Der Soldat erhob sich seufzend, griff nach einer neuen Tabula und kam zu ihm herüber. Tariq hatte den Beutel mit seinen spärlichen Besitztümern auf den Boden gestellt und versuchte, zu erkennen, was sein Gegenüber da schrieb. Da seine Lesefähigkeiten aber nicht so ausgeprägt waren, wie sie Soufians Meinung zufolge sein könnten, war es ein eher vergebliches Unterfangen, zumal die Buchstaben auf dem Kopf standen.
Dann stellte der Mann eine Reihe von Fragen und Tariq musste erst einmal schlucken. Er wollte die Namen seiner Eltern wissen? Tariq hatte seine Eltern bereits in einem Alter verloren, in dem Erinnerungen nicht haften bleiben – und er hatte niemanden gehabt, der ihm von ihnen hätte erzählen können oder wollen. Durok hatte die sehr klare Linie vertreten, dass sich kein Mensch für seine Vergangenheit oder die der anderen Jungen interessierte. Also kannte er die Namen schlicht und ergreifend nicht. Natürlich war ihm klar, dass er dem Soldaten seine wahre Lebensgeschichte kaum erzählen konnte.
„Ich bin 16 Jahre und stamme aus Caesarea in Kappadokien“, beantwortete er deshalb erst einmal den einfachen Teil. Gut, er wusste nicht genau, ob er wirklich exakt 16 Jahre war, vielleicht war er auch 17 Jahre oder ein paar Monate jünger, aber so grob kam es schon hin. Das ausgemergelte Straßenkind seiner frühen Tage hatte sich in den letzten Jahren, in denen er immer genug zu essen gehabt hatte, zum Glück verflüchtigt. „Ich bin ein freier Mann.“ Darauf war er tatsächlich stolz, denn seine Freiheit war so ziemlich das Einzige, das er immer besessen hatte. Es hatte sich zugegebenermaßen nicht immer so angefühlt und er hatte mit Sicherheit oft schlechter gelebt als mancher Sklave, aber er hatte nie jemand anderem gehört als sich selbst.
Jetzt … die Eltern. Tariq war schon drauf und dran, sich Namen einfach auszudenken, denn es war äußerst unwahrscheinlich, dass irgendjemand nach Kappadokien gehen und das nachprüfen würde. Andererseits: Was, wenn jemand irgendwann Hadamar fragte und der dann nichtsahnend die Wahrheit sagte? Wenn Tariq hier und heute aufgenommen wurde, kam er erst mal nicht raus … er wusste einfach nicht, wann er Hadamar das nächste Mal sehen würde. Und er wollte auf keinen Fall, dass irgendeine (Not-)Lüge, die er hier zum besten gab, negativ auf Hadamar oder seine Familie zurückfallen würde. „Ich bin Waise, die Namen meiner Eltern wurden mir nie genannt. Aber ich bin gesund, kann reiten, mit Pferden umgehen und spreche etwas Germanisch.“ Er kam in den meisten Alltagsthemen ganz gut über die Runden, solange es nicht zu kompliziert wurde. „Ein römischer Centurio, der bei der XV.ten in Satala stationiert war, hat sich meiner angenommen und es mir beigebracht“, fühlte er sich bemüßigt zu erklären. „Seine Familie stammt aus Mogontiacum und er hat mich nach seiner Versetzung mit hierher genommen.“ Das erklärte dann hoffentlich auch, warum er hier war.