Seiana wusste nicht, wie lange sie schon in dieser Zelle saß. Ein Tag? Zwei? Vier? Viele konnten es noch nicht gewesen sein, aber sie hatte schon innerhalb der ersten paar Stunden das Zeitgefühl verloren hier drin, so schnell, dass sie selbst ein bisschen erschrocken darüber war. Der einzige Anhaltspunkt, der es überhaupt möglich machte die Zeit ein wenig einzuschätzen, war die Regelmäßigkeit, mit der der Sklave kam und Essen vorbeibrachte, oder das Talglicht austauschte. Immerhin war sie auch sonst bisher in Ruhe gelassen worden... was sie als eine von vermutlich wenigen Frauen in einem Carcer nicht unbedingt als selbstverständlich hinnahm, und wofür sie entsprechend dankbar war.
Was ihr allerdings zu schaffen machte, war die Untätigkeit. Sie sehnte sich sogar auf das Landgut in den Albaner Bergen zurück, obwohl sie damals schon geglaubt hatte den Gipfel an Untätigkeit erreicht zu haben – aber selbst da hatte es immer irgendetwas zu tun gegeben. Sie hatte sich nicht unbedingt damit beschäftigt, weil es Dinge gewesen waren die nicht ihr Interesse weckten, aber sie waren da gewesen. Jetzt hätte sie die Götter wussten was gegeben, um auch nur eines davon hier zu haben. Eine Stickerei, beispielsweise. Seiana hasste es zu sticken, aber hier... in diesem... Loch... mit nichts zu tun außer da zu sitzen, Wände anzustarren, den Schmerzen in ihrem Körper nachzuspüren und in Grübeleien zu versinken... Das Loch, in das sie nach der Geburt gefallen war, tat sich in schöner Regelmäßigkeit vor ihr auf und verschlang sie, und jedes Mal fiel es ihr schwerer, dagegen anzukämpfen, jedes Mal fiel es schwerer, wieder herauszukommen – und Seiana begann sich zu fragen, warum sie sich überhaupt die Mühe machte, wo es hier doch ohnehin nichts gab, und es auch keine Aussicht darauf zu geben schien, dass sich das in absehbarer Zeit ändern würde.
Als sich draußen plötzlich etwas zu tun begann – zu einer unüblichen Zeit, wie sie meinte, aber nun, auf ihr Zeitgefühl war ja kein Verlass derzeit –, lag Seiana wie so häufig auf der Pritsche und starrte vor sich hin, verloren irgendwo in ihren Gedanken, die sich im Moment wenigstens nicht in einem der zahllosen Kreise drehten, die sie halb verrückt machten vor Angst oder Ungewissheit, sondern eher träge vor sich hin trieben. Sie rührte sich nicht, als sie draußen etwas hörte, und auch als die Tür sich zu öffnen begann, blieb sie noch liegen, weil sie im ersten Moment gar nicht wirklich realisierte, dass das tatsächlich geschah – und selbst wenn, war es doch nur wieder das gleiche: der Sklave, der mit irgendetwas kam. Ein Augenblick später allerdings realisierte sie, dass etwas anders war. Es war nicht der Sklave, der hereinkam, sondern ein Mann, ein Soldat, ein... Seneca. Seiana richtete sich halb auf und starrte ihn an. Einbildung, war ihr erster Gedanke. Das musste eine Einbildung sein. Sie träumte. Sie hatte zwar bisher noch nie davon geträumt, dass er kam, so gütig war Morpheus bisher nicht gewesen, ihr einen solchen Traum zu schicken, aber dann war es eben jetzt zum ersten Mal so. Vielleicht halluzinierte sie ja auch, weil die Dunkelheit der Zelle und das Eingesperrtsein sie verrückt machten. Aber er verschwand nicht... stattdessen kam er nur weiter auf sie zu, und Seiana brachte erst mal nicht mehr fertig, als ihm einfach nur sprachlos entgegen zu sehen.