Am gestrigen Tag hatten die Stadtschreier, die noch ein paar Tage zuvor mit cohortialer Unterstützung die Ausgangssperre verkündet hatten, die Nachricht von der Prozession verlautbaren lassen. Alle Bürger waren trotz des Versammlungsverbotes ausdrücklich dazu aufgerufen, sich der Prozession im Namen der Concordia anzuschließen. Am Forum Pacis sollte sie nach den morgendlichen Ritualen für Ianus starten und ihren Weg zum Ara Pacis beschreiten. Ausschreitungen befürchtete man hierbei nicht. Die Göttin der Eintracht war bei allen Schichten und allen Menschen in Rom etwas absolut Heiliges, an dem kein Sterblicher rütteln sollte. Direkt in ihrem Antlitz Unfrieden zu stiften war etwas, das einfach undenkbar war. Streitigkeiten hatten zu ruhen, wenn ihre Statue vorübergetragen wurde. Wenn ihre Priester Tage der Eintracht ausriefen, hatten sich alle daran zu halten.
Besonders im Angesicht des personifizierten Friedens! Vom Friedensforum zum Friedensaltar zu wandern war kein Zufall bei der Wahl der Örtlichkeiten. Das war wohl jedem klar, der die Verkündigung hörte. Und vermutlich waren die allermeisten über diesen Schritt auch mehr als nur erleichtert, bot er doch die Möglichkeit, in Sicherheit die eigenen vier Wände verlassen zu können, ohne Furcht vor den Konsequenzen oder weiteren Ausschreitungen haben zu müssen.
Vermutlich war es diese Symbolik, die das Collegium Pontificum davon überzeugt hatte, schnell zu handeln und auf den Brief des Praefectus Urbi so schnell und umfassend zu reagieren. Sextus hatte, als er seinen 'Vorschlag' an den mächtigsten Mann der Stadt gesandt hat, schon befürchtet, dass dieser sich nicht dem Spruch eines Haruspex beugen würde und das alles als religiösen Fanatismus abtun würde. Besonders bemüht um den Götterkult hatte sich der Mann ja nicht. Als dieser dann das ganze aber an das Collegium Pontificum abgegeben hatte, sah der Aurelier sein Vorhaben mehr als nur ein wenig in Gefahr. Nach dem Tod von Tiberius Durus und dem Verschwinden von Flavius Gracchus sowie weiterer Mitglieder des besagten Ordo waren die Räumlichkeiten dort mehr als nur verwaist. Allerdings hatte irgendeine göttliche Macht wohl wirklich ein Interesse daran, dass Frieden in die Stadt einkehrte, denn es war ausgerechnet der Pontifex Duilius Verius, der die Anweisung des Vescularius doch erhielt. Und jener war schön öfter dadurch hervorgetreten, die Wünsche dieses Mannes mehr als bereitwillig zu erfüllen, und so auch diesen.
Kurzum, als Sextus zu Sonnenaufgang auf dem Forum Pacis aufgetaucht war, war er mehr als zufrieden. Er trug sein volles Haruspex-Ornat, ebenso wie der Teil seiner Collegiumsbrüder, die noch in der Stadt waren und sich seiner Bitte angeschlossen haben. Von den fünfzig Mitgliedern des Ordo in Tarquinia und Roma waren hier also nun fünfzehn Männer anwesend, gut erkennbar an den charakteristischen Kopfbedeckungen und den Lederüberwürfen über den schlichten Tuniken. Sie hielten sich alle direkt hinter den Priestern der Concordia auf, die in schlichtem, dunklen Stoff nicht weniger herausstachen, vor allem, da sie Rund um das tragbare Kultbild ihrer Göttin versammelt waren.
In der Ferne verklangen gerade die morgendlichen Gesänge und Gebete für Ianus und die erste Stunde des Tages wurde damit offiziell eröffnet. Auf dem Forum hatten sich schon einige Menschen trotz der frühen Stunde versammelt, um der personifizierten Einigkeit ihre Ehrerbietung darzubringen – und wohl auch, um sich mit Menschen, die man aufgrund der Ausgangssperre einige Tage nicht gesehen hatte, endlich einmal wieder auszutauschen.
Gebannt sah Sextus zu den Priestern der Göttin, die sich noch murmelnd unterhalten hatten. Kurz nickten sie einander zu und gaben den ihnen folgenden Haruspices und den Kulthelfern ein kleines Zeichen. Von sechs Opferhelfern getragen wurde das hölzerne Podest, auf dem die Göttin thronte, angehoben, so dass die Menschen sie sehen konnten. Es war eine nicht einmal lebensgroße Holzstatue einer Frau, mit bunten Farben bemalt und reich geschmückt, die Hände vor sich ineinandergelegt, in den Armen ein Füllhorn, und rund um ihre Füße die wenigen Blumen, die so früh im Jahr schon zu bekommen waren.
“Macht Platz für Concordia!“ forderte der erste Priester auf und schritt dem Kultbild voran, während die Opferhelfer mit dem Kultbild folgten. Direkt dahinter waren die übrigen Priester und stimmten einen archaischen Gesang an, dessen Worte kein Mensch mehr verstand, geschweige denn seine Bedeutung. Aber er gehörte zum Kult und daher wurde er gesungen. Im Anschluss an die dunkel gewandeten Priester schlossen sich die Haruspices an, die ebenso archaisch murmelnd langsam folgten, während der vorderste Priester anfing, die Göttin mit leichtem Singsang in der Stimme auf die Bevölkerung herabzubeschwören. “Sehet die Göttin, Concordia, die Mildtätige. Ehret die Göttin zur Stärke von Rom. Sie segnet die Tapferen, die ihren Freunden beistehen. Sie segnet die Familien, die sich um die ihren sorgen. Sie segnet die Römer, die ihre Stadt zusammenhalten. Oh Concordia, Herrliche, Herrin der Eintracht, göttliche Bewahrerin des Friedens! Oh Concordia, Helferin Roms! Deine Gabe lässt uns stark sein...“
Und stets weitersingend, weiterredend und weitermarschierend führte der Priester so den Zug Richtung Ara Pacis an und erinnerte so beständig die Römer an die Anwesenheit der Göttin und ermahnte zum Frieden.