Ein kleines Landgut in den Albaner Bergen

  • Gab sie ihm recht? Wollte sie Neutralität wahren? Seneca wusste nicht so recht damit umzugehen, immerhin stand Seiana ihrem Bruder sehr nahe, und nun war er ihr Verlobter, was sicherlich in dieser Situation nicht leicht für sie wahr. Er entschloss sich nicht weiter darauf einzugehen, ihr Bruder mochte ihn nicht wirklich, und in diesem Moment konnte er nichts daran ändern, sodass er sich ein kurzes Lächeln abrang und über ihre Hand strich, bevor sie ihm anbot sich zu öffnen. Zunächst blockte Seneca innerlich alles ab, der Krieg, die innere Zerrissenheit, das alles. Aber er hatte es so lange in sich hinein gefressen, wenn er einsam war kamen oft Erinnerungen hoch, und es belastete ihn mit niemanden darüber sprechen zu können, besonders nicht mit seinen Kameraden von der Prima, den ehemaligen Feinden, weshalb er kurz schlucken musste.
    Er ließ das Wasser in seinem Becher kreisen und starrte in eben jenen Strudel bevor er langsam die Stimme erhob..
    "Es ist nicht leicht zu töten weißt du. All die Ehre und der Ruhm spielen nur solange eine Rolle bis du das Schwert im Hals eines halbstarken in römischer Rüstung siehst." befand er für sich und fuhr dann fort, "Als Soldat, auch als Prätorianer, suchte ich immer eine Rechtfertigung, einen Sinn und Zweck dahinter. Aber in diesem Krieg... Da war nichts." er stellte den Becher ab und blickte sie nun wieder an, seine Augen waren erfüllt von den Schwierigkeiten die ihm der Gedanke an den Krieg noch immer machte..
    "Viele in der Truppe wussten dass Salinator ein Tyrann war. Er hat meiner Familie geschadet, er war Rücksichtslos, aber ich war Gardist. Gehorsam stand über allem. Dann im Krieg sah ich meine halbe Centurie fallen. Männer mit Geschichten, Männer die ich ewig kannte, und ich konnte es mit nichts rechtfertigen. Vom Kommando waren wir früh abgeschnitten.."..natürlich erwähnte er in diesem Kontext nicht den Decimus welcher sehr früh vom Pferd geholt wurde..
    "Wir waren auf den Mauern von Vicetia eingekeilt zwischen feindlichen Einheiten und merkten erst später dass keine Reserve mehr kam weil diese schon in der Auflösung war. Warum hätte ich meine Männer also für nichts, und ohne Aussicht auf Erfolg in den sicheren Tod schicken sollen?" fragte der Iunier nun und konnte sich gerade noch davor retten dass sich seine Augen bis oben hin mit Tränen füllten..
    "Ich.. Es tut mir leid. Ich weiß wie du im Bürgerkrieg gelitten hast, und wollte dich nicht mit jedem Detail belasten. Jedoch war das sehr lange in mir." er strich ihr erneut über die Hand, und lächelte kurz, einfach weil er froh nun mit jemanden über alles reden zu können.
    Bei ihren folgenden Worten erhellte sich sein Gemüt jedoch wieder deutlich. Sie wollte also mit ihm nach Mantua, komme was wolle, eine sehr gute Nachricht.
    "Wir werden uns ein wunderschönes Haus in Mantua suchen." sagte er nun wieder etwas beschwingter, "Es gibt wirklich großartige Anwesen dort. Vielleicht in der Nähe des Kastells, ein wenig außerhalb, das Leben auf dem Land tut dir ja offensichtlich gut."
    Dann sprach Seiana einen der großen Unsicherheiten an, Silana, über welche er sich in rechtlicher wie gesellschaftlicher noch wenig Gedanken gemacht hatte. Aber Seianas Vorschlag klang vernünftig, auch wenn er sich noch nicht so recht damit abfinden konnte sie nicht als echte Iunia präsentieren zu können, aber auch das war Zweitrangig im Vergleich dazu sie aufwachsen sehen zu können, sodass er erstmal einwilligen würde..
    "Es gibt glaube ich nur wenige Lösungen für dieses Problem. Und ich denke diese ist die beste. Ich möchte sie einfach nur aufwachsen sehen." versicherte der Tribun lächelnd und aß dann etwas Obst, "Eigentlich schade dass es keine passende Einheit in Tarraco gibt. Ich würde ihr gerne das bieten was Tarraco uns immerzu geboten hat." sagte er und erinnerte sich an seine Jugend, die sicherlich ähnliche Erfahrungen beinhaltete wie die seiner Verlobten.

  • Zu der Sache mit ihrem Bruder sagte er nichts weiter, aber es gab auch nicht mehr wirklich viel, was er oder sie hätten sagen können. Sie mussten erst mal mit ihren Familien reden... danach würden sie weiter sehen können.
    Und auch auf ihre Worte, dass er mit ihr reden könne, über Probleme, über was auch immer, ging er zunächst nicht ein, so dass Seiana annahm, dass er nicht darüber reden wollte. Was völlig in Ordnung war, auch sie hatte Dinge, die sie nicht unbedingt teilen wollte, auch mit ihm nicht. Dann allerdings fing er doch an zu reden, und er nahm ihr Angebot nicht einfach nur an, sondern sprach jetzt darüber. Umriss, wenn auch sicherlich nur sehr grob, was ihn umtrieb.
    „Seneca“, wisperte sie betroffen. „Es tut mir so leid...“ Sie wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. Bei solchen Schilderungen, jedenfalls wenn sie von jemandem kamen, der ihr nahe stand, fühlte sie sich immer hilflos... Vermutlich gab es keine Worte, die ihm hätten helfen können, aber sie war es nicht gewohnt, so gar keine zu finden, und sie mochte das Gefühl nicht. Trotzdem schwieg sie lieber, als einfach irgendetwas zu sagen, irgendwelche Floskeln, die auch nicht helfen würden. Stattdessen griff sie nach seiner Hand und drückte leicht zu, versuchte, wenn ihr schon nicht die rechten Worte einfallen wollten, ihm wenigstens zu zeigen dass sie da war. Ihm zu vermitteln, dass er auf sie zählen konnte. „Nein. Dir muss nicht leid tun, wenn du über so etwas reden willst. Nie“, versicherte sie ihm, hob seine Hand kurz an und küsste seine Finger leicht.


    Als sie dann weiter über die Zukunft sprachen, schien Seneca wieder aufgemuntert, und sie freute sich darüber. „Ja, auf dem Land ist es schön. Andererseits hast du ja selbst gesagt, dass Mantua nichts ist im Vergleich zu Rom, insofern... muss es auch nicht ganz so weit abseits liegen.“ Sie schmunzelte leicht, was ihr aber wieder verging, als es um das Kind ging... war dann aber sowohl überrascht wie erleichtert, dass Seneca ihrem Vorschlag einfach zustimmte. Sie hatte damit gerechnet, dass es wenigstens eine Diskussion geben würde, aber... nun ja. Vielleicht, nein, vermutlich sogar hatte er sich ebenso seine Gedanken gemacht. „In Hispania lässt sich sicher eine passende Einheit finden“, erwiderte sie. „Die Frage ist, ob du dorthin versetzt werden würdest. Aber ich denke sowieso, dass es egal ist, wo sie aufwächst, so lange sie alles bekommt, was sie braucht.“

  • "Ich danke dir Seiana." sagte er ein wenig lächelnd als sie seine Hände küsste. Es tat gut dass sie da war, und es tat gut zu wissen dass sie ihm zuhörte, auch wenn sie vermutlich niemals die wahren Ausmaße eines solchen Krieges nachvollziehen konnte, worum Seneca auch mehr als froh war..
    "Ich bin froh dich an meiner Seite zu wissen, und umgekehrt sollst du auch zu mir kommen wenn du über irgendwas sprechen möchtest, ich werde immer ein offenes Ohr für dich haben." sagte er nun seinerseits und strich über ihre Finger. Seine Karriere hatte eine andere Ebene erreicht und vermutlich würde er als Tribun nur noch selten Hand an ein Gladius legen müssen, aber die Erinnerungen dieser Kämpfe hatte sich trotzdem fest in sein Gedächtnis gebrannt.
    Dann kamen die Beiden wieder auf ihre Zukunft und Mantua zu sprechen, ein Thema dass ihm wesentlich die Laune hob, auch wenn er selbst nicht unbedingt gerne in Mantua lebte, aber mit Silana und Seiana würde sich das sicher ändern...
    "Du hast recht, Mantua hat schon ein sehr provinzielles Lebensgefühl, vielleicht gefällt es dir dort sogar richtig gut." entgegnete er seiner Liebe und freute sich dann über ihre Worte zu Silana.
    Er verbrachte das restliche Frühstück damit ihr Mantua zu beschreiben, die kleinen Märkte, die paar kleinen Lokale die es gab, aber auch die Landschaft mit ihren vielen Flüssen und den Bergen direkt in der Nähe. Und während er ihr von Mantua erzählte, fiel ihm auf dass er die Stadt besser kannte als er eigentlich dachte, vielleicht würde es doch der Ort sein an dem sie eine glückliche Zukunft vor sich hätten. Natürlich kannte er die weitere Fügung des Schicksals zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Aber wie hieß es in Britannien?
    Home is where your heart is, und für ihn bedeutete es dass er dort Zuhause sein würde, wo Seiana und Silana waren.

