• Die an sie gerichtete Frage, ob sich ein Kind in das Gespräch Erwachsener mischen durfte, erlaubte nur eine Antwort. "Nein." Sie senkte den Kopf . Allerdings hob sie den Blick einen Moment später und linste unter den Wimpern durch. Alsbald erschien ein Lächeln und sie richtete sich wieder gerade auf, denn Onkel Herius erlaubte eine Nachfrage.

    "Onkel Faustus, möchtest du in meinem Beisein sprechen?" Im Wechsel versuchte sie ihr bezauberndstes Lächeln und einen herzerweichenden Blick. Sie hatte noch nicht viel geben müssen, da begann Onkel Faustus zu erzählen. Wieder erwähnte er Neuigkeiten und machte Sisenna umso neugieriger. Als dann die Auflösung kam, verzog sie enttäuscht den Mund.

    "Du reist ab und findest das für mich eine spannende Neuigkeit?" Sie merkte nicht, dass sie etwas verwechselte, denn Spannung hatte sie selbst in die Neuigkeit hineininterpretiert. Zuerst sprach Onkel Faustus nur von Zukunftsplänen. Ihre Unterlippe schob sich vor. Sie hielt besser den Mund, denn sie ahnte, dass dieses Thema, so langweilig es ihr auch erschien, für Onkel Menecrates keineswegs unbedeutend war.

    "Ich gehe dann mal spielen." Sie wendete sich ab, warf aber noch einen flüchtigen Blick zurück, bevor sie losrannte.

  • Er schwieg, denn was anderes als Erschütterung hätte er nicht ausdrücken können. Sisenna ging und er bemerkte es kaum. Was sie sagte, rauschte an ihm vorbei. Erst als er sich gefasst hatte, blickte er Faustus an. "Warum?" Er bemühte sich nicht, die Anklage zu verschleiern. Verständnislosigkeit lag in seinem Blick. Erst Tage zuvor hatten sie festgestellt, dass Faustus der Einzige war, der Menecrates als Vertrauter geblieben war. Der Claudier verschenkte äußert selten sein Vertrauen und aktuell stand niemand in den Startlöchern, um nachrücken zu können.

  • So hart hätte ich dieses WARUM nicht erwartet. Viel lag in diesem einzigen Wort. Natürlich war ich niemandem Rechenschaft schuldig, schließlich war ich mein eigener Herr. Trotz allem, ich war dem väterlichen Freund eine
    Antwort schuldig. „Nun“, fing ich an, "ich habe ja schon erwähnt, das ich eine neue Herausforderung suche,

    aber zu keinem Ergebnis komme. Mit dem Hauskauf, hinter dem ich wenn ich ehrlich bin, nicht so wirklich stehe, wird es zur Zeit auch nichts. Also kam ich zu dem Entschluss mehr über die Welt, mehr über unser großes Reich in Erfahrung zu bringen. So zu sagen Studien vor Ort zu betreiben.“

    Ich legte eine Pause ein und beobachtete einen Vogel der unweit von uns mit seinem Schnabel in die Erde hackte. Ob er versuchte sich einen Wurm oder eine Larve als Futter zu ergattern, fragte ich mich.

    „Du warst doch selber schon in Germanien? Aus anderen Gründen, gewiss, trotzdem hast du bestimmt versucht, es näher kennen zu lernen. Mein Gedanke geht dahin, vielleicht lerne ich dort neue Möglichkeiten kennen. Betrachte

    bestimmt einiges aus einem anderem Blickwinkel oder ich kann mir dort eine neue Existenz aufbauen.“

    Mein Gespür sagte mir, dass alles würde ihm nicht als Begründung reichen. Auf der einen Seite würde er mich vermissen, doch würde er auch meinen Drang nach neuen Erfahrungen verstehen.

