla das weiße Tuch reichte. Ein wenig schlechtes Gewissen hatte sie ja schon, das schöne Tuch nun total zu verkleben, aber besser das Tuch als ihr Kleid oder das Polster, auf dem sie saß. Sie bedankte sich noch einmal ganz leise, auch wenn sie sich nicht sicher war, ob die Sklavin sie überhaupt verstand. Die sah sie nicht einmal an, sondern verharrte ganz still und stumm einfach auf ihrem Platz, bis jemand etwas brauchte. Bis dahin war sie eigentlich vollkommen unsichtbar und stumm. Eigentlich so, wie Sklaven sein sollten, dennoch war es für Axilla etwas auffällig. Die iunischen Sklaven waren zwar auch alle gehorsam und gut erzogen, aber dennoch sah Levi ihr in die Augen, wenn er ihr etwas gab, oder sprach sie mit ein paar Worten auch an.
    Nachdem Axilla ihre Hand abgewischt hatte, streckte sie sich, um das Tuch zurückzugeben. Es wurde auch gleich ebenso anstandslos wieder zurückgenommen. “Dankeschön, flüsterte Axilla noch einmal leise, begleitet von einem leichten Lächeln, ehe sie sich wieder ihrem Gastgeber zuwandte. Thema... Gesprächsthema... sie brauchte einen Augenblick, ehe ihr die Frage von vorhin wieder einfiel.
    “Oh, du wolltest etwas über das Museion wissen, nicht? Also...“ Wie fing man da am besten an? Etwas hilflos blähte Axilla kurz die Backen und atmete geräuschvoll aus, setzte sich etwas gerader hin. Dass sie dabei in ihrem grünen Kleid aussehen mochte wie ein Frosch kurz vor dem Quaken, bedachte sie nicht. Ansonsten wäre sie wohl rot angelaufen und hätte keinen Ton herausbekommen. “Also, das Museion ist wirklich großartig. Ich meine... ich hab sowas noch nie gesehen. Es ist unglaublich schwer, zu beschreiben, weil man es wirklich erst erfassen kann, wenn man es gesehen hat. Die Anlage ist... RIESIG. Also, wirklich groß. In der Mitte steht der große Tempel der Musen... weil das Museion ist ja eigentlich auch ein Tempel. Die Kultbilder der Musen sind auch wunderschön. Aus wundervollem Marmor, mit Gold teilweise überzogen, und so riesig und schön! Das ist wirklich... also wirklich atemberaubend. Und die Bibliothek ist auch mit in dem Gebäude.“ Zu der sollte Axilla wohl ein wenig mehr sagen als nur 'die war da'. Denn DIE war wirklich das, was einem am meisten den Atem raubte. “Die Bibliothek musst du aber wirklich sehen, um sie zu begreifen. Da sind so unendlich viele Bücher, Schriftrollen, Karten... das KANN ein Mensch gar nicht alles lesen, und wenn er zehn Leben Zeit hätte. Da ist so unendlich viel Wissen. Ich meine, stell dir einen Raum vor, viermal so groß wie dieser ganze Garten, getragen von riesigen Säulen und einer Kuppel so hoch wie der Himmel selbst, und darin Regal, vom Boden bis ganz nach Oben, voll mit abertausenden von Schriftstücken! Und überall laufen Akroatoi herum, um dir das an den Tisch zu bringen, was du brauchst. Weil du darfst kein Buch einfach so berühren, nein, es wird dir gebracht. Und die kostbarsten davon bekommt auch nicht jeder zu lesen. Es gibt da eine Schriftrolle, von Aristoteles, die soll er selbst geschrieben haben. Alexander selbst soll sie mitgebracht haben, als er mit seinem Feldzug in Alexandria ankam und die Stadt gegründet hat, und dort zur Verwahrung gelassen haben. Kannst du dir das vorstellen? Wie ALT die sein muss? Dieses Wissen kann man gar nicht mit Gold aufwiegen.
    Und jeden Tag kommen neue Schriftstücke hinzu. Kein Schiff darf den Hafen verlassen, ehe es den Schreibern des Museions Gelegenheit gegeben hat, die mitgeführten Bücher zu kopieren. Es gibt Bücher aus Parthien, sogar aus Indien! Ich hab davon sogar welche gesehen. Ich war ja Scriba von Nikolaos Kerykes. Er hat einen gesucht, als er Gymnasiarchos wurde, und als er dann Epistratos tou Museion wurde, blieb ich ja weiterhin sein Scriba und durfte dann auch ab und an etwas für das Museion machen. Du kannst dir gar nicht vorstellen, was für Schriftwerke es alles gibt...“
    Wenn Axilla so daran dachte, konnte sie selbst es nicht fassen. Und gleich musste sie ungläubig und verzückt zugleich den Kopf schütteln. Auch wenn sie andere Dinge eigentlich lieber tat, als zu lesen, vom Museion war sie verzückt.
    “Und über sie alle wird diskutiert. Es gibt Räumlichkeiten für die Lehrer, auch in dem Gebäude oder kleinere Pavillions in den großen Gärten, oder Nebengebäude, wo sie diskutieren. Über alles. Wirklich alles. Ich meine, es gab einen Philosophen, der die Meinung vertreten hat, die Götter existieren nicht, und damit könne auch der Kaiser kein Gott sein, sondern nur ein Mensch. Und keiner wäre gekommen, um ihn zu verhaften, nein. Gut, er hat öfter einmal mit einem anderen Philosophen sich so heftig gezankt, dass man ihr Gebrülle über den gesamten Campus hören konnte, aber ansonsten... Sie reden wirklich über alles. Und kein Gedanke scheint zu unwichtig, als dass man ihn nicht anbringen könnte. Ich meine... ich hab nie etwas gesagt, ich hab mich nie getraut. Ich bin ja immer nur vorbeigelaufen und hab hier und da mal zugehört. Aber, so im Prinzip, was die Schüler alles gefragt haben...“ Axilla lächelte wieder dieses verschämte, kleine Lächeln, wenn sie nicht wusste, ob sie doch zu viel plapperte. Aber sie liebte Ägypten, und vor allem liebte sie Alexandria.
    “Oh, und natürlich gibt es da noch die Sternenwarte. Da gibt es ganze Gruppen von Philologen, die nichts anderes machen, als Sternkarten anzufertigen. Und sie haben da so Geräte, so runde Scheiben... ich weiß nicht, wie die heißen, Astro... irgendwas. Labium oder Latrium oder Lasium. Da sind viele Kreise und Linien drauf, und ein Winkel zum Einstellen, und damit messen sie, wie die Sterne sich bewegen. Ich hab nicht verstanden, wie es funktioniert, aber ich finde es... atemberaubend, dass sie das überhaupt können und Geräte haben, um das zu tun.“
    Axilla merkte gar nicht, wie viel sie erzählte. Sie redete einfach und erzählte mit Hingabe von dem Ort, den sie nun schon fast ein ganzes Jahr nicht mehr gesehen hatte, und merkte dabei nicht einmal, wie ihre Sprache immer mehr und mehr vom griechischen gefärbt wurde. Ein Schritt noch, und sie würde wohl ins Koine wechseln, ohne sich dessen überhaupt bewusst zu sein.