  • Seiana saß draußen, genoss die Abendluft und die Wärme. Hier, im Hortus hinter dem Landhäuschen, an einem schattigen Plätzchen ziemlich in der Nähe der rückwärtigen Tür, war es sehr gut auszuhalten, zumal es etwas frischer wurde, je mehr sich die Sonne dem Horizont näherte. Aber es war so oder so weit angenehmer hier, als es in Rom gewesen war, wie sie in den vergangenen Wochen festgestellt hatte. In der Stadt war es zu dieser Jahreszeit manchmal schwer auszuhalten.
    Sie hatte eigentlich noch etwas zu tun. Die Hochzeit selbst, die morgen stattfinden würde – was sie immer noch nicht so recht glauben konnte –, war vorbereitet, darüber machte sie sich keine Gedanken, jedenfalls nicht was die Organisation betraf. Allerdings stand für sie noch das Opfer aus und ihre eigene Vorbereitung, und obwohl Seneca und sie bei der Planung der Feier bewusst die eine oder andere Tradition außer Acht gelassen hatten, war das Opfer der Braut am Vorabend doch eines, auf das Seiana nicht verzichten wollte. Sie wollte, dass diese Ehe gut wurde. Glücklich. Schon allein um seinetwillen, aber auch, weil sie es für sich selbst wollte. Und so wenig sie es nach wie vor glauben konnte, dass sie Seneca tatsächlich heiraten würde, dass sie zusammen sein konnten... so sehr ein Teil von ihr überzeugt war, dass sie ihn eigentlich gar nicht verdiente – es würde doch passieren. Morgen. Sie würde seine Frau werden. Und sie beide hatten nach allem ein bisschen Glück verdient.
    Also würde sie das Opfer durchführen, und sie hatte es penibel – und eigenhändig – vorbereitet. Sie wollte, dass nichts schief ging. Sie wollte, dass die Götter Seneca und ihr gewogen waren. Und so hatte sie auch lange darüber nachgedacht, was sie opfern sollte. Sie war schon mal verheiratet gewesen, und davon abgesehen war sie zu alt, um noch irgendwelche Kindersachen zu haben. Sicher hätte sie einfach irgendwelche alten Sachen nehmen können... es ging ja darum, mit dem früheren Leben abzuschließen. Allerdings hatte sie sich für etwas anderes entschieden. Do, ut des – ich gebe, damit du gibst. Sie wollte, dass die Götter ihnen und ihrer Ehe gewogen waren, und sie wünschte sich das so sehr, dass sie sich nicht nur von etwas aus ihrem alten Leben trennen musste, sondern von etwas, was ihr entsprechend viel bedeutete. Und sie hatte nicht lange überlegen müssen dafür. In ihren Händen hielt sie die Notiz, die erste, die Seneca ihr damals hatte zukommen lassen, nachdem sie sich verliebt hatten. Die anderen hatte sie vernichtet, aber diese eine hatte sie aufgehoben, all die Jahre lang. Versonnen starrte sie darauf. Eigentlich wollte sie das Stück Papyrus nach wie vor nicht vernichten. Es war ein Symbol, für das, was Seneca und sie verband, für das was sie durchgemacht hatten, für ihre Liebe und deren Anfang. Aber gleichzeitig war es auch ein Symbol für das Versteckspiel, das sie hatten machen müssen. Für all das, was falsch gewesen war. Gerade deshalb war das hier wohl das Beste, was sie opfern konnte. Es verband die beiden Aspekte, die am wichtigsten waren: es gab nur wenig, was von höherer Bedeutung für sie gewesen wäre... und es war ein Zeichen aus ihrem alten Leben, mit dem sie abschloss. Abschließen konnte, endlich, jedenfalls was die Heimlichkeiten anging.

  • Sibel hatte eindeutig recht: Ein kleiner Spaziergang würde ihnen gut tun, stellte auch Avianus jetzt fest, als er nach draußen trat. An die frische Luft in den Albaner Bergen könnte er sich gewöhnen, auch an den Ausblick und die Stille. Es hatte etwas Beruhigendes, und auch das Wissen, dass da kein Schreibtisch in der Nähe war, auf dem sich die Arbeit stapelte. Alles zusammen würde er nachher in vollen Zügen genießen, wenn Sibel für den Spaziergang zu ihm nach unten kam. Eigentlich war es das erste Mal heute, dass sie nicht an seiner Seite war und ein kleines bisschen dämmerte es ihm, vielleicht könnte sie etwas mehr Freiraum gebrauchen. Aber er wiederum sorgte sich, da er absolut keine Ahnung von Schwangeren und Kindern hatte, und war ruhiger, wenn er sie bei sich hatte. Dabei wusste er doch selbst, im Grunde war alles gut.


    Ein paar Schritte und tiefe Atemzüge später sah er leicht überrascht auf, da er die Person, die da ganz in der Nähe saß, bis jetzt gar nicht bemerkt hatte. Erst hatte er gar nicht vor, auf sich aufmerksam zu machen oder sie gar anzusprechen, bis er bemerkte, dass es die Zukünftige seines Vetters persönlich war, die da so gedankenverloren im Hortus saß.
    "Salve, Decima Seiana", grüßte er knapp, obwohl er gar nicht sicher war, ob sie ihn überhaupt bemerkt hatte, und fragte sich auch gleichzeitig, ob ein einfaches Seiana nicht gereicht hätte, wo sie ab morgen doch praktisch zur Familie gehören würde. Viel mehr wusste er dann auch nicht zu sagen, nach dem steifen Gespräch, das sie noch in Rom geführt hatten. Sie war eben anders, als die als alle anderen Frauen, die er kannte. So wie auch Sibel vollkommen anders war. Wenn er genauer darüber nachdachte, würde er vielleicht sogar so weit gehen zu sagen, dass die beiden Frauen absolut gegensätzlich waren. Und das, obwohl er und Seneca sich in vielem ähnlich waren, wie er des Öfteren festgestellt hatte. Das musste er Seneca lassen, er hatte sich eine ganz besondere Dame ausgesucht, die dennoch perfekt zu ihm passte, so schien es.
    Er lächelte freundlich. Und? Was sagte man nun zu einer Frau, die in ein paar Stunden heiraten würde, und auf ein Papyruszettelchen starrend im Garten saß?
    "Soweit alles in Ordnung? Du weißt ja ... noch könntest du fliehen."

  • Seiana war so versunken in die Notiz und vor allem die Gedanken daran, was sie bedeutete, und was es bedeutete endgültig Abschied davon zu nehmen, dass sie gar nicht bemerkte, wie jemand aus dem Haus trat. Als sie dann plötzlich eine Stimme hörte, zuckte sie flüchtig zusammen und sah überrascht, fast ein wenig erschrocken hoch – bis sie Avianus erkannte. Sie verzog ihre Mundwinkel zu einem Lächeln, bemüht, ein wenig herzlicher zu sein als üblicherweise, und erhob sich. „Salve“, grüßte sie zurück, und ließ den Namen weg... es wäre ihr seltsam vorgekommen, ihn einfach beim Cognomen zu nennen, weil sie ihn kaum kannte – zumal er ihren vollen Namen genutzt hatte. Aber ebenso wirkte es seltsam, so förmlich zu sein, angesichts der Hochzeit morgen, und angesichts der Tatsache, dass Seneca und sein Vetter sehr gut befreundet waren. Sie entschied sich daher dafür, ihm ihren Cognomen anzubieten – je nachdem wie er darauf reagierte, würde sie ja wissen, woran sie war. „Du kannst gerne Seiana sagen, wenn du willst. Du und“, sie wusste nicht so genau, was die junge Frau war, die Avianus mitgebracht hatte, also wählte sie eine neutrale Bezeichnung: „deine Begleiterin, habt ihr alles was ihr braucht? Benötigt ihr noch irgendetwas?“
    Dann musste sie auflachen, kurz, aber ehrlich, als er von flüchten sprach, und ein Schmunzeln blieb auf ihrem Gesicht. „Ah, nein, die Gelegenheit werde ich sicher nicht nutzen. Im Gegenteil, ich bin schon dabei, mich auf das Opfer vorzubereiten.“ Sie hob das Stück Papyrus hoch – und realisierte nur einen Moment später, wie dumm das wirken musste. Ein simples Stück Papyrus für ein Opfer. „Es... es bedeutet mehr als das, wonach es aussieht“, fügte sie ein wenig verlegen an, bevor sie auf die Sitzgruppe neben sich wies. „Möchtest du dich setzen?“