    „Abgesehen davon, dass mir die Jahreszeit für eine Reise geeignet scheint, sehe ich doch, wie wenig Zeit du wegen all deinen Pflichten und Aufgaben hast. Jetzt werde ich dir am wenigsten fehlen, denn über die Themen, die dich im
    Augenblick beschäftigen, kannst du doch nicht mit mir sprechen. Auf längere Sicht wird es dich vielleicht ein wenig belasten, weil du weißt, dass ich ausgeschlossen bin. Es ist bestimmt die beste Lösung mein Vorhaben jetzt zu verwirklichen.“

    Damit hörte ich mit meinen Begründungen zu dem 'warum' auf. Es war genug. Menecrates würde meine

    Entscheidung akzeptieren oder ich müsste mich schon sehr in ihm geirrt haben.

  • Wahrscheinlich wusste es Faustus nicht, aber Menecrates fürchtete sich seit Jahren vor diesem Gespräch. Seit dem Ende seines Consulats war das Thema 'Veränderung' immer wieder aufgekommen. Bisher konnte er es stets abwenden, aber heute spürte er, dass die Entscheidung stand. Er richtete den Blick in den Park, ohne wahrzunehmen, was er sah, seufzte einmal und hörte zu, was Faustus zu sagen hatte.

    Er sparte sich den Widerspruch, dass er als Legat der Secunda die Provinz Germanien näher kennengelernt hatte. Abgesehen vom knappen Zeitbudget wehrte sich dagegen sein Innerstes und Interesse besaß er ebenfalls nicht. Als gebürtiger Römer verspürte er weder Reiselust noch den Drang, niedere Kulturen kennenzulernen.


    Wie gut, dass Sisenna gegangen war. Er schwächelte genau dort, wo er von ihr Haltung verlangte. Stets bemühte er sich, Vorbild zu sein, aber hinter dem trittsicheren Auftreten verbarg sich auch nur ein Mensch.

    Als Faustus schwieg, brauchte er Momente, um sich zu sammeln. Nach Argumenten musste er nicht mehr suchen. Die Würfel lagen auf dem imaginären Tisch und nichts würde Faustus umstimmen können. Menecrates blieb nur, die Fassade zu wahren.


    "Ja, die Jahreszeit ist gut", bestätigte er mit rauer Stimme. "Ich darf nicht nur an mich denken", fügte er leise an. Der Rat galt ihm selbst. Wieder starrte er Momente in die Parkanlage. "Wir haben viel zusammen durchgestanden, weißt du noch? Die Zeit kommt niemals zurück, aber auch niemand kann sie uns nehmen." Er seufzte wieder.

    "Wann brichst du auf?" Mit diesen Worten erhob er sich, es wirkte schwerfälliger als sonst. Er legte die Hand auf Faustus' Schulter und drückte sie kurz. "Pass auf dich auf und melde dich zwischendurch mal kurz. Die Götter mit dir!"

    Er sah noch einmal in Faustus' Gesicht, bevor er die Hand fortnahm. Objektiv betrachtet hatte er tatsächlich sehr wenig Zeit und über Militärisches konnte er sich nicht mit Faustus austauschen. Subjektiv betrachtet, verließ ihn ein weiterer Freund. Die Zeit dafür empfand er weniger günstig, aber er musste zugeben - er selbst hatte seine Pläne auch nie seinen Freunden angepasst.

  • Ich hörte wohl die Wehmut in der Stimme des Claudiers, als er vom Abschied sprach. Kurz flackerte in mir Zweifel auf, bei seinen Worten. Er sah ein, er durfte nicht nur an sich denken, doch nichts anders machte ich. Nein ich war nicht egoistisch, ich reiste mit dem Vorsatz mehr aus meinem Leben zu machen, denn ich wollte ein ausgefülltes, sinnvolles Leben führen.

    Menecrates hatte stets an seine Familie und an Rom gedacht. Ich hatte keine Familie mehr und mit Rom war ich nicht so verbunden wie er, deshalb fand ich wohl auch keine Aufgabe die zu mir passte. Oder fehlte mir schlicht der Antrieb?