  • Ein düsterer Schatten schien für die Dauer einiger Augenblicke des Gesprächs den ansonsten so strahlenden Herbsttag zu trüben. So gänzlich verschiedene Charaktere ihren Väter auch zueigen gewesen sein mochten - der tüchtige Tribun auf der einen Seite, der immer verwirrtere Misanthrop auf der anderen - so war ihnen nun doch etwas Grundlegendes gemeinsam: beider Männer Lebensfäden hatten die Parzen zu Ende gesponnen, nun weilten sie unter den körperlosen Schatten. Viele Stunden hatte der junge Flavier bereits über jenen Übergang von der einen Welt in die andere, den Zustand nachdem der sterbliche Körper, weil er seinen Zweck erfüllt hatte, dem Feuer übergeben worden war, nachgesonnen, ohne so recht eine befriedigende Erkenntnis aus seinen Überlegungen extrahieren zu können. Dass jene märchenhafte Vorstellung, die Vergil etwa in seiner Aeneis vermittelte, als er Aeneas mit der Sibylle aus Cumae in das Avernertal und die Unterwelt hinabsteigen lässt, nicht völlig der Wahrheit entsprechen konnte, war ihm irgendwie bewusst, sollte es aber nun so sein, dass zwar der Körper sterblich und vergänglich, die Seele aber, wie Platon meint, unsterblich sei, oder konnte sogar an dem Glauben jener Christianer, die behaupteten eines Tages würden alle Toten gleichzeitig auferstehen und erneut – mitsamt ihrem Leib – zum Leben erweckt werden, ein Fünkchen Wahrheit sein? Vielfältig waren die Meinungen über jenes Thema zweifellos und selbst der so verehrte Nikodemos hatte dem jungen Knaben Flaccus, kurz vor seinem eigenen Tod, keine gänzlich zufriedenstellende Antwort auf diese eine brennende Frage geben können.