  • Setzen. Ein gutes Stichwort. Avianus hatte nichts dagegen, ihr ein wenig Gesellschaft zu leisten, solange Sibel nicht da war, und vielleicht ein paar Worte mit Seiana zu wechseln.
    "Wir sind gut versorgt, …" Lächelnd setzte er sich. "… Seiana", fügte er probehalber ihren Cognomen hinzu und nahm somit auch gleichzeitig ihr Angebot an. Es war ein wenig ungewohnt ihr so zu begegnen, fast schon freundschaftlich, erst recht nach ihrem zähen Gespräch damals in Rom, und gleichzeitig wäre es sehr viel seltsamer, sich ihr gegenüber distanziert zu verhalten, der baldigen Ehefrau seines Vetters und besten Freundes.
    Ein wenig neugierig betrachtete er nun das Zettelchen in ihrer Hand.
    "Davon gehe ich doch aus. Ein simples Stück Papyrus würde die Götter vermutlich nicht zufriedenstellen", sagte er schmunzelnd, meinte es aber durchaus ernst, und überließ es ihr, ihm mehr darüber zu erzählen oder eben nicht. Wenn es ihr wichtig genug war, dass sie es zu diesem Anlass den Göttern opfern wollte, ging es ihn womöglich gar nichts an, was es mit dem Zettelchen auf sich hatte.
    "Es freut mich Seneca so glücklich zu sehen. Ehrlich gesagt glaube ich, ihn noch nie glücklicher gesehen zu haben", sprach er stattdessen weiter und wollte noch auf etwas ganz Bestimmtes hinaus, eine Frage, die ihm schon länger durch den Kopf schwirrte, und die nur sie ihm beantworten konnte. "Aber … es gibt eine Frage, die sich mir schon länger stellt. Ich weiß, der Zeitpunkt ist ein wenig spät. Nur wollte ich sie nicht in Senecas Gegenwart stellen ... ich denke, es wäre ihm unangenehm gewesen ..." So langsam sollte er vielleicht auf den Punkt kommen.
    "Meine Cousine Axilla meinte einmal, du willst den Iunii schaden …", begann er also endlich, Klartext zu reden. Bestimmt wusste Seiana besser als er, dass Axilla nicht gut auf sie zu sprechen war, also hielt er sich damit nicht lange auf. "Für mich macht das natürlich absolut keinen Sinn, und ich gehe nicht davon aus, dass da etwas Wahres dran ist. Wahrscheinlich handelt es sich um ein Missverständnis. Und ich brauche auch gar nicht zu wissen, was alles zwischen euch vorgefallen ist, verstehen, wie es dazu kam, dass meine Cousine das glaubt, würde ich dennoch gerne. Und vielleicht, wenn ich zumindest ansatzweise verstehe, was los ist, kann ich dann helfen ... irgendwie. Wenn du etwas darüber sagen kannst und willst natürlich ..." Entschuldigend blickte er die Noch-Verlobte seines Vetters an, weil er ausgerechnet jetzt dieses Thema anschnitt, vorher hatte sich allerdings keine Möglichkeit geboten und nach der Hochzeit wäre reichlich spät, wenn sie sich dann überhaupt noch einmal unter vier Augen begegnen würden.

  • Er nahm ihr Angebot an, nachdem sie beide sich gesetzt hatten, machte ihr das gleiche aber nicht im Gegenzug. Seiana wusste nicht so recht, was sie davon halten sollte – ob er einfach nur nicht daran gedacht hatte, ob er es für selbstverständlich hielt, oder ob tatsächlich das dahinter steckte, was sie insgeheim fürchtete: dass er ihr die etwas vertrautere Anrede einfach nicht anbieten wollte. Aber warum hätte er sie dann Seiana nennen sollen?
    Nicht zum ersten Mal haderte sie damit, dass sie, sobald es ums Zwischenmenschliche ging, so unfähig war. Sie war eine Ritterin des Imperiums. Sie hatte jahrelang die Acta geleitet und die Schola. Sie hatte schon vor dem Senat gestanden, als eine von wenigen Frauen überhaupt, als einzige seit vielen Jahren, und natürlich war sie aufgeregt gewesen, aber das hatte ihr letztlich keine übermäßigen Probleme bereitet. Aber wenn es darum ging, sich auf ein Gespräch einzulassen, in dem es darum ging sich zu öffnen, einem anderen Menschen näher zu kommen...
    Sie bemühte sich um ein Lächeln, als Avianus auf das Stück Papyrus Bezug nahm. „Nun ja, ich bin zu alt, um noch irgendwelche Kindersachen zu haben, die ich opfern könnte, und außerdem war ich schon mal verheiratet. Ich musste also etwas anderes finden als Symbol.“


    Seneca sei glücklich, so wie nie zuvor, hörte Seiana dann, und erneut glitt ein Lächeln über ihr Gesicht, diesmal unwillkürlich und komplett ehrlich. Er war glücklich, mit ihr. Die Götter mochten wissen warum, aber sie konnte gar nicht ausdrücken, wie dankbar sie dafür war. Das Lächeln verging ihr allerdings schon im nächsten Moment wieder, als Avianus weiter sprach, und diesmal mit etwas aufwartete, was einen harten, kalten Klumpen in ihrem Magen entstehen ließ. Ein Teil von ihr ahnte schon, woher der Wind wehte, und der Name von Senecas Cousine bestätigte ihr Gefühl. Konnte diese Frau sie nicht einfach endlich in Ruhe lassen? Seiana konnte sich nicht erklären, woher dieser Hass auf sie kam. Sie hätte allen Grund gehabt, die Iunia zu hassen, und eine ganze Zeitlang hatte sie das auch getan, in jener Zeit, nachdem Aelius Archias sie – nach Jahren der Verlobung, in denen sie auf ihn gewartet hatte, wohl wissend, dass sie nicht jünger wurde – sitzen gelassen hatte. Wegen der Iunia. Und das auch nicht einfach so, sondern nachdem er sie monatelang mit ihr betrogen hatte, und nachdem er sie alle blamiert hatte, indem er bei der Hochzeit von Aurelius Ursus eine üble Szene gemacht hatte, weil er der Meinung gewesen war, dass die Iunia und Duccius Vala sich zu nahe standen. Sie hatte allen Grund gehabt, sowohl den Aelius als auch die Iunia zu hassen, und sie hatte mit beiden einfach nichts mehr zu tun haben wollen. Trotzdem hatte sich das im Lauf der Jahre gelegt, und das nicht einfach nur so, sondern weil Seiana aktiv daran gearbeitet hatte, weil sie über ihren eigenen Schatten gesprungen war, und das mehr als nur einmal. Sie hatte die Iunia von einer freien Mitarbeiterin für die Acta, die ab und zu einen Artikel geschrieben hatte, zur Subauctrix befördert. Sie war zwar auch danach kühl gewesen gegenüber dieser Frau, aber das war Seiana gegenüber jedem. Sie hatte nicht umsonst den Ruf eines unnahbaren Eisklotzes gehabt in der Acta, oder auch in der Schola. Wichtig war: sie hatte sich auch stets professionell und fair gegenüber allen verhalten, einschließlich der Iunia – hatte bei ihr sogar in gesondertem Maß darauf geachtet, damit nichts die berufliche Zusammenarbeit beeinflusste, und, ja, auch damit ihr keine Vorwürfe gemacht werden konnten. Und dann hat sie die Iunia sogar zur Lectrix befördert, den dritthöchsten Posten, den die Acta bieten gehabt hatte. Eine Zeitlang hatte sie danach geglaubt, dass sie die Vergangenheit tatsächlich einfach ruhen lassen könnten... die Iunia hatte ihr einen Sklaven aus der Erbschaft des Aeliers gebracht, und an jenem Tag hatten sie über ein paar Höflichkeiten oder Arbeitsrelevantes hinaus freundliche Worte miteinander gewechselt. Sie hatte sogar ihrem Bruder vorgeschlagen, diese Frau zu ehelichen.
    Ja, Seiana hatte tatsächlich geglaubt, die Vergangenheit sei damit abgeschlossen, selbst als ihr Bruder ihr Ansinnen abgelehnt hatte, unter anderem weil er herausgefunden hatte, dass die Iunia die Nichte einer Bordellbesitzerin war, bei der sie in Aegyptus gelebt hatte. Aber dann hatte Seneca seiner Cousine von Seiana erzählt – und die Iunia war wie eine Furie auf sie losgegangen. Hatte ihr vorgeworfen, zig Affären zu haben, hatte ihr vorgeworfen mit Seneca zu spielen, hatte ihr gedroht für den Fall, dass sie das nicht beendete. Und das alles, bevor Seiana mehr geäußert hatte als Guten Tag und die Frage danach, was die Iunia von ihr wollte. Natürlich hatte die Sache nicht vereinfacht, dass Seiana sich verraten gefühlt hatte von Seneca in jenem Moment, als ihr im pompeischen Atrium klar geworden war, dass er trotz des Risikos insbesondere für sie jemandem von ihr erzählt hatte, noch dazu ihren Namen genannt hatte – aber was hatte die Iunia bitte erwartet, wie sie reagieren würde, nachdem sie sie derart angefahren hatte? Und dann, nach Seianas Antwort, die natürlich nicht freundlich ausgefallen war, hatte sie sie geschlagen.