    „Ja das gemeinsame was gewesen ist kann uns niemand mehr nehmen“, fast flüsterte ich es. Abschiedsschmerz kam in mir hoch. Mein Leben bestand wohl immer nur aus Abschied nehmen. Wenn die Götter es wollten würden wir uns aber wieder sehen.

    Hastig strich ich mir über die Augen. Rau war meine Stimme bei meiner Antwort. „In den nächsten Tagen, sobald die Händlergruppe, mit der ich reisen werde, komplett ist. Die Götter mögen auch bei dir sein und hab Dank für alles“. Eilig stand ich auf, drehte ich mich ab und verließ den Garten.

  • Eigentlich hegte Menecrates selbst einen Fluchtplan, aber nachdem Faustus floh, konnte er unmöglich hinterherlaufen. Er ließ sich also wieder auf der Bank nieder und atmete einmal durch. Er fand es zuweilen schwer, die Logik von Menschen zu verstehen, weil sie oft Dinge taten, die der Verstand gebot. Dinge des Herzens standen zurück, wenn sie nicht zufällig mit dem Verstand einhergingen. Auf Faustus traf beides nur zum Teil zu, denn Menecrates wusste seit Jahren, dass sich der Freund nicht dabei wohlfühlte, kostenlose Logis in der Villa Claudia zu haben. Er wünschte sich ein eigenes Heim und eine eigene Familie, auch wenn er hier ein stets gern gesehener Gast war. Wahrscheinlich lag hierin das Problem: Er wollte Hausherr und kein Gast mehr sein. Warum aber ausgerechnet Germanien erstrebenswert erschien, konnte sich Menecrates nicht erklären. Das Klima und die einheimische Bevölkerung passten nicht zu Faustus‘ Gemüt. Außerdem würden sie einander schwerlich besuchen können, denn zumindest für ihn als Senator und Praefectus Urbi gab es gleich zwei Gründe, die ihn an Rom banden - abgesehen von seiner Heimatliebe.

    Der Claudier ließ den Blick über sein Anwesen streifen. Er lebte hier fast allein, wenn man Sisenna nicht mitzählte. Sein Sohn Gallus befand sich oft auf Reisen. Immens viel Platz für eine Person, während sich in der Subura die Bewohner stapelten. An diesem Tag wurde ihm bewusst, was für ein Luxus ihn umgab und mit welchem Glück ihn die Götter bedachten. Ohne dass er es wollte, gelangte mit dieser Erkenntnis eine Spur Zufriedenheit in die augenblickliche Trauer und machte sie erträglicher.

    Er versuchte, sich auf den Vogelgesang zu konzentrieren, aber sie zwitscherten scheinbar nicht so fröhlich wie vorher.

  • Eine weitere Nacht war vergangen und wieder saß ich im Garten und sonnte mich, ließ meine Gedanken schweifen, erinnerte mich. Zur Zeit war ich nicht gerne drinnen zu sehr fehlten mir die alten Wegefährten, ich suchte meinen einstigen stillen Winkel auf und erinnerte mich an meine Anfangszeit. An die Zeit wo ich in dem Versteck Corona von Christus erzählte, meinem Glauben, von dem niemand etwas wusste und auch nicht erfahren durfte. Ich war nicht so
    mutig in aller Öffentlichkeit dazu zu stehen. Dieser Glaube hatte mir aber bisher in allen Nöten und Gefahren geholfen.

    An meine Neugier, das Auspähen der Herrschaften, Morrigans heimliches treiben erinnerte ich mich lächelnd. An die strenge Mansuri, die immer ein Auge in der Culina auf mich hatte und mir manch einen Klapps auf die Finger gab. Doch am meisten vermisste ich meinen großen Freund Marco.

    Ich patschte mir auf die Oberschenkel und sprang auf. Es war Zeit mir die Stadt an zu sehen, zu schauen was sich verändert hatte.

  • Sie hielten einander zwar an der Hand, als sie aus dem Gartenzimmer traten, aber selbstverständlich führte die ortskundige Sisenna die deutlich ältere Sabina, denn aus dem Alter, wo sie selbst geführt wurde, war sie längst heraus. Zumindest war das ihre Sicht der Dinge. Außerdem musste sie Sabina beschützen, wenn der Wolf kam.