    Nur wenige Augenblicke später jedoch wandelte sich, zumindest dem Empfinden des jungen Mannes nach, die Atmosphäre des Gesprächs auf wunderbare Weise, hellte die Düsternis sich auf, gleichsam wie Aurora, wenn sie den Ozean verlässt am Himmel emporsteigt und Sol, der Titan am Morgen das erste Licht in die Dunkelheit der Nacht schickt und mit seinen Strahlen den Erdkreis erhellt. Axilla begann über das Museion zu sprechen, nein vielmehr zu schwärmen. In seiner Vorstellung erwachten die gesprochenen Worte der Iunia zum Leben. Flaccus konnte den Tempel der neun Musen, jener Gottheiten die sich unter Apolls Führung in allen erdenklichen Künsten übten gänzlich vor sich sehen. Doch damit nicht genug, den Gott selbst glaubte er zu schauen, Apollon, wie er das winterliche Lykien verlässt und die Wasser des Xanthus, Delus, die Insel der Mutter aufsucht, die Reigen wiederaufleben lässt und dabei dann Kreter zusammen mit Dryopern und die bemalten Apathyren um den Altar lärmen, wie der Gott, wenn er von den Höhen des Cynthus schreitet, das fließende Haar mit einem Kranz aus zartem Laub, Zeichen der früheren Liebe, ordnend zusammenhält und ein Band aus Gold darumlegt, wenn die Waffen auf seinen Schultern klirren und vor reinem Glanz strahlt sein edles Antlitz. Bunte Bilder schwirrten in den Gedanken des jungen Mannes umher, nun zeigte sich wieder die gewaltige Bibliothek, das Observatorium, die Gärten und Werkstätten des Museums, Heimat aller erdenklichen Künste und des gesamten Wissens der Sterblichen. Alexandrias Hafen erstand in der Vorstellung des Flaviers, der hochberühmte Turm, die glücklich, da von Poseidon begünstigten, einlaufenden Schiffe der Händler, an Bord unvorstellbare Schätze, Stoffe, Farben, Gewürze, die im Wind flatternden Segel und bunten Fahnen, der fidele Gesang der endlich am Ziel angelangten Seemänner. Nun jedoch schwankte der Geist direkt in die weiten, unüberblickbaren Gärten des Museions, zahlreiche Lauben und Pavillons verstreut inmitten exotischer Pflanzen und Tiere, von hier abermals durch die Bibliothek, unfassbar in ihren Ausmaßen, hinauf in den Turm der Astrologen und Sterndeuter. Mit komplizierten Geräten berechneten sie die Bahnen der Gestirne, deuteten die Zeichen am nächtlichen Himmel, Sterne und Kometen, Fingerzeige der unsterblichen Götter. Hier, in der unendlichen Weite des pechschwarzen Nachthimmels, den Gefilden des Uranos, auf grausame Weise getrennt von Gaia, durch sein Blut Ahnherr des gigantischen Geschlechts, nun Wohnsitz des großen Blitzeschleuderers und seiner Kinder. Hier, in der für den menschlichen Geist wohl unfassbaren Ewigkeit des Alls verlor sich die Vorstellungskraft des jungen Mannes, zerlief seine phantastische Vorstellung gleichsam in Schall und Rauch. Nun erst konnte das Bewusstsein seines Geistes wieder zurückrufen in jenen Garten, an jenen Herbsttag, zu jener jungen Frau. Diese hatte offenbar schon eine ganze Weile zu sprechen aufgehört, ein Umstand der nicht bis in die bewussten Sphären der Wahrnehmung des jungen Mannes gedrungen war, solange er seinen Geist so weit entfernt in fremden und faszinierenden Gefilden schweifen ließ. Nun war es wohl erstmals an ihm, ein etwas verlegenes Lächeln zu formen.


    „Entschuldige, doch deine spannende Erzählung über das Museion war meiner Phantasie wohl allzu fruchtbare Nahrung und hat meine Aufmerksamkeit etwas weggelockt …“, eine völlige Untertreibung, es war wunderbar gewesen! Einen Moment hing er noch in faszinierter Entzückung seinem eigenen Gedankenspiel nach, bis er sich wieder völlig auf das Gespräch konzentrieren konnte. „Wieso, um alles in der Welt, hast du Alexandria überhaupt verlassen?“, führte er das Gespräch in logisch konsequenter Weise fort, „Hätte ich erst die Möglichkeit, alle diese Wunder mit eigenen Augen zu sehen, selbst durch die Straßen jener Stadt und die Gänge des gewaltigen Museions zu schreiten … alle Götter zusammen brächten mich nicht mehr weg von dort!“ Die Möglichkeit, dass er all die Dinge, von denen Axilla wenige Augenblicke zuvor gesprochen hatte, in seiner Vorstellung etwas phantastischer ausfallen hatte lassen, als sie realiter waren, zog er nicht einmal in Erwägung.