    Seiana fiel auf, dass sie schon eine Weile nichts gesagt hatte, dass Avianus immer noch auf eine Antwort wartete. Sie räusperte sich. „Damit du das verstehen kannst, komme ich wahrscheinlich nicht umhin ein wenig von dem zu erzählen, was vorgefallen ist.“ Sie schwankte. Sie wollte das nicht. Sie wollte eigentlich nicht darüber reden, wollte Avianus nichts davon zu erzählen, weil es alten Groll und Schmerz aufwirbelte und weil es bedeutete, dass sie sich öffnen musste. Aber er wusste ohnehin schon zu viel. Und über allem stand das Wissen, wie viel er Seneca bedeutete. Sie hatte ja sogar versucht auch mit der Iunia noch einmal zu reden, trotz der Vorgeschichte. Für Seneca. Sie hatte es in der Acta versucht und dann bei ihr daheim, und war von deren Mann zum Essen eingeladen worden – und dann hatte man sie erneut gedemütigt. Man hatte sie eine halbe Ewigkeit warten lassen, bevor man sie mit einer fadenscheinigen Ausrede wieder davon geschickt hatte. Sie hoffte nur, bei Avianus würde es anders laufen. „Ich... ich bin kein einfacher Mensch. Ich bin nicht das, was man sonderlich zugänglich nennen könnte, das ist mir bewusst, selbst in Situationen, in denen ich mich anders verhalten will, fällt mir das nicht leicht. Ehrlich gesagt weiß ich bis heute nicht wirklich, was Seneca in mir sieht...“ Ihre Stimme verlor sich, als ihr bewusst wurde, dass sie sich verzettelte. Seiana räusperte sich ein weiteres Mal. „Deine Cousine und ich haben eine Geschichte, die schon lange zurückreicht. Sie hat vor Jahren eine Affäre mit meinem ersten Verlobten begonnen, und hat ihn dazu gebracht, sie zu heiraten anstatt mich. Unser Verhältnis danach war... nicht-existent. Ich wollte weder mit ihr noch mit dem Aelius auch nur das geringste zu tun haben, und ich habe beide abblitzen lassen, als sie kamen um sich zu entschuldigen. Ich wollte nichts hören, damals. Ich wollte einfach nur in Ruhe gelassen werden, von beiden. Trotzdem habe ich mich in der Acta, wo deine Cousine und ich zuammen gearbeitet haben, immer professionell verhalten. Als ich vom Senat zur Auctrix ernannt wurde, habe ich sie von einer freien Mitarbeiterin zur Subauctrix und später zur Lectrix befördert. Das alles ist passiert, nachdem das mit dem Aelius war. Ich wollte nie eine persönliche Beziehung zu ihr, aber ich war professionell, neutral und fair ihr gegenüber. Dann hat Seneca ihr von uns erzählt, und dabei auch leider meinen Namen genannt. Sie hat mich zu sich eingeladen, und mich angefahren. Mir unterstellt, ich würde meinen Mann mit zig anderen betrügen, mit Seneca nur spielen, und dass ich es bereuen würde, wenn ich das mit ihm nicht beenden würde.“ Sie stockte kurz. Schon die eine ganze Zeit lang während ihrer Erzählung hatte sie Avianus nicht mehr wirklich angesehen. „Daraufhin habe ich beschlossen, nichts vor ihr zuzugeben. So wie sie mich angegangen ist, hatte ich die Befürchtung, dass sie nur darauf gelauert hat – dass ich es zugebe, und sie später sagen kann ich hätte es vor ihr gestanden, und wer weiß wem noch, der gleichzeitig zugehört hätte, immerhin waren wir im Haus ihres Mannes. Und dann, ja, habe ich umgekehrt ihr gedroht, dass sie es bereuen würde, wenn sie auch nur irgendetwas über Seneca und mich verrät. Nur für diesen Fall. Sie hat schon einmal mein gesellschaftliches Leben zerstört, ich wollte verhindern, dass sie das noch mal tut. Im Gegenzug hat sie mich geschlagen.“ Seiana lachte bitter auf. „Und letztlich hat sich herausgestellt, dass meine Drohung nur eine leere war, während sie die ihre wahr gemacht hat. Sie hat es meinem damaligen Mann verraten. Ich habe keine Beweise dafür, aber er sagte mir damals, dass es ihm eine Frau erzählt hätte. Und sie ist die einzige, die dafür in Frage kommt.“ Natürlich hatte es negatives Gerede über sie gegeben, aber so kühl und unnahbar wie sie sich stets gegeben hatte, so sehr darauf bedacht jeder unnötigen Bewegung aus dem Weg zu gehen, war nie jemand auf die Idee gekommen, ausgerechnet ihr eine Affäre anzuhängen. Die Iunia dagegen... sie hatte Seiana genau das angedroht. Sie hatte von der Affäre gewusst, sie hatte ein Motiv gehabt, und eine Gelegenheit zu finden es ihrem ehemaligen Mann zu verraten, war sicher nicht schwer gewesen.
    Und dennoch... hatte Seiana selbst danach ihre Drohung nicht wahr gemacht. Nie. Sie hatte es nicht einmal versucht. Sie hatte an Seneca gedacht, und hatte es geschluckt. „Aber obwohl ich davon überzeugt bin, habe ich selbst danach nichts gegen sie unternommen. Ich habe sie sogar weiterhin bei der Acta behalten, habe sie nicht einmal degradiert. Weil ich Seneca liebe. Er war und ist mir wichtiger, als jeder Groll, den ich gegen seine Cousine hegen mag.“ Seiana holte tief Luft. „Trotzdem möchte ich mit ihr nichts mehr zu tun haben. Nach allem, was passiert ist, nachdem sie mich bedroht, mich geschlagen und mich bei meinem Mann verraten hat, der mich hätte umbringen können dafür, und ohne Rücksicht darauf, dass er womöglich Seneca verdächtigt“ – was er nie getan hatte, ganz im Gegenteil war er sogar mit dem Bewusstsein aus Rom fortgegangen, dass er ihren Liebhaber erwischt hatte, und sie vermutlich deshalb am Leben gelassen, weil mit dem Schmerz darüber zu leben in seinen Augen eine weit größere Strafe war als der Tod – „und auch ihn tötet, will ich diese Frau nicht mehr sehen. Ich werde Seneca nie davon abhalten, wenn er sie besuchen oder sonstwie Kontakt möchte, aber wenn, muss er das ohne mich tun. Das weiß er. Insofern... hab Dank für dein Angebot zu helfen, aber ich werde es nicht annehmen.“ Dafür war inzwischen viel zu viel Wasser den Tiber hinunter geflossen, als dass Seiana sich noch in der Lage gesehen hätte, ein weiteres Mal einen Schritt auf die Iunia zuzugehen. Abgesehen davon, dass sie es selbst nach dem Schlag noch versucht hatte, nur um sich eine weitere Demütigung einzufangen, abgesehen davon, dass sie überzeugt war, dass es nur wieder genauso laufen würde, dass nur eine weitere Demütigung gleich welcher Art lauern würde – die Iunia hatte sie an ihren Mann verraten, in dem Wissen, dass dieser sie töten konnte, und, wie Seiana überzeugt war, mit der vollen Absicht, dass genau das geschehen würde. Und keiner konnte sie zwingen, noch einmal mit einer Frau ein Wort zu wechseln, die versucht hatte sie umzubringen.