    "Ulf heißt unser Wolf. Ich denke, er weiß, dass er so heißt, aber er hört nicht." Sie blickte nach unten, um bei den beiden Stufen, die in den Garten führten, nicht zu stolpern. Als sie ebenerdig weitergehen konnten, blickte sie auf. "Der Onkel liebt jeden Busch, jede Blume und jeden Halm. Wir haben bestimmt mehr Gärtner als Küchensklaven. Ach, und eins musst du noch wissen." Sie hob den Zeigefinger. "Vögel sind die wichtigsten Bewohner hier draußen, abgesehen von Ulf."

    Sisenna schlenderte den Weg entlang, ohne gezielt nach Ulf zu suchen, weil sie wusste, der Wolf würde sie finden, falls er das wollte. Wenn nicht, dann konnte ihn niemand aufspüren. Sisenna wies in eine Allee, die sie beabsichtigte, zu durchwandern.

    "Wenn er sich zeigt, dann laufen wir entweder ganz langsam weiter oder bleiben stehen. Auf keinen Fall darfst du weglaufen, denn dann jagt er dich."

    Wie nebenbei schaute Sisenna rechts und links des Weges in die Tiefe des Gartens, der weit mehr als eine Parkanlage war und die Bezeichnung Garten nicht verdiente. Teile der Anlage wurden nach der römischen Gartenbauarchitektur streng linear ausgerichtet, aber ein nicht unerheblicher Teil wies einen natürlichen Schwung sowohl bei den Anpflanzungen als auch den Wegen auf. Sisenna strebte diesem Teil zu, denn der Wolf mochte es ursprünglich.

    "Der Onkel will, dass ich tugendhaft bin. Wie kann dann ein Philosoph denken, Mädchen können das nicht." Sie hatte zwar Sabinas Aussage in der Villa gehört, aber bisher nicht verstanden.

  • Für Sabina war es ganz klar, wer wen führte, nämlich Sisenna sie, und sie biss sich auf die Unterlippe, während sie neben der kleinen Claudia herging:

    "Euer Hortus ist schön; man denkt gar nicht, dass man noch in Rom ist." Sie dämpfte unwillkürlich die Stimme, als könne gleich irgendwo der Wolf, Ulf hieß er also, hervorbrechen. Vögel gab es wirklich viele; und einige hatten sich schon zu Pärchen gefunden. Ob es der unbekannte Onkel war, der die Vögel zu den wichtigsten Bewohnern des Gartens erklärt hatte? Sabinas Mutter hatte einen Pfau gehalten, aber nicht weil sie Tiere sonderlich gerne hatte, sondern weil sie alles besitzen wollte, was erlesen und teuer war. Ach ja.

    "Er jagt ? Äh, in Ordnung: Nicht weglaufen. Wenn Ulf kommt, bleiben wir stehen.", sprach Sabina und schüttelte ein wenig Sisennas Hand. Die nächste Frage von Sisenna verblüffte sie wieder; das Mädchen war entschieden geistig weiter als ihre sechs oder sieben Jahre:

    "Tugend ist nicht gut übersetzt, glaube ich. Das klingt eher nach Sittsamkeit und dass man brav ist. Musonius schreibt auf Griechisch, und er schreibt arete. Das heißt Vortrefflichkeit und Tüchtigkeit. Jeder hat seinen Platz in der Welt, aber auch Mädchen können vortrefflich und tüchtig sein...", sie unterbrach sich und lauschte. Sie hatte sagen wollen, ...und Heldenhaftigkeit und Mut beweisen, doch mit der Aussicht, gleich einem jagdbereiten Wolf namens Ulf gegenüberzustehen, fühlte sie weder das eine noch das andere.

