Das Bild, welches Gracchus neben ihr zeichnete, war eines, das an Grausamkeit mit ihrer Wirklichkeit fast mithalten konnte. Es mussten schreckliche Alpträume sein, die einem den Tod eines geliebten Menschen wieder und wieder und wieder vor Augen führten, und man jedesmal wieder mit derselben Unfähigkeit bestraft war. Axilla kannte diese Angst, die einem selbst im tiefsten Schlaf dann noch das Herz umschloss, diese kalten Finger auf der Seele, die einem die Luft abdrückten, so dass man schreien wollte, aufwachen wollte, und doch gefangen war im eigenen Traumgebilde, nichts anderes tun konnte als die vielen Male zuvor. Nichts weiter tun konnte, als von dem Baum im Traum herabzuspringen, sich ein letztes Mal umarmen zu lassen und ein Lebewohl zu wünsche, und zu wissen, dass es ein Wiedersehen nie geben würde. Zu wissen, dass man nichts am Tod, der kommen würde, ändern konnte. Wo war der Unterschied zwischen dem Anblick des Todes und dem Wissen um den Tod, selbst im Traum? Hatte beides nicht gleichermaßen eine schreckliche Endgültigkeit in sich, einen unüberwindbaren Schrecken, einen tiefen, schwarzen Abgrund?
Axilla hörte dem Senator neben sich zu, sah zu ihm hinüber, wie er von ihr wegsah. Irgendwie wusste sie, dass er von seinen Träumen sprach. Es war so real, wie er die Träume beschrieb, so detailreich, so wortgewaltig. Und seine Sprache war dabei anders. Nun, nicht direkt anders, aber er benutzte nicht mehr so viele Worte, die sie eigentlich nicht verstand. Immernoch einige, aber dennoch... Axilla wusste nicht so genau, woran sie es festmachte. An seinem Blick, der wie der ihre vorhin in weite Ferne schweifte, das Tausend-Meilen-Starren schlechthin, wenn der Blick an diesen imaginären Punkt am Horizont festgenagelt war und doch eigentlich um so vieles näher, in der eigenen Erinnerung verweilte. Oder an der Art, wie er sprach, an den Worten. An den vielen Bildern. An den Kleinigkeiten, die ihr Wesen mitleidig stimmten. Sie wusste es nicht. Aber sie hatte in diesem Moment das starke, ja fast drängende Gefühl, dass sie diesen Mann, diesen Menschen neben sich einfach umarmen wollte, um so durch die Nähe und völlig ohne Worte auszudrücken, was sie fühlte und was Worte nicht fassen konnten. Nur für einen Augenblick die Wärme eines anderen Menschen um sich zu wissen, dieses sanfte Gefühl der Geborgenheit und Sicherheit, diese Sehnsucht, die wohl jeder dann und wann fühlte. Nur für einen Moment Gewissheit haben darin, dass man mit dem eigenen Schmerz nicht allein war, und Trost darin zu finden, dass jemand anderes es verstand, dass man verbunden war und nicht gänzlich allein, dass diese düsteren Gedanken zwar stets da waren, vielleicht sogar unbezwingbar waren, aber man dennoch, wenigstens für den Hauch eines Augenblicks, sich diesen Dämonen nicht allein stellen musste. Einfach ein Moment, in dem Altruismus und Egoismus so fließend ineinander übergingen, dass wohl keiner sagen konnte, was es wäre, außer vielleicht Gnade.
Und der Moment verflog, zog ungenutzt davon wie der Vogel vorhin mit flinken Flügelschlägen, ohne dass etwas passiert wäre. Er war einfach vergangen, dieser Moment, ohne dass Axilla ihn genutzt hätte. Und das war vielleicht das traurigste an diesem ganzen Moment, zeigte es doch nur allzu sehr, dass ihrer beiden Kindheit vorbei war. Die des Flaviers wohl schon länger als die von Axilla, und dennoch wohl vorbei, und die kindliche Unschuld, die diese Umarmung zugelassen hätte, für immer verloren.
Und der Pontifex sprach weiter, und stellte die frage, die Axilla sich selbst nie zu stellen traute. Was wäre, wenn sie ihren Vater vergaß? Was wäre, wenn der bleiche Schatten seiner Selbst gänzlich verblasste, wenn sie sich nicht mehr erinnern konnte an den Glanz seiner Augen und die Wärme in seinem Lächeln? Was wäre, wenn die Träume, die sie jetzt fürchtete und von denen sie sich wünschte, sie nicht zu träumen, tatsächlich versiegen würden und alles von ihrem Vater mit ihnen gehen würde? Wenn tatsächlich die Rüstung und das Schwert in ihrem Schlafgemach das einzige wären, dass die Erinnerung an ihn überhaupt noch am Leben halten würde, nur um bald schon mit den Jahren gänzlich ausgelöscht zu werden? Konnte sie ihren Vater vergessen? Würde sie ihren Vater vergessen?
Und die Angst, die Erkenntnis, dass einmal alles vergesse wurde, egal wie glorreich oder schrecklich es auch gewesen sein mochte, trafen Axilla härter als raue Felsen, rastlose Strigae oder der schreckliche Cerberos selbst. Sie wollte nicht vergessen. Niemals wollte sie das tun. Und jede Qual, wirklich jede Qual wäre ihr lieber als diese eine von der Lethe aufgegebene.
Einen Augenblick sah Axilla schweigend zu Gracchus hinüber. Versuchte, erwachsen zu sein, edel zu sein. Versuchte eine Antwort zu finden auf seine Worte. Versuchte, stark zu sein.
Und verlor.
Erst eine stille Träne, dann immer mehr rannen über ihre Wangen, unfähig, dass sie sie aufhielt. Sie wollte etwas sagen, holte einmal Luft, aber sie konnte nicht. Was sollte sie sagen? Sie wusste es nicht. “Ich...“ Sie schüttelte den Kopf, und dennoch fanden sich keine Worte darin, die sie hätte aussprechen können. Sie hasste sich selbst für diese Schwäche in diesem Moment, und dennoch konnte sie nichts dagegen tun.
Sie schämte sich, und zog die Füße hoch auf die Bank, verbarg ihr Gesicht an ihren Knien. Sie versuchte, nicht zu Schuchzen, aber dennoch tat sie es wohl. Und schämte sich ob dessen noch viel mehr. Wie sie sich wünschte, sie hätte ihren Gesprächspartner in kindlicher Unschuld einfach umarmt, um wieviel einfacher wäre das jetzt! Aber so saß sie nur weinend da, versuchte, wieder die Kontrolle über ihre Gedanken – und mehr noch ihren Körper – zurückzuerlangen und weinte still in den weichen Stoff ihres Kleides.