  • Als Axilla geendet hatte, sagte Flaccus nichts. Gar nichts. Wie verzückt starrte er Löcher in die Luft, und Axilla überlegte schon, ob denn alles in Ordnung war. Das Schweigen breitete sich aus bis zu dem Punkt, an dem es für sie unangenehm wurde. Sie hatte nichts gegen Stille an und für sich. Sie konnte auch mit einem guten Freund schweigen und einfach nur die Zeit zu zweit genießen. Aber das hier war anders. Sie kannte Flaccus ja kaum, sie war in seinem Haus, und sie hatte keine Ahnung, was ihn hatte so abwesend sein lassen. Vielleicht hatte ihr Gerede ihn ja auch gelangweilt und er war nun eingeschlafen? Mit offenen Augen zwar, und irgendwie glücklich wirkend, aber...
    Axilla begann gerade damit, etwas unruhig sich aufzurichten und einen klugen Einwurf zu finden, um die Stille zu brechen, als Flaccus sich doch nochmal rührte und sich erklärte. Also hatte er doch geträumt. Ob es war, weil er ihre Worte so berauschend gefunden hatte, oder doch eher, weil sie ihn langweilten, wusste Axilla nicht genau zu sagen. Und auch seine darauf folgende Frage, wenngleich mit hehrer Begeisterung gestellt, machte das unangenehme Gefühl bei ihr nicht unbedingt besser. Ja, warum sie Alexandria verlassen hatte...
    “Naja, es hat sich irgendwie so ergeben...“ fing sie an, sich etwas unsicher am Unterarm kratzend. Ihre Unterlippe wurde auch mal wieder malträtiert, denn wie immer, wenn sie nervös wurde, kaute sie leicht darauf herum. “Es war ja eigentlich gar nicht geplant, dass ich so lange weg bleibe, ich wollte nur den letzten Winter in Rom verbringen und wenn die Frühjahrsstürme dann vorüber sind, wieder zurückfahren. Du musst wissen, dass Decimus Livianus der Patron meines Cousins war. Und das war gerade zu der Zeit, dass dieser aus seiner Gefangenschaft in Parthia heimgekommen ist, und naja, ich hab ihm da halt geschrieben. Und daraufhin hat er mich nach Rom eingeladen, weil er mich kennenlernen wollte.“ Axilla zuckte leicht die Schultern. Einige essentielle Teile ihrer Geschichte ließ sie wohlweißlich weg, weil die sicher nicht zu den Dingen gehörten, die man erzählte. Wie beispielsweise, dass sie zum Zeitpunkt ihrer Abreise aus Ägypten schwanger war von Aelius Archias. Oder auch, dass es Urgulania sehr recht war, dass sie nach Rom ging, weil es in Ägypten zu unsicher geworden war, dank der Drohungen von Terentius Cyprianus. “Und in Rom habe ich dann Aelius Archias wiedergetroffen. Wir kannten einander schon aus Ägypten und... naja, er hat seine Verlobung mit Decima Seiana gelöst, um mich zu heiraten. Und da war dann eine Rückkehr ja ausgeschlossen.“ So, wie sie das erzählte, klang es sehr politisch. Und widersprach damit den eigentlichen tatsächlichen Begebenheiten. Allerdings war Axilla nicht so treuherzig, dass sie jemandem, den sie kaum kannte, die ganze Geschichte erzählte. Immerhin würde sie dann den vom Kaiser eingesetzten Statthalter Alexandrias des Mordes bezichtigen. Und das war sicher nichts, was sie laut aussprechen sollte. Abgesehen von der kleinen unrühmlichen Tatsache, dass es so aussehen könnte, als wäre sie eine Lupa, weil sie mit Archias schon vor der Ehe geschlafen hatte.
    “Aber vielleicht gehe ich zurück, wenn die Erbschaft meines Mannes endlich freigegeben und geregelt ist. Mal sehen. Meine Cousine wurde während meiner Abwesenheit vor dem Tempel der Tyche ermordet. Der Mörder ist noch immer nicht gefasst, obwohl es bereits über ein halbes Jahr her ist. Ich muss erst meine Freunde befragen, ob eine solche Rückkehr ratsam wäre.“ Dass sie Feinde hatte, das wiederum war nichts, worüber sie nicht sprechen konnte. Jeder Mensch hatte Feinde und jemanden, der ihn am liebsten tot sehen würde. Das gehörte fast shcon dazu, wenn man einen großen Namen trug. Und wenn die Iunii sonst schon nicht mehr viel hatten, einen Namen hatten sie.

  • Entspannend plätscherte das klare Wasser aus der zierlichen Quelle in das kleine, von kunstfertiger Menschenhand geschaffene Becken. Im Grunde fehlte nur noch die musikalische Untermalung durch meditative Lyramusik, um das idyllische Bild paradiesischen Friedens zu vervollkommnen und beim Betrachter den trügerischen Eindruck zu erwecken, nicht länger auf Erden, denn vielmehr bereits jenseits der Lethe im blühenden Elysium sich zu befinden. Auch der von den Musen stets umneckte junge Flavier konnte sich dieses Empfindens nicht erwehren, allein, keiner der hauseigenen Sklaven schien seinen hohen musikalischen Ansprüchen gerecht zu werden. Freilich hätte er selbst zur Phorminx, jenem altertümlichen Instrument, das schon längst von der Lyra abgelöst worden, doch dem archaischen Geschmack des Flaviers und seiner Liebe zum epischen Vortrag allein gerecht wurde, greifen lönnen, wusste er doch durchaus, mit jenem göttlichen Instrument umzugehen und den zarten Saiten jene teils durchaus herben Klänge zu entlocken, die den griechischen Modi innewohnten. Allerdings kannte er Axilla schlichtweg noch nicht gut genug, um zu wissen, ob sie den Musenkünsten in ähnlicher Weise verfallen war, wie der junge Mann selbst.


    Im Grunde schienen Flaccus' Überlegungen momentan auch gar nicht von Relevanz, begann Axilla doch just in diesem Augenblicke ganz ungeheuerliche Dinge zu erzählen. "Oh...", war, gepaart mit einem betroffenen Gesichtsausdruck die erste verbale Manifestation der flavischen Bestürzung. "Das tut mir leid ..." und ein aufrichtig bedauernder Blick folgten prompt. Das war nun sicherlich ganz und gar nicht die Art von Begründungen für Axillas Abreise aus Alexandria, die er erwartet hatte. Andererseits schienen sie in ihrer Dramatik ganz gut zu jenem Bild der jungen Frau zu passen, das, bisher vage, langsam konkrete Konturen anzunehmen schien und, gleichsam einer flüchtig entworfenen Skizze, vor dem geistigen Auge des Flaviers entstand. Da er nicht wusste, wie unangenehm das Thema für die junge Frau war, und weil es ihm ohnehin für ein erstes Gespräch unpassend erschien, jenes traurige Kapitel aus Axillas Vergangenheit zu vertiefen, beließ Flaccus die Antwort schließlich bei den Worten: "Vermutlich eher nicht. Welche Beweggründe auch immer jenen Mörder zu seiner frevelhaften Tat getrieben haben mochten, eine Rückkehr nach Alexandria hieße vermutlich, dein Leben freiwillig einer beträchtlichen Gefahr auszusetzen."


    Für Flaccus schien das Gespräch nun an einem schwierigen Punkt angelangt. Je weiter er in die Vergangenheit der Iunia vorzudringen schien, umso mehr düstere Ereignisse musste die junge Frau aus der Dunkelheit des Vergessens zurück ans strahlende Tageslicht zu holen. Er konnte nicht einschätzen, wie belastend oder unangenehm es ihr war, darüber zu sprechen, also versuchte er nicht mit Gewalt das Gespräch fest an dieses eine Thema zu haften. Er ließ seinen Blick über die Pflanzen um sich wandern, bevor er erneut zu sprechen anhob: „Was machst du gerne?“, eine Frage die, einfach so dahingestellt wohl ein reichliches Maß an Perplexität bei der jungen Frau auslösen würde, „Ich meine, was machst du wirklich gerne? Welche Dinge am Leben sind es, die du am meisten schätzt?“, erklärte er seine Frage, und ließ seinen Blick erneut abschweifen in die üppige Pflanzenpracht des flavischen Gartens, um der Iunia einige Augenblicke des Nachdenkens und eine ungezwungene Antwort zu ermöglichen.

  • Sein Mitleid war Axilla dann doch noch einmal ein wenig unangenehm. Verlegen kratzte sie noch ein wenig mehr an ihrem Arm, so dass die Haut sich dort nun nach dieser wiederholten rauen Behandlung leicht rötete. Auch seine Meinung zu ihrer Rückkehr nach Alexandria fiel in diesen Bereich, und Axilla versuchte, einfach geschickt auszuweichen. “Wie gesagt, ich müsste mich ohnehin erst erkundigen, und vor dem Frühjahr wäre eine Reise ohnehin ausgeschlossen. Mir wird ja schon bei ruhiger See schlecht.“ Gut, Seekrankheit war nicht unbedingt unter die politisch korrekten Smalltalkthemen einzusortieren, aber es war definitiv eine Ablenkung.


    Dann aber schaffte Flaccus es, sie mit einer einfachen, ganz unschuldigen Frage, völlig aus dem Konzept zu kriegen. Im positiven Sinn, denn sie hörte augenblicklich auf, ihren Unterarm zu malträtieren und sah ihn einen Moment ertappt an. Dann wandelte sich ihr Gesichtsausdruck in ein Lächeln, als hätte Flaccus sie gerade bei etwas erwischt. Hatte er im Grunde auch, sie wurde sogar ein ganz klein wenig rot und schaute deshalb beiseite.
    “Was ich gerne mache?“ fragte sie noch einmal nach, um Zeit zu schinden. Sie konnte ihm ja wohl schlecht die Wahrheit sagen. Dafür kannten sie einander viel zu wenig. Woher sollte sie denn wissen, dass er das nicht doof finden würde. Oder überhaupt akzeptieren würde. “Ich weiß nicht? Als Nymphe müsste ich wohl sagen, Blödsinn anstellen, tanzen und auf Bäume klettern, oder?“ Noch immer lächelte sie von einem Ohr zum anderen und versuchte, ihre Überraschung irgendwie unter Kontrolle zu bekommen. Daher wählte sie eine ausweichende Antwort, die verblüffend nah an der Wahrheit war.
    Vielleicht war es das einfachste, sie drehte den Spieß um? “Was machst du denn so wirklich, wirklich, wirklich gerne?“

  • Amüsiert wanderte eine Augenbraue des jungen Flaviers nach oben, als Axilla fortsetzte, ihren Unterarm zu bearbeiten. Ihre diplomatische Antwort sowie den Verweis auf ihre Seekrankheit nahm Flaccus zur Kenntnis, letzter vermochte sein Lächeln sogar noch zu verbreitern. Dann allerdings schien Axilla auf seine Frage, was sie denn so richtig gerne mache, einen Moment wie versteinert und vergaß sogar einen Augenblick völlig ihren gebräunten Unterarm, der mittlerweile schon eine leicht rötliche Färbung angenommen hatte. Nicht nur jener allerdings hatte seine Farbe gewechselt, auch das Antlitz der jungen Frau ließ unvermutet ein interessantes Farbenspiel erkennen, wie der Himmel über offenem Meer, wenn abends Helios seinen flammenden Wagen samt Rossen in Poseidons Reich versenkt und den Äther in feurige Farben taucht. Noch einmal wiederholte Axilla die Frage des jungen Flaviers, jener nickte nur kaum merklich, um sie zu bekräftigen. Wieder schien die Iunia jedoch scheinbar nicht gewillt, eine ehrliche Antwort zu geben, sondern flüchtete einmal mehr in den Mythos, jenen Tummelplatz für märchenhafte Gestalten, den schon der alte Platon instrumentalisiert hatte, um ganz konkrete Themen zu transportieren. Konnte Flaccus also auch aus der scheinbar ausweichenden Antwort der jungen Frau Rückschlüsse auf die Tatsachen ziehen? Jedenfalls erwiderte der Flavier das, mittlerweile sich über beide Ohren erstreckende Lächeln Axillas, um in scheinbarer Imitatio nun seinerseits einen nachdenklichen Gesichtsausdruck auf sein Antlitz zu zaubern.


    "Was ich so wirklich, wirklich, wirklich gerne mache?", wiederholte auch er die Frage, jedes "wirklich" in seiner Intensität steigernd. "Nun, als Sterblicher kann ich wohl nur mit sterblichen Dingen aufwarten ... und doch mögen meine Taten in gewisser Weise auch als göttlich erachtet werden.", begann er seine Antwort auf geheimnisvolle Weise einzuleiten. "Ich singe gerne von den Geschehnissen über und unter der Erde, den Abenteuern der Heroen, von mächtigen Kriegs- und wohl noch mächtigeren Friedenstaten. Die Geschichten der Götter und Menschen erzähle ich, vom Anbeginn der Welt, bis in unsere Zeit." während er sprach, hatten seine Augen zu strahlen begonnen, gleich zwei funkelnden Bernsteinen, in denen sich, glatt geschliffen, die glänzenden Strahlen der Sonne brechen.

  • Er veralberte sie, und Axilla musste ein wenig lachen. Sie nahm es ihm nicht übel, im Gegenteil, es löste die Spannung. Und sie hatte sich ja auch etwas kindisch ausgedrückt, das würde sie als letzte abstreiten. So lachte sie nur und hörte dann zu, wie Flaccus erzählte.
    “Oh, dann hoffe ich, du machst das besser als dein Vetter.“ Eine Sekunde nicht nachgedacht, und schwupps, schon war etwas mit einem halben Lachen heraus, was sie eigentlich nicht hatte sagen wollen. Nur ein Herzschlag später merkte Axilla, was sie da gerade nicht unbedingt charmant von sich gegeben hatte, und sofort wurde sie rot und sah Flaccus beschwichtigend an. Schadensbegrenzung musste her. “Ähm, ich meine, also... ich wollte Piso nicht beleidigen, es ist nur... ich weiß ja nicht, ob du ihn mal singen hast hören. Ich meine... ähm...“ Ablenken! Am besten einfach Thema wechseln und so tun, als wäre nichts gewesen. Im Zweifelsfall: Themenwechsel. Das klappte fast immer. Im Grunde kannte Axilla nur eine einzige Person, bei der es nicht geklappt hatte. Und an die wollte sie gerade nicht denken.
    “Ähm, spielst du dann auch ein Instrument, oder beschränkst du dich auf stimmlichen Vortrag? In Alexandria war ich ja sehr gut mit Penelope Bantotakis bekannt. Die war Kitharistin, und hat bei den Spielen damals in Alexandria den musischen Wettstreit gewonnen. Das war wirklich sehr beeindruckend.“
    Axilla hoffte, dass ihr Ablenkungsversuch geglückt war. Etwas besseres war ihr nicht eingefallen als das. Dass besagte Griechin und ihr Mann mittlerweile beide tot waren, wusste sie nicht, ansonsten hätte sie vielleicht noch einmal überlegt und ein anderes Thema gewählt.

  • Axilla musste lachen und endlich begann sich die gesamte Atmosphäre auf angenehme Weise zu lockern. Schon im nächsten Augenblick jedoch schien die junge Frau zu stocken und erneut ließ ihr Antlitz jenes faszinierende Farbenspiel erkennen, als ihre Wangen von zarter Röte angehaucht, scheinbar zu glühen begannen. Ihren beschwichtigenden Blick quittierte der Flavier freundlich lächelnd mit einem diplomatischen „Leider hatte ich noch nicht das Vergnügen…“, und schon schien Axilla auch gar nicht länger über eben jenen Verwandten des Flaccus sprechen zu wollen, wandte sie doch nun das Gespräch wieder gen Osten, nach Alexandria und kam auf den dortigen musischen Wettstreit zu sprechen. Penelope Bantotakis… Im Geiste wiederholte Flaccus den griechischen Namen, nur um festzustellen, dass er ihn nicht wirklich einordnen konnte. Schon wartete Axilla jedoch mit einer Erklärung auf und entpuppte die ebengenannte Griechin als Gewinnerin des musischen Wettstreits in Alexandria.


    „Mein Mentor, Nikodemos, lehrte mich das Spiel mit der Kithara und in Athen konnte ich mein Können verfeinern … magst du Musik?“, erklärte der Flavier seine eigenen musischen Fertigkeiten und versuchte durch eine flüchtige Frage erneut Axillas Interessen zu erkunden. Wenngleich die zuvor gleichsam spielerisch eingeworfenen nymphenhaften Beschäftigungen tatsächlich nahe an der Wahrheit liegen mochten, so hoffte Flaccus, wenigstens in diesem Punkt auf gemeinsame Interessen, wenn die Begeisterung für die griechische Kultur den beiden nicht genug Gemeinsamkeit war, zu stoßen. Im Grunde war das auch seine größte Sehnsucht, endlich einen Gleichgesinnten, einen Freund in Rom zu finden, mit dem er seine Interessen teilen konnte.

  • Er hatte Piso noch nicht singen gehört? Nun, wenn er dann mal in 'das Vergnügen' gekommen war , würde er wissen, wovon Axilla sprach. Vielleicht spielte der Flavier ja einmal wieder auf der Rostra, wobei Flaccus ihn wohl eher hier in der Villa spielen hören würde.
    Axilla aber ging nicht näher darauf ein, sondern war nur froh, dass er das ganze nicht so ernst nahm und auf ihren Themenwechsel einging. Er spielte also Kithara. Axilla selber hatte kein musisches Talent. Ihre Mutter hätte gerne gehabt, dass sie auch Lyra spielen lernt, aber davor hatte sie sich immer sehr erfolgreich gedrückt, und ihr eigener Lehrer Iason hatte es für wichtiger befunden, ihr Mathematik und ein wenig Philosophie beizubringen und daher die Musik, für die sie ohnehin nur wenig Talent aufbrachte, vernachlässigt.


    “Kann man Musik auch nicht mögen?“ fragte sie etwas verschmitzt zurück. Wer keine Musik mochte, war irgendwie kein richtiger Mensch. Es musste ja nicht gleich ein episches Kunstwerk sein, das man mochte, aber jede Amme sang die Kinder in den Schlaf. Überall summte irgendwer bei der Arbeit. Das gehörte einfach irgendwie dazu.
    “Aber ich beschränke mich da eher aufs zuhören. Ich kann nicht spielen oder so. Aber vielleicht kannst du ja mal etwas vorspielen?“

  • Ob man Musik nicht mögen konnte? „Wohl kaum…“, erwiderte Flaccus, der unscheinbaren Sklavin ein ebenso unscheinbares Zeichen gebend, das jene jedoch augenblicklich dazu veranlasste, aus ihrer gleichsam reglosen Versteinerung zu erwachen und in schnellen Schritten gen der flavischen Villa zu eilen, um das Instrument des Dominus herbeizuschaffen. „… und schon gar nicht als Nymphe – wenngleich meine Musik wohl deutlich von der der Satyrn sich unterscheidet. Wohl eher von den Musen denn dem gewaltigen Sohn der Semele inspiriert mag meine Kunst angesehen werden, vom Phoebus selbst, der am göttlichen Parnass die neun an der Kastalischen Quelle lehrt – möge dir mein Spiel aber willkommener sein, als jener unglücklichen Nymphe die Werbung des Gottes...“ Hatte jene Nymphe sich doch einst auf der Flucht vor Apoll in die Quelle gestürzt. Schon war die Sklavin, schnell wie der frische Wind, wenn er im Herbst durch die Gassen Roms pfeift und die drückende Hitze des Sommers verjagt, wieder zur Stelle, die Kithara wie einen kostbaren Schatz, was sie schlussendlich ja auch war, vor sich her tragend trat sie an den jungen Flavier heran. Flaccus ergriff das Instrument, und wand das Band in gewohnter Weise über sein Handgelenk. Kurz prüfte er die Stimmung der sieben Saiten, indem er leicht an ihnen zupfte. Bedauerlicherweise hatte die Sklavin das kleine elfenbeinerne Plektron, ein Geschenk seines Freundes Polykarpos, nicht mitgebracht, im Grunde war das aber kein Problem, es ging ja auch ohne.


    Ein Lächeln auf seine zarten Lippen zaubernd, wandte er sich an Axilla. „Urteile selbst, ob jenes alte Urteil der Musen im verhängnisvollen Streit zwischen Apollon und dem allzu stolzen Satyrn Marsyas gerecht gefällt war…“, bevor er kurz die Augen schloss und Luft einsog. Nach jenem Augenblick der Konzentration begann er zart die Saiten zu zupfen, eine liebliche Melodie, zaghaft, fast schon schüchtern mochte sie anmuten, dem Instrument zu entlocken. Angenehm und süß flossen die Töne dahin, ein leicht herber Beigeschmack, provoziert durch die griechische Stimmung, sorgte dafür, dass die liebliche Melodie nicht in den kitschigen Bereich abzudriften drohte. In Gedanken schien sich unweigerlich das Bild der schattigen Quelle am Fuße des Parnass aufzutun, zumal auch im flavischen Garten angenehm das Wasser plätscherte, der Gott selbst schien dem Zuhörer sich durch die Musik zu offenbaren. Eine geraume Weile ließ Flaccus die Töne lediglich dahin strömen, improvisierend suchte er nach einem schönen Gedicht, bis ihm schließlich ein kleines Werk in den Sinn kam, das, inspiriert vom alten Anakreon, in dessen Namen bis heute überliefert war und er musste unwillkürlich lächeln, bevor er noch einmal seine Konzentration sammelte und zu singen begann.

    Einst stand die Tantalidin
    als Fels auf Phrygiens Bergen,
    und Pandions Tochter flog
    als Vogel einst, war Schwalbe.
    Ich möchte ein Spiegel sein,
    damit du stets mich ansiehst;
    ich möcht zum Kleide werden,
    damit du stets mich trägst.
    Zum Wasser will ich werden,
    um dich zu salben, Herrin.
    Und Band um deine Brüste,
    und an dem Hals die Perle
    und Sohle möcht ich werden:
    Nur mich tritt mit den Füßen!


    Selbst die Sklavin hatte während des Gesangs scheinbar sich verwandelt, blickte sie ihren Dominus doch nun lediglich mit großen Augen an, ob der wunderbaren Schönheit der Musik, die sich ihren Ohren bot und vergaß einige Momente völlig darauf, ihren Blick demütig zu Boden zu richten. Eine ganze Weile spielte der junge Mann noch weiter, nachdem er die griechischen Verse gefühlvoll in musikalisches Gewand gekleidet hatte, bis er endlich schloss und die Kithara sinken ließ. Lächelnd blickte er Axilla an.

  • Axilla musste ein ganz klein wenig schmunzeln, als Flaccus auf einmal so hochtrabend daherredete. Offenbar war das eine Attitüde unter Künstlern, dass diese sich besonders blumig und metaphorisch ausdrückten, um sich und ihr Publikum in Stimmung zu bringen. Axilla erzählte ihm wohl besser nie, dass sie sicher mehr Soldatenlieder kannte als gehobene Lyrik.
    “Wenn ich mich in einen Lorbeerstrauch verwandle, weißt du es“, neckte sie ihn ein wenig zurück, als die Sklavin auch schon das Instrument anbrachte. Axilla legte sich auf ihrer Kline auf die Seite und stützte den Kopf mit dem Ellbogen auf, so dass sie ganz bequem lauschen konnte, während Flaccus spielte. Und er spielte und sang wirklich gut. Er hatte eine angenehme Singstimme, und die Melodie war auch schön.
    Nur beim Inhalt war Axilla leicht am zweifeln. Niobe, deren Kinder getötet worden waren und die in einen weinenden Stein verwandelt wurde, war ein schwermütiger Anfang. Und Philomene, die von ihrem Schwager vergewaltigt worden war und dann mit ihrer Schwester Prokne dessen Sohn getötet, gekocht und ihm zum Essen vorgesetzt hatte, war auch nicht unbedingt leichter. Das dann als Einleitung eines Liebesgedichtes, was das gesungene wohl war, erschien ihr doch ein wenig... seltsam. Vielleicht merkte Flaccus es an Axillas leicht zweifelndem Gesichtsausdruck, auch wenn sie sich bemühte, weiter zu lächeln. Die Sklavin in jedem Fall schien vollkommen bezaubert. Aber vermutlich wusste die auch nicht, worauf sich die ersten Zeilen des Liedes bezogen. Axilla mochte fröhliche und leichte Themen lieber als dieser Kummer und Schmerz. Vor allem im Moment wollte sie nicht noch an ihren eigenen Kummer und Schmerz erinnert werden und hätte einem fröhlichen, nichtssagenden Lied durchaus etwas abgewinnen können.
    So lächelte sie nur leicht, als Flaccus geendet hatte, und legte sich dann auf den Rücken, um in den Himmel zu schauen. Jetzt im Herbst erschien er ihr besonders blau und weit zu sein. Und sie wusste nicht so recht, was sie sagen sollte.
    “Das Lied war schön. Du singst sehr gut.“ Das war das erste, was ihr einfiel, während sie den Wolkenfreien Himmel so betrachtete. “Aber es ist ein wenig schwermütig, findest du nicht?“ Sie wendete den Kopf und sah zu ihm hinüber.

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