  • Obwohl Menecrates seinen umfangreichen und verantwortungsvollen Dienst gern verrichtete, freute er sich auf den Feierabend, weil dieser Entspannung vom anstrengenden Tagesgeschäft versprach. Zwar traf das nicht auf jeden der Abende zu, aber auf die meisten. Einzelne Tage fielen besonders aus der Reihe, wozu der heutige zählte. Dazu gehörte nicht die Tatsache, dass der Hausherr unmittelbar nach seinem Eintreffen über die Anreise eines Familienmitgliedes informiert wurde, sondern die Mitteilung, dass sich die junge Claudia in Begleitung der vorwitzigen Sisenna im Garten aufhielt. Der Hausherr seufzte, bevor er sich ohne Aufenthalt Richtung Garten begab. Er hätte liebend gern die Toga abgelegt, aber den Zeitverzug wollte er nicht riskieren, weil nicht einmal er einzuschätzen wusste, wie der Wolf reagierte, wenn er Fremde sah.

    Er ließ sich die Richtung weisen, in der das ungleiche Paar die Exkursion durch die Anlage begonnen hatte und wenig später den Blicken der Angestellten entschwand, dann winkte er seinen Leibwächter heran und schickte eine junge Sklavin, die in der Regel das Füttern übernahm, halbrechts auf einen Parallelweg. Der Wolf wurde nicht täglich gefüttert, sondern - wie das für seine Art unabdingbar war - nur an jedem zweiten Tag und dann in Übermengen. Eine regelmäßige Fütterung, wie die von Hunden, vertrug ein Wolf nicht.

    Menecrates nahm den Hauptweg und trennte sich von Marco am nächsten Abzweig. Der gefächerte Suchtrupp sollte die Chancen des Auffindens erhöhen. Der Claudier versuchte, sich in die kleine Sisenna hineinzuversetzen, was ihm regelmäßig misslang, wenn es um Mädchenthemen ging, aber in Bezug auf Taktik lag die Kleine oft nicht schlecht, was an ihrem wachen Geist liegen mochte. Demzufolge betrat Menecrates den Teil der Parkanlage, die ursprünglich angelegt wurde, um dem Wildtier ausreichend Versteckplätze zu bieten. Allerdings erwies sich die Kombination 'Toga und Wildwuchs' als wenig ratsam. Menecrates unterdrückte diverse Flüche und die Götter belohnten ihn dafür mit der Sichtung eines Farbkleckses, der nicht zur natürlichen Umgebung gehörte. Sein Blick haftete auf dem Stoff, der soeben von einem Windhauch erfasst und etwas angehoben wurde, als er auch freie Sicht auf die gesamte Gestalt erhielt. Sisenna wirkte klein neben ihr.

    "Kehrt Marsch und vor mir antreten!"

  • Claudia Sabina war verstummt und lauschte, weil sie von ganz nah ein Geräusch gehört hatte. Ihr weißes Gewand umgab ihre hohe Gestalt; und da sie in Begleitung der jungen Sisenna war, zog sie die Schultern nicht ein, was sie in Gesellschaft so oft tat, um von ihrer Größe abzulenken.
    Ihr Erstaunen dauerte genau einen Moment an, als anstatt eines Wolfes ein Mann in Toga durch die Büsche brach.

    Dann erfasste sie die Situation: Man hatte nach ihr gesucht. Das sie wirklich in Gefahr gewesen sein konnte, kam ihr allerdings nicht in den Sinn.
    Claudia Sabina ließ Claudia Sisennas kleine Hand nicht los. Etwas wie ein militärischer Befehl erklang. Kehrt marsch? Sie blieb stehen und wandte sich um. Antreten?
    Sie trat also an: „Salve“, grüßte sie, obwohl ihr ihr Herz bis zum Halse klopfte: „Ich nehme an, dass du mein Onkel Claudius Menecrates bist. Ich freue mich sehr, deine Bekanntschaft zu machen. Dein Garten ist ausnehmend schön, beinahe wie ein wildes Wäldchen; Sisi war so liebenswürdig, mich etwas herumzuführen, äh… auf meinen ausdrücklichen Wunsch natürlich. Ich bin Claudia Sabina.“
    Das war nicht exakt die richtige inhaltliche Reihenfolge einer Vorstellung, doch Sabina hielt es für besser, erst einmal eine entspannte Atmosphäre zu schaffen.
    Der Claudius war ein würdevoller, älterer Herr mit grauem Haar und grünen Augen, aber ein wenig wirkte er gerade wie ein ungnädiger Gott, etwas bewölkt, fand sie.