  • Avianus nickte, als Seiana sich endlich entschloss seine Frage zu beantworten. Geduldig hörte er zu, wenn es ihm auch etwas unangenehm war, dass Seiana ihm alles von Anfang an erzählte. Er hatte nicht aufdringlich sein wollen und gar nicht verlangt, dass sie von vorne bis hinten alles erzählte, was mit ihr und Axilla passiert war, und doch tat sie es. Freiwillig. Gleichzeitig war er dankbar dafür. Wann erzählte ihm jemals irgendwer direkt, was los war? Seneca hatte ihm bei jedem Treffen eine neue Überraschung präsentiert, Sibel verschwieg ihm aus Angst ständig irgendwelche Dinge, und dann war da Seiana. Er fragte, sie erklärte. Es war ganz angenehm, seinem Gegenüber zur Abwechslung nicht jede Information aus der Nase ziehen zu müssen. Und bis auf ein paar Kleinigkeiten stimmte was sie sagte auch mit dem überein, was er schon von Axilla gehört hatte. Nur das eben jede die jeweils andere beschuldigte, für den Streit verantwortlich zu sein. Seiana meinte, seine Cousine hätte ihr den Aelius ausgespannt, Axilla sagte, er hätte die Decima gar nicht gewollt. Die erklärte wiederum, Axilla habe zuerst gedroht, und die sagte bei Senecas Beichte von der Heirat das genaue Gegenteil.
    Aber selbst wenn sich der Streit nicht lösen ließ, so konnte er jetzt zumindest aus Seianas eigenem Mund hören, dass hinter alldem keine schlechten Absichten den Iunii gegenüber standen … oder? Direkt war sie nicht darauf eingegangen. Sie hatte gedroht, wie auch seine Cousine, das war alles, was er hörte.
    "Wir sind wohl alle nicht ganz einfach, auch wir Iunii nicht, wie ich immer mal wieder feststellen muss … Jedenfalls, ich danke dir, dass du so offen davon erzählt hast. Und es ist angenehm zu hören, dass du diesen Streit nicht weiter fortsetzen willst.", stellte er erst fest, auch wegen Seianas Bemerkung zu Beginn, kein einfacher Mensch zu sein.
    Darüber, dass sie seine Hilfe nicht annehmen wollte, lachte er allerdings ein wenig. Sie hatte ihn vermutlich falsch verstanden oder aber wusste gar nicht, was Axilla Seneca angedroht hatte, wenn er die Ehe mit der Decima einging. Es ging gar nicht darum, aus den beiden Frauen beste Freundinnen zu machen. Nein, es ging darum, das Schlimmste zu verhindern ... zu verhindern, dass sie das Leben der beiden ruinierte, und jegliche Beziehungen der Iunii zu den Decimi, lediglich wegen einer persönlichen Fehde, an der außer den zwei Frauen niemand die Schuld trug und an deren Fortführung Seiana scheinbar schon lange kein Interesse mehr hatte.
    "So war es auch nicht gemeint, wegen meiner Hilfe. Ich bin nicht davon ausgegangen, diesen Streit aus der Welt schaffen zu können", begann er deshalb, seine Absichten zu erklären, "Axilla ist, wie du dir sicher vorstellen kannst, wenig beigeistert von dieser Verbindung. Ich glaube nicht, dass sie etwas unternehmen wird, aber ich will es nicht darauf ankommen lassen. Sie glaubt nach wie vor, du wärst der Feind, nicht nur ihrer sondern der unserer gesamten Gens. Deshalb sollte jemand ein Auge auf sie haben, erst recht da ich das Gefühl habe, Seneca hat es mittlerweile aufgegeben, weiter mit ihr darüber zu sprechen. Sie gehört zu meiner Familie, ich weiß, sie will für die Iunii nur das Beste und zum Teil kann ich ihre Wut verstehen, aber in dieser Sache irrt sie sich. Es wäre am einfachsten für alle, wenn sie mit diesem Streit abschließt. Ich möchte also nur vorbereitet sein, wenn ich das nächste Mal mit ihr darüber rede."
    Denn bevor er mit seiner Cousine über dieses Thema sprach, wollte er mehr darüber wissen, als nur die paar Informationen die er beim Streit zwischen ihr und Seneca damals aufgeschnappt hatte. Und vielleicht hatte er dann mehr Glück als Seneca. Ihm konnte sie zumindest nicht vorwerfen, blind vor Liebe zu sein. Jedenfalls nicht, wenn es um die Decima ging.
    "Du musst wissen ... ich finde nicht alles gut, was ihr zwei, also du und Seneca, gemacht habt. Aber ich verstehe es, vermutlich besser als die meisten anderen."
    Aber genug davon, dachte er sich. Es gab ja auch andere, weniger präkere Dinge, über die sie reden könnten. Dinge, die ihn um einiges mehr interessierten, seit sich auch in seinem Leben einiges geändert hatte.
    "Wie geht es eigentlich dem Mädchen? Was werdet ihr zwei ihr einmal erzählen?"

  • Vorsichtige Erleichterung machte sich in Seiana breit, als sie Avianus antworten hörte. Er machte ihr keine Vorwürfe, er wurde nicht laut, er bezichtigte sie nicht der Lüge. Avianus war, so weit sie ihn bisher kennen gelernt hatte, ein freundlicher und besonnener Mann – trotzdem, pessimistisch, wie sie manchmal war, hatte Seiana eine andere Reaktion befürchtet. Die schien allerdings auszubleiben. „Ich habe nichts von diesem Streit. Ich hatte noch nie etwas davon. Seit der Sache mit dem Aelius wollte ich eigentlich einfach nur nichts mehr mit ihnen zu tun haben, weder mit ihm, noch mit ihr“, erwiderte Seiana. Das konnte ihr nun wirklich keiner verdenken, nach den Monaten des Betrugs, der dieser ganzen Sache vorangegangen war, und all der Peinlichkeiten, die damit einher gegangen waren. Der Skandal auf der aurelischen Hochzeit. Das Essen beim Pompeius, lange bevor die Iunia auch nur daran gedacht hatte, diesen Mann zu heiraten... bei dem sie sich zum Aelius auf die Kline gekuschelt und sich an ihn geschmiegt hatte, vor Seianas Augen, nur um Seiana danach zu küssen. Die Auflösung der Verlobung, die Seiana gesellschaftlich erst mal ins Aus manövriert hatte. Die Querelen mit dem Aelius danach, mit denen er sie gepiesackt hatte... Nein. Keiner konnte ihr verdenken, dass sie nichts mehr mit den beiden hatte zu tun haben wollen, und wer das doch tat, war ihr herzlich egal. „In beruflicher Hinsicht habe ich dann auch diesen Wunsch zurückgestellt. Weil sie eine gute Mitarbeiterin war. Ich wollte sie in der Acta halten, unabhängig von dem, was zwischen uns persönlich passiert sein war.“ Warum die Iunia nach all den Jahren dann derart ausgeflippt war, kaum dass sie von Seneca gehört hatte, dass er sich mit ihr eingelassen hatte, war Seiana bis heute ein Rätsel. Dass es ihr nicht gefallen hatte, war verständlich. Auch dass sie es hatte beendet wissen wollen. Aber dass sie Seiana vorgeworfen hatte, ihren Mann mit zahlreichen anderen zu betrügen? Mit Seneca nur zu spielen, aus Langeweile? Es war ihr einfach schleierhaft, wie die Frau auf diese Idee gekommen war, noch dazu nach den zaghaften Annäherungen, die es in den Jahren davor zwischen ihnen gegeben hatte.


    Dass Avianus dann zu lachen anfing, als Seiana seine Hilfe ablehnte, war sie doch ein wenig irritiert... und dann, als er begann zu erklären, wich jede Gefühlsregung aus ihrer Miene. Ihre Maske, lange nicht mehr so perfekt wie früher noch, aber immer noch da, immer noch funktionsfähig, für Momente wie diesen, wenn sie sich nichts von dem anmerken lassen wollte, was in ihr vorging. Die Iunia glaubte also, sie wäre der Feind? Ein ums andere Mal fragte Seiana sich, woher diese Frau das bloß nahm. Sie hatte ihr nie etwas zuleide getan. Das einzige, was sie sich hatte zuschulden kommen lassen war, dass sie nach der Sache mit dem Aelius die Entschuldigung der Iunia nicht hatte annehmen wollen. Davon abgesehen hatte sie ihr nie auch nur ein Haar gekrümmt, sondern sie im Gegenteil sogar gefördert. Die Iunia hingegen hatte eine Verlobung und eine Ehe von Seiana zerstört. Wäre das ein Bestandteil olympischer Spiele und sie beide würden gegeneinander antreten, die Iunia würde um Längen voraus liegen. Aber so wie Avianus klang, schien ihr auch das noch nicht genug zu sein. Etwas unternehmen, hatte er gesagt, und Seiana wusste, was das hieß. Es gab nur eine einzige Sache, die die Iunia hätte unternehmen können. Und wenn sie das wirklich tat... nun. Dann konnte Seiana wohl nur hoffen, dass die meisten das als Gerücht abtun würden. „Ich heirate morgen einen Iunius. Ich habe vor, mit ihm eine Familie zu gründen. Unsere Kinder werden seinen Namen tragen. Ich bin ganz sicher kein Feind deiner Gens.“ Sie zögerte einen winzigen Moment, dann fügte sie hinzu: „Und ich werde auch ihr nicht schaden.“ Sie hatte bisher darauf verzichtet, irgendetwas gegen sie zu unternehmen, obwohl die Iunia ihre Drohung wahr gemacht hatte – um Senecas willen. Und Seneca war mehr denn je ein Grund dafür, einfach zu ignorieren, was womöglich kommen würde. Bei dem Gedanken daran wurde Seianas Miene ein wenig weicher, nicht viel, aber genug, dass ihre Maske wieder fiel. „Ich will, dass er glücklich ist. Als er mir einen Antrag gemacht hat, da... da habe ich ihn gefragt, ob er sich wirklich sicher ist. Ich habe ihm gesagt, dass er es wesentlich einfacher haben könnte, dass er eine Frau haben könnte, die deutlich jünger ist, und nicht vorbelastet mit alten Streitereien. Eine, mit der es unkompliziert wäre. Er hat mir nur gesagt, dass er es nicht einfach haben will. Sondern mich.“ Seiana wurde immer noch warm ums Herz, wenn sie daran dachte. „Ich werde nichts tun, was ihm weh tun könnte.“


    Bei seinen nächsten Worten atmete Seiana einmal kurz durch. Er fand es auch nicht gut, was passiert war. Natürlich nicht. „Ich habe Fehler gemacht, das weiß ich.“ Und dann sagte er, er könne es dennoch verstehen. „Tust du das?“ fragte sie nach, ein wenig bitter. Sie bezweifelte, dass er wirklich verstand. Sie dachte in diesem Moment gar nicht daran, dass er das Gefühl des Verliebtseins und Liebens meinen könnte, das einen zu solchen Dingen trieb. Sie dachte in diesem Moment daran, was sie dazu gebracht hatte, überhaupt schwach zu werden gegenüber Seneca... Was alles auf ihr gelastet hatte damals. Ihre Familie in Rom präsentieren zu müssen, als so ziemlich einzige der Decimi, in schwierigen und unruhigen Zeiten. Livianus in Tarraco, nachdem er im Senat vor allen Anwesenden den Vescularius angegriffen und ihm die Meinung gesagt hatte. Faustus als Tribun der Prätorianer auf irgendeiner Mission unterwegs, über die er ihr nichts hatte verraten dürfen. Die anderen Verwandten... irgendwo verstreut. Und in dieser Zeit Drohbriefe, die an ihrer Haustür abgeben worden waren. Zwei Hausdurchsuchungen der Prätorianer, die sie alleine hatte durchleben müssen, eine mit Livianus als Ziel, eine mit ihr und der Acta. Das Versprechen des damaligen Praefectus Praetorio, dafür zu sorgen, dass sie in der Arena landen würde, nur um ein Exempel im Sinne des Vescularius statuieren zu können, wenn sie ihm kein besseres Angebot machte... was letztlich damit geendet hatte, dass sie ihn geheiratet hatte. Konnte das überhaupt jemand verstehen, der nicht in der gleichen Situation gewesen war? Diesen unglaublichen Druck auf ihr, unter dem sie mehr als einmal fast zerbrochen wäre. Dieser fast wahnhafte Zwang arbeiten zu müssen, immer noch mehr, immer noch mehr, nur um die Grübeleien in Schach zu halten, die ihre Gedanken dann stets in eine rasende, endlose Abwärtsspirale gezwungen hatten. Und die Einsamkeit... wie furchtbar einsam sie sich gefühlt hatte, jahrelang. Und dann war da plötzlich Seneca gewesen. Mit seiner ruhigen, einfühlsamen Art. Seiner Unaufdringlichkeit. Seinem stillen Verstehen. Seiana war überzeugt, dass sie sich so oder so in ihn verliebt hätte. Aber verheiratet wie sie war, hätte sie damals nie etwas mit ihm angefangen, wenn es ihr nicht so schrecklich elend gegangen wäre.


    Ihre Gedanken hingen noch ein wenig in jener düsteren Phase ihres Lebens, als Avianus sie daraus heraus riss. Mit Worten, die ihr eine Gänsehaut über den Rücken jagten. „Dem Mädchen?“ wisperte sie, und ihr Brustkorb schien sich für einen Moment zusammenzuziehen. In ihrem Kopf begann es zu rasen. Das Mädchen. Er konnte nur Silana meinen. Aber woher wusste er von ihr? Seneca musste es ihm erzählt haben, das war die einzige Möglichkeit. Er hatte es ihm erzählt. „Du... du weißt...“

  • Avianus hatte sich von Anfang an gefragt, wie Axilla darauf kam, Seiana wollte ihnen ausgerechnet durch die Ehe mit Seneca schaden. Und er hatte richtig gelegen, diese Heirat brachte ihr rein gar nichts. Der ganze Streit brachte Seiana rein gar nichts. Er glaubte nicht alles, was Seiana sagte, ohne zu hinterfragen. Aber bisher machte für ihn alles Sinn und wich auch nicht so sehr von den Erklärungen seiner Cousine – wenn ihr Gezeter im Atrium als Erklärungen bezeichnen konnte – ab, als dass er Seianas Worte als kompletten Humbug abgetan hätte. Das Wichtigste war aber: Sie wollte keinem Schaden, sie wollte lediglich ein normales Leben mit seinem Cousin führen und nichts mehr zu tun haben mit dem, was in der Vergangenheit geschehen war. Mehr brauchte er eigentlich gar nicht zu wissen. Und Axilla würde ihm glauben, wenn er es ihr erklärte, hoffte er. Was sollte sie auch sonst tun? Sie hatte ewig nicht mehr mit der Decima gesprochen, und ihre letzten Aufeinandertreffen waren alles andere als ruhig und sachlich abgelaufen. Woher sollte Axilla also wissen, was wirklich los war.


    Vielleicht war sein kurzes Auflachen zuvor etwas fehl am Platz gewesen, aber der Gedanke, dass Seiana und Axilla nach allem, was seine Cousine letztens gesagt hatte, sich doch noch irgendwann die Hand reichen könnten, war einfach zu abwegig gewesen. Er räusperte sich kurz und lächelte dann trotzdem leicht.
    "Gut, davon bin ich ausgegangen", entgegnete er beruhigt, "Jetzt muss ich nur noch Axilla davon überzeugen. Ich habe ja keinen Streit mit ihr, deshalb bin ich ziemlich sicher, mir schenkt sie mehr Gehör als Seneca. Zu hoffen ist es jedenfalls. Ich kann nicht zulassen, dass sich unsere Gens wegen einer solchen Farce von innen selbst zerreißt, und ich weiß, Seneca würde dasselbe für mich tun." Gut, in der Casa Iunia war er einfach aus dem Atrium hinausgehetzt, nachdem das mit der Hochzeit raus war. Im Ernstfall würde er aber hinter ihm stehen, da war Avianus sicher. "Jedenfalls ... es tut mir leid, dass ich ausgerechnet am Abend vor der Hochzeit dieses Thema angeschnitten habe."


    Was sie dann sagte, ließ ihn die Stirn runzeln. Sie glaubte offenbar nicht ganz daran, dass er sehr wohl verstand. Andererseits war seine Situation eine gänzlich andere – er war nur ein kleiner Fisch, mehr nicht, während sie zwischen den höchsten Männern des Reiches stand. Und dennoch existierten Parallelen. Aber sie konnte von alldem nichts wissen, dass er vielleicht doch mehr Ahnung hatte, als sie dachte. Es gab Dinge, die suchte man sich nicht aus. Die passierten einfach. So wie man sich eben in jemanden verlieben konnte, den man eigentlich nicht lieben sollte. Und manchmal verliebte man sich so sehr, dass man verrückte Dinge tat. Zumindest für Außenstehende schienen sie verrückt, während man selbst sicher war, das richtige zu tun. Trotzdem, es hatte sehr wohl etwas Verrücktes an sich, sich etwa für eine Straßenhure verprügeln zu lassen, oder diese Hure zu kaufen und sie in der Castra Praetoria unterzubringen, oder eben auch derselben Hure für teures Geld schöne Kleider zu kaufen, um sie zur Hochzeit des Vetters mitzubringen. Aber für manche Menschen nahm man das auf sich, das Verrücktsein. Ihm war klar, er hatte nie so viel aufs Spiel gesetzt wie Seneca und Seiana, so war seine Beziehung an sich etwa nie lebensgefährlich gewesen. Aber er wusste zumindest, dass es bei solchen Dingen nicht einfach nur schwarz und weiß gab.
    "Ja … denke ich", entgegnete er deshalb nachdenklich und fragte sich gleichzeitig, wieviel er von sich preisgeben sollte. "Manchmal gibt es kein wahres richtig oder falsch. Jedenfalls nicht für diejenigen die in dieser bestimmten Situation stecken. Für Außenstehende ist es immer leicht zu sagen, man hätte dieses oder jenes tun sollen …", sagte er nur vage und schwieg schließlich.


    Sowie sie ihn schockiert vor sich hin stammelte, ahnte Avianus, dass Seiana gar nicht gewusst hatte, wieviel Seneca ihm erzählt hatte. Verdammt nochmal, Seneca. Du und deine Überraschungen. Der konnte vermutlich einfach nicht anders, als immer irgendetwas vor irgendwem zu verheimlichen. Dabei war es doch halb so wild, er hatte Seneca ja nicht den Kopf abgerissen und war hier, um morgen an der Hochzeitsfeier teilzunehmen. Ihre Reaktion konnte er sich deshalb nicht recht erklären.
    "... von Silana", vervollständigte er schlicht ihr Gestammel, "Ja ... ich weiß von Silana. Ich dachte du wüsstest, dass ich davon weiß. Ich wollte dich nicht beunruhigen."

  • Seiana ließ ihren Blick in die Ferne schweifen, als Senecas Vetter davon sprach, dass es seine Gens von innen zerreißen könnte. Sie wusste nicht, was sie darauf noch hätte erwidern sollen. Sie wollte nicht, dass es dazu kam, genauso wenig wie sie gewollt hatte, dass es in ihrer eigenen Familie Ärger gab... sie hatte ja nicht ohne Grund gezögert, als Seneca sie gefragt hatte, ob sie ihn heiraten wollte. Sie hatte nicht ohne Grund gezweifelt, und wenn sie ehrlich war, dann hatte sie bis heute Zweifel. Aber sie wollte mit ihm zusammen sein, und er mit ihr, und wenn das hieß, dass sie manche vor den Kopf stoßen würden damit... dann war es offenbar so. Es gefiel ihr ganz und gar nicht. Aber Seneca deswegen aufzugeben, wo sich endlich die Chance zu bieten schien ein gemeinsames Leben zu führen... nein.
    „Mach dir keine Gedanken“, versicherte sie ihm letztlich nur, als Avianus sich dann noch entschuldigte, das Thema überhaupt angesprochen zu haben. „Bei allem, was passiert ist, und so eng, wie du und Seneca befreundet seid... da kann ich dir nicht verdenken, dass du Fragen hast, die du mir selbst stellen wolltest.“


    Ihr spontan geäußerter Zweifel, ob er wirklich verstehen konnte, was sie getrieben hatte, schien Avianus nicht so ganz zu gefallen, und Seiana presste flüchtig die Lippen aufeinander. Sie wollte ja, dass er verstand, und sei es nur um Senecas Willen. Aber sie wusste nicht so recht, wie sie es erklären sollte, ohne sich ganz und gar zu öffnen – und das kam nicht in Frage. Selbst jetzt schon fühlte sie sich ein wenig unwohl, zwang sich, an Seneca zu denken, um mit Avianus so zu reden, wie sie es tat. Es half zwar, dass er nicht abweisend reagierte, aber das hieß nicht dass sie sich damit wirklich wohl gefühlt hätte. „Kein wahres richtig oder falsch“, wiederholte sie, ihre Stimme ein wenig bitter. „Ja, das stimmt wohl. Manchmal hat man nur die Wahl, welche Entscheidung einem weniger falsch erscheint. Und dabei passiert es nur allzu leicht, dass man seine Prioritäten falsch setzt.“ Wieder starrte sie in die Ferne, und unruhig bewegten ihre Finger das Stück Papyrus. Für einen winzigen Moment war sie völlig gedankenverloren, dachte zurück, wie sie Seneca kennen gelernt hatte, wie sie zueinander gefunden hatten. „Ich weiß, dass ich mich nicht auf ihn hätte einlassen sollen. Es war nur...“ So schwierig gewesen. So viel Druck. So viel Einsamkeit. Seneca war da gewesen, als sie ihn am dringendsten gebraucht hatte, und das obwohl sie damals noch gar nicht gewusst hatte, dass sie ihn brauchte. Seiana löste ihren Blick schließlich aus der Ferne und sah Avianus wieder an. „Trotz der Schwierigkeiten habe ich es nie bereut“, sagte sie schließlich noch, ohne ihren vorigen Satz zu beenden, und nach kurzem Zögern reichte sie ihm dann den Papyrus mit Senecas Worten, der ersten Nachricht, die er ihr überhaupt geschickt hatte.


    Als Seiana dann erfuhr, dass Avianus von Silana wusste, spürte sie wie so etwas wie Panik in ihr aufzusteigen begann. Es gab dafür keine wirklich rationale Erklärung, dass es sie so heftig erwischte. Das wusste sie selbst. Trotzdem war es so, und mühsam kämpfte sie dagegen an. Seit sie realisiert hatte, dass sie schwanger war, hatte sie sich selbst wieder und wieder eingebleut, dass außer ein paar wenigen Menschen niemand, niemand jemals davon erfahren durfte, was es mit Silana auf sich hatte. Das Kind war der lebende Beweis für ihre Untreue, für ihr Versagen. Gerüchte konnte man von sich abperlen lassen, aber wer von dem Kind wusste, konnte es gegen sie benutzen. Es würde ihr schaden, es würde dem Mädchen schaden, es würde Seneca schaden. Dass das Kind überhaupt hier war, bei ihr, lag sowieso nur an Seneca – wäre es nach Seiana gegangen, sie hätte das Mädchen weggeschickt, in irgendeine weit entfernte Provinz, wo es bei weit entfernten Verwandten hätte aufwachsen können. Aber Seneca hatte das nicht gewollt, und sie hatte es nicht über sich gebracht, das einfach gegen seinen Willen durchzusetzen. Hätte sie es getan, hätte sie Seneca vermutlich verloren, nicht sofort, aber auf Dauer. Sie bezweifelte, dass er ihr das hätte vergeben können... Und sie musste sich eingestehen, dass sie trotz der Unsicherheit, die sie im Umgang mit ihrer Tochter spürte, sich mittlerweile auch nicht mehr vorstellen konnte, sie nicht in ihrer Nähe zu wissen.
    Seiana atmete einmal tief durch. Es gab keinen Grund für Panik. Avianus hatte bereits bewiesen, dass er vertrauenswürdig war, oder nicht? Seneca hatte sich einmal der falschen Person anvertraut, aber die hatte das sofort gezeigt. Avianus wusste nun auch schon länger Bescheid, über mehr Details ihrer komplizierten Beziehungsgeschichte, als ihr eigentlich lieb war, und er hatte bislang nichts getan, was ihr einen Grund zu Misstrauen oder Furcht hätte geben können. Was machte es da, wenn er noch ein weiteres Detail wusste? „Entschuldige bitte. Ich war nur überrascht, das ist alles. Von dem Kind-“ Seiana hielt kurz inne und zwang sich, den Namen ihrer Tochter auszusprechen: „Von Silana – wer sie wirklich ist – weiß kaum jemand. Seneca. Mein Bruder.“ Dazu die Amme, die nicht reden konnte, und ihre drei loyalsten Sklaven. „Und wie du dir wohl vorstellen kannst, ist es sehr relevant, dass das auch so bleibt.“ Womit sie mehr oder weniger bei der ursprünglichen Frage wäre, die Avianus gestellt hatte. „Ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass es viel bringen würde, ihr irgendwann die Wahrheit zu sagen.“ Im besten Fall war es ihr egal – im schlimmsten Fall würde es ihr weh tun, und warum nicht ihr letzteres ersparen, wenn man es konnte? Vielleicht hielt Seneca es für wichtiger, ihr irgendwann reinen Wein einzuschenken, Seiana war das bewusst, aber sie hielt es für keine gute Idee. „Zumindest so lang sie noch klein ist, macht es ohnehin keinen Sinn. Ich... wir haben vor, sie als eine weiter entfernte Verwandte von mir auszugeben, die gestorben sind, und die ich aufgenommen habe. Wenn etwas Zeit vergangen ist, wird Seneca sie adoptieren.“

  • Die Hochzeitsfeier auf Meridius' Landgut war noch nicht für alle vorbei, aber Seneca und Seiana hatten sich irgendwann im Lauf des Abends verabschiedet. Den Brautzug hatten sie bereits beim Ritual nachgestellt, verkürzt und abgewandelt, weil die Umstände nicht passten – aber das gehörte zu jenen Traditionen, bei denen sie beschlossen hatten sie zu dehnen. In diesem konkreten Fall nicht nur deswegen, weil sie eine einfachere Feier wollten, sondern auch weil sie keine große Wahl hatten. Aber Seiana störte es ganz und gar nicht, jetzt allein zu sein. Die meisten Gäste, die über Nacht blieben, hatten sie auf dem deutlich größeren Landgut einquartiert, aber sie selbst würden auf Seianas kleinerem Nachbargut schlafen. Sie hatte sich vorher schon gedacht, dass ihr das gut tun würde nach diesem Tag – Abstand zu der Feier, dem Rummel, den vielen Menschen. Und so war es auch. Allein die frische Luft tat ihr gut, und die Aussicht darauf, zurück zu ihrer eigenen kleinen Villa rustica zu können, die in den vergangenen Jahren zu ihrem Heim geworden war, die Aussicht darauf, dort dann allein mit Seneca zu sein, mit ihrem Mann... Ihrem Mann. Es wirkte immer noch so irreal. Seiana griff nach seiner Hand, als sie ihr Landgut erreicht hatten und sie die letzten Schritte zur Tür gingen. „Wir hätten vielleicht doch drüben bleiben sollen“, scherzte sie leise. „Dort hat immerhin alles angefangen, es hätte irgendwie gepasst.“ Trotzdem war sie froh, dass sie außer ein paar Sklaven jetzt niemanden mehr um sich hatten.

  • Nach dem ganzen Trinksprüchen und freundlichen Gesprächen hatte Seneca leicht einen sitzen. Er war nicht betrunken oder hatte den Punkt überschritten an welchem man eine Änderung der Persönlichkeit spürbar wahrnehmen könnte, aber ihm wahr wohlig warm und vor allem, und das war eine der positiven Wirkungen, er sah seine Frau durch einen leichten Tunnelblick.
    "Ich hab solange darauf gewartet ein wenig mit dir allein zu sein." entgegnete Seneca leicht grinsend, "Selbst der Pferdestall wäre mir recht gewesen." scherzte er weiter und führte sie, mehr der Symbolik wegen, über die Schwelle obwohl es nicht sein Anwesen war.
    "Werte Gemahlin. Trete ein." neckte er sie und hob ihre Hand ein wenig an. Was ihm beim eintreten in die, bis auf die Sklaven, leere Villa zuerst auffiel war diese Stille die einen umgab wenn aus einem vollen Raum in einen leeren trat, ein gutes Gefühl..
    "Es war so seltsam nicht wahr? Sich so offen zu zeigen?" fragte er sie und strich ihr über den Arm, "Also nicht auf die negative Art, aber es war sehr ungewohnt."

  • Im Gegensatz zu Seneca war Seiana ziemlich nüchtern – sie achtete sehr darauf, ja nicht zu viel zu trinken, nie so viel, dass sie auch nur ansatzweise das Gefühl bekam sich selbst nicht mehr kontrollieren zu können. Seit jenen Tagen, kurz bevor Seneca sie auf dem Landgut besucht hatte... seit damals hielt sie sich zurück, was Alkohol betraf. Trotzdem fühlte sie sich beschwingt wie selten. Die Hochzeit war vorbei, es war nichts schief gegangen, sie hatte die Rituale und den Rummel hinter sich, und Seneca... gehörte endlich, endgültig, offiziell zu ihr. „Der Pferdestall...?“ Sie zog die Brauen hoch und bemühte sich um einen indignierten Gesichtsausdruck. „Da bin ich dann doch froh, dass wir das Haus angesteuert haben.“ Sie ließ sich von ihm über die Schwelle führen, und obwohl sie eigentlich froh war, dass sie nicht alle Rituale hatte hinter sich bringen müssen – für einen winzigen Moment gab es ihr doch einen winzigen Stich, dass sie darauf verzichten mussten. Die Salbung des Türpfostens. Das Tragen über die Schwelle. Wasser und Feuer, und das Verteilen der Asse. Alles Zeichen, dass sie zusammen gehörten, eine Familie sein wollten.
    Seiana vertrieb den Gedanken. Es war nicht so wichtig. Sie gehörten sowieso schon zusammen – wichtig war, dass es jetzt offiziell war. Und vielleicht konnte sie in Germanien für sich das ein oder andere nachholen. Sie lächelte ihn an, als sie nach ihm eingetreten war. „Ja, irgendwie schon. Aulus.“ Sie legte ihm eine Hand die Wange und strich über seine Haut. Aulus. Sie hatte sich nie, niemals erlaubt, diese vertraute Anrede zu nutzen. Zu groß war die Gefahr, dass sie sich in Gegenwart anderer versprach, wenn sie es sich erst mal angewohnt hatte ihn so zu nennen. Dass sie Seneca sagte statt Iunius, ließe sich immer irgendwie erklären, aber sein Praenomen nicht. Jetzt allerdings... sprach nichts mehr dagegen. Im Gegenteil. „Ich glaube es wird noch dauern, bis ich mich daran gewöhnt habe.“

  • Seneca hatte natürlich seine eigenen Gedanken zum Thema Traditionen und Bräuche. Sicherlich hätte man die Türpfosten salben können, und er hätte sie auch über die Schwelle tragen können, aber letztlich war es nicht sein Haus, und sie würden hier auch nicht wohnen, sodass es wohl besser war die Rituale in Germanien nachzuholen. Was natürlich auch Vorteile hatte, denn immerhin hatten sie dann noch ein paar besondere Momente wenn sie im kühlen Norden angekommen waren..
    "Aulus?" fragte Seneca nach und grinste, "Es wird eine Weile dauern bis ich mich daran gewöhnt habe." neckte er sie und strich ihr ebenfalls über die Wange, "Decima Seiana. Meine Frau." sagte er lächelnd. Für ihn gab es zumindest namenstechnisch nicht viel Umgewöhnung, aber die Tatsache dass sie sich überhaupt öffentlich zeigen konnten war trotz der ganzen Vorbereitungstermine einfach seltsam seltsam seltsam..
    "Und? Hast du dir die Feier so vorgestellt?" fragte er seine Frau, denn es hatte sich mal wieder gezeigt dass Seneca durchaus der emotionalere Part der Beziehung sein konnte, oder dies eben einfacher zeigte, auch wenn Seiana nach der Trauung merklich aufgetaut war, und offen ihre Zuneigung zu ihm gezeigt hatte.
    "Ich liebe dich! Wir haben es geschafft." sagte er dann ein wenig ins blaue hinein, bevor er seine Frau dann küssen konnte..

  • „Aulus“, bestätigte sie mit einem leichten Lächeln, und dann lief ein wohliger Schauer über ihren Rücken, als er sie seine Frau nannte. Er hatte das heute bei der Feier bei fast jeder Gelegenheit getan, und trotzdem verfehlte es immer noch nicht die Wirkung auf sie. „Wir werden beide wohl noch etwas brauchen dafür.“
    Sie lehnte sich an ihn. „Die Feier? Nicht ganz. Um ehrlich zu sein hätte ich es schlimmer erwartet, aber es war... ganz in Ordnung, eigentlich“, antwortete sie ihm. „Dafür dass ich so etwas gar nicht mehr gewohnt bin.“ Und es noch weniger leiden konnte als früher... oder konnte sie sich nach den Jahren des selbstgewählten Alleinseins nur einfach nicht mehr so gut verstellen, so gut beherrschen wie früher? Das war etwas, woran sie würde arbeiten müssen... sie wusste nicht, wie das gesellschaftliche Leben in Mogontiacum beschaffen war, aber als Frau eines Praefectus konnte sie sich nicht komplett zurückziehen. Und wenn sie das Angebot des Duccius tatsächlich annahm, erst recht nicht.
    Als Seneca dann völlig unvermittelt wieder sprach, lachte Seiana unwillkürlich leise auf. „Ich kann es immer noch nicht ganz glauben.“ Sie erwiderte den Kuss und schmiegte sich noch enger an ihn, legte ihren Kopf an seine Brust und genoss die Berührung, den vertrauten Geruch. „Ich liebe dich auch“, murmelte sie, bevor sie wieder ein wenig Abstand nahm, nach seiner Hand griff und mit ihm weiter ins Haus ging, durch die Gänge, in Richtung ihres Schlafzimmers. „Ich weiß immer noch nicht so genau was ich von Germania halten soll... Aber ich freu mich darauf da ein Haus mit dir zu suchen. Möchtest du noch was trinken?“ fragte sie, als sie fast angekommen waren.

  • "Du warst ganz wunderbar bei der Feier." versicherte ihr Seneca, auch weil er wusste dass seine Frau oft ein wenig unsicher war nach all dieser Zeit außerhalb Roms. "Aber ich bin vielleicht nicht der objektivste Beobachter." neckte er sie ein wenig und genoss ihre Nähe. Aber natürlich ließ er sich auch von ihr führen, wohin auch immer, also folgte er ihr nur allzu gern, und dachte dabei auch an Germanien.
    "Ich denke die erste Zeit werden wir noch in meiner Dienstunterkunft wohnen müssen. Aber wir finden sicher was schönes. Auch wenn es in Germanien gerne auch etwas zentraler sein kann." antwortete Seneca recht abgeklärt, schließlich war ihm die Sicherheitslage in Germanien nicht gänzlich bewusst und er wollte Seiana und Silana auch während eventueller Abwesenheiten in Sicherheit wissen. Bei der Frage ob er noch was trinken wolle musste er kurz überlegen, auf der einen Seite hatte er schon Lust auf ein wenig Wein, auf der anderen Seite wollte er seine erste Nacht als Ehemann gerne in Erinnerung behalten..
    "Nein danke." sagte der Iunier etwas verschmitzt und umarmte Seiana von hinten, "Du bist berauschend genug." fuhr er fort und küsste ihren Nacken.

  • Wunderbar. Na, das wagte sie dann doch zu bezweifeln. Aber so lange man ihr ihre Unsicherheit nicht zu sehr angemerkt hatte, war das auch schon was. „Na, so lange du das denkst, reicht das auch schon“, erwiderte sie auf sein Necken, eine Augenbraue leicht hochgezogen, aber mit einem leichten Lächeln auf den Lippen.
    „Der Duccius hat doch seine ganze Familie dort. Sicher werden sie uns etwas empfehlen können.“ Im Castell der Ala wollte Seiana nicht