  • Geräusche schreckten Sisenna nicht, daher erstarrte sie erst zur Salzsäule, als sie die Worte des alten Claudiers vernahm. "Oh, oh." Ihre Brauen zogen höher als sonst den Bogen und die Weite der Augen konnte kaum größer sein. "Das ist der Onkel und er meint es ernst." Obwohl sie es zu Sabina sagte, galt die Erkenntnis in erster Linie ihr, denn die Tonlage ließ keinen Zweifel daran, dass weder Ausflüchte noch ein Überspielen die Lage retteten. Reue fand sie angebracht.

    Sie wäre ohnehin nicht weggelaufen, aber Sabinas Griff vernichtete diese Option. Zuerst zögerte sie, aber dann drehte sich artig um und tat, wie ihr geheißen: Sie trat samt neuem Familienmitglied an.

    Die ansonsten wortgewandte Sisenna schwieg, als Sabina das Zepter in die Hand nahm, grüßte und in die Konversation ging. Dafür sprach ihr Blick Bände, denn sie schlug die Augen nicht nieder. Bisher hatte das immer gewirkt.

    Als sie jedoch hörte, wie Sabina die Verantwortung für den Gartenspaziergang übernahm, wandte sie den Blick vom Onkel zu jungen Frau, öffnete den Mund und schüttelte gleichzeitig den Kopf.

    "Das ist sehr lieb von dir, Sabina, aber der Onkel wird nachfragen und ich darf nicht lügen." Sie hob die Schultern und begann ihrerseits mit der Erklärung, bevor der Onkel auf Sabinas Aussage reagieren konnte.

    "Ich habe mich um Sabina gekümmert, so wie du es mich gelehrt hast. Gäste und Besucher sollen empfangen und umsorgt werden."

  • Froh darüber, keinen Schritt weiterlaufen zu müssen, erwartete der Claudier das ungleiche Gespann. Er legte sich Worte der Rüge für Sisenna zurecht, aber es kam anders, denn Sabina fand eine Menge Worte nach ihrem Gruß, den er nicht einmal erwidern konnte, weil ihn der Inhalt ihrer Aussage beschäftigte.

    "Also, nur dieser Teil ist wild", erklärte er und hob die Hände, als wäre es undenkbar, das gesamte Anwesen derart gestaltet Besuchern zu präsentieren. "Selbstverständlich existiert auch ein linear angelegter repräsentativer Garten innerhalb der Anlage mit Statuen, Lauben, Alleen, Wasserläufen und Wasserbecken." Menecrates befand sich in seinem Element, merkte aber zeitnah, dass er nicht einmal den Gruß erwidert hatte.

    "Ich grüße dich Sabina und heiße dich herzlich willkommen!" Er lächelte, was er vor Momenten nicht für möglich gehalten hätte, bevor er sich - wieder ernst - Sisenna zuwandte, die sich in das Gespräch der Erwachsenen mischte.

    "Kleines Fräulein, wann dürfen Kinder reden?" Er blickte streng. Er musste streng blicken, um ernst genommen zu werden, was er bei Sisenna oft anzweifelte. Das Kind teste beständig seine Grenzen aus.

    "Empfangen und umsorgen sieht bei mir anders aus und ich bin ganz sicher, dass ich meine Vorstellung immer verständlich kommuniziert habe. Du weißt außerdem, dass Ulf frei läuft." Er bemühte sich, noch eine Spur strenger zu blicken, bevor er sich wieder an Sabina wandte.

    "Claudia Sabina", wiederholte er und überlegte, weil er sich nicht auf die Begegnung vorbereiten konnte und demnach nicht auf Anhieb wusste, wie er mit Sabina verwandt war. Wäre sie in der Villa Claudia aufgewachsen, wüsste er es. "Wie geht es deinen Eltern?"

    Er wandte sich um, denn er wollte zur Villa zurück. Dabei setzte er voraus, dass es ihm die beiden gleich taten.

  • „Ich wollte nicht sagen, dass der Garten nicht repräsentativ ist. Im Gegenteil, er ist wirklich…. äh numinos. Doch ich habe bisher nur den wilden Teil gesehen, in dem der Wolf….“, sie brach ab. Denn nun war ihren Worten zu entnehmen, dass beide Claudias Ulf nicht nur vergessen, sondern sehr aktiv nach ihm gespürt hatten.

    Und Claudia Sabina war sich jetzt ganz und gar sicher, dass es zu den Hausregeln gehörte, das tunlichst zu unterlassen. In diesem Moment fühlte sie sich so sehr auf der Kinderseite der Familie, dass sie sich ebenso angesprochen fühlte, als Menecrates zu Sisenna sagte, dass sie sich in die Gespräche von Erwachsenen nicht einzumischen hatte. Sabina hatte vorgehabt, sich dem Verwandten als formvollendete junge Patrizierin im Kreise ihrer Dienerinnen und ihres Hauslehrers (Wo steckte Agamedes eigentlich?) zu präsentieren. Stattdessen...nun ja:
    „Ich danke dir für das herzliche Willkommen, Onkel. Es tut mir Leid, Sisenna darum gebeten zu haben, etwas zu tun, was du nicht billigst.“


    Aber nun wechselte der Vormund das Thema und fragte nach den Eltern:
    „Ich weiß nicht, ob du dich noch an meinen Vater Tiberius Severus erinnerst. Ich tu es kaum, er ist schon lange tot, und so viel Zeit hatte er ja nie. Cloelia, meiner Mutter geht es gut. Sie hatte gleich nach Ablauf der Trauerzeit wieder geheiratet, einen Ritter namens Haterius. Ich habe auch zwei kleine Halbbrüder. Mamma hat mir einen Brief für Dich mitgegeben, da steht dann alles drin, was sie dir sagen möchte.“
    Claudia Sabina sah etwas unglücklich dabei aus, doch sie war viel zu wohlerzogene Tochter, um den Brief von Cloelia Minor einfach zu unterschlagen.
    Da sie ohnehin neben ihm und der kleinen Claudia Sisenna zurück ins Haus ging, sagte sie: „Ich kann ihn ja gleich holen gehen, wenn du möchtest.“

  • Sisenna presste die Lippen aufeinander und sparte sich die Antwort auf die Frage, wann Kinder reden dürfen, weil sie glaubte, der Onkel erwartete sie auch nicht. Er wollte sie nur an eine Regel erinnern. Sie nickte artig, als der Hinweis auf weitere Regeln kam, weil sie instinktiv spürte, dass jetzt nicht der Zeitpunkt war, um Widerworte zu finden. Stattdessen blickte sie weiter reumütig, bis der Onkel seine Aufmerksamkeit Sabina schenkte. Erleichtert atmete sie auf und änderte den Blick. Nun konnte sie entspannt der Unterhaltung lauschen. Bisher kannte sie die Geschichte von Sabinas Eltern noch nicht und fragte sich, wie es wohl war, wenn der eine Vater dem anderen auf dem Fuß folgte. Als Sabina kleine Halbbrüder erwähnte, verzog Sisenna den Mund. Hier Krebste niemand Kleineres als sie herum, was sie gut fand. Kleine Konkurrenz verdarb die Möglichkeiten, sich als Nesthäkchen viel erlauben zu können.

    "Oh", rutschte Sisenna heraus, als die Rede auf einen Brief kam, der ihre Neugier entfachte. Sie schlug die Hand vor den Mund, zog den Kopf zwischen die Schultern und machte sie so unscheinbar wie möglich. Sie wollte nicht wieder die Aufmerksamkeit des Onkels auf sich liegen haben, was aber schon alleine deswegen passieren würde, wenn Sabina sie losließ und den Brief holte.

    "Mir ist kalt", jammerte sie, damit sie alle in die Villa gingen und sie eine Chance bekam, sich zu verkrümeln.

  • "So, so", entgegnete Menecrates auf Sabinas Erklärung, blickte streng, aber amüsierte sich gleichzeitig über die aufkommende Unsicherheit der jungen Frau. Nach der Entschuldigung konnte er nicht länger böse sein, denn Sabina traf noch nicht einmal Schuld, obwohl sie sich bemühte, dies glaubhaft zu behaupten. Ein Lächeln schummelte sich auf seine Lippen, die an den Enden - kaum merklich - einem Schwung nach oben bekamen. Nach seiner Ansicht reduzierten sich spätere Probleme, wenn bleibende Familienmitglieder mit einer gehörigen Spur an Respekt in die Wohngemeinschaft starteten. Der Grundstein diesbezüglich war gelegt, also lockerte sich der alte Claudier, während er Richtung Villa schritt und Sabinas Erklärung lauschte.


    "Tiberius Severus", wiederholte er, dabei kam ihm in den Sinn, dass er Onkel Myrtilus nicht sonderlich gut leiden mochte, was aber wohl daran lag, dass der Onkel scheinbar nie jung gewesen und demzufolge ausschließlich Spaßverderber war. "Mit meinem Cousin habe ich mich immer gut verstanden", entgegnete er, ohne zu bemerken, dass Sabina die Gedankenverknüpfung nicht kannte und demzufolge die Aussage komisch klingen musste. Vielleicht aber auch nicht.

    Dass Sabinas Mutter anschließend einen Ritter ehelichte, wäre in Menecrates' Familie unmöglich gewesen. In der Claudia heirateten alle standesgemäß.

    "Wie gut, dass du jetzt hier bist", rutschte ihm daher heraus. "Eine Claudia ist immer etwas Besonderes..." ...und gehörte in eine passende Obhut, fügte er in Gedanken an. Er warf einen Seitenblick auf Sisenna, um zu überprüfen, wie seine Aussage bei ihr ankam. Er wollte keinesfalls dem ohnehin großen Selbstbewusstsein des Mädchens weiteren Aufschwung verleihen.

    Die Gruppe gelangen zum Durchgang ins Peristylium und Menecrates strebte einer Sitzecke zu.

    "Ich möchte mir gern den Brief deiner Mutter durchlesen", erwiderte er, während er sich in einem Korbsessel niederließ. "Ich warte hier auf dich, und du Sisenna", sein Blick änderte sich von freundlich zu streng, "gehst auf dein Zimmer und denkst darüber nach, was du heute alles falsch gemacht hast."

  • Menecrates schickte Sisenna zum Nachdenken auf ihr Zimmer, und auch wenn Sabina das Leid tat, hätte sie doch nie dagegen protestiert: Eine Entscheidung des Pater Familias war Gesetz in seinem Haus. Sie konnte der kleinen Verwandten nur einen liebevollen Blick zuwerfen, der bedeutete: Wir sehen uns später ja noch hoffentlich öfter.

    Dennoch hatte sie das Gefühl, ein gutes Wort für Sisenna einlegen zu müssen, zumal Onkel Menecrates nicht mehr ganz so bewölkt wirkte:
    „Sisi ist außergewöhnlich.“, sagte sie: „Sehr weit für ihr Alter. Wir waren gerade dabei, den Begriff der Tugend, also der Arete oder Virtus zu klären – ich glaube, ich hätte mit sechs Jahren da gar nicht nachgefragt.“


    Menecrates nahm in einem Korbsessel Platz und sagte ihr, er würde auf sie warten. „Ich komme gleich wieder.“, sagte Sabina und eilte so rasch davon, dass ihr schwerer Zopf in ihrem Rücken hin- und her pendelte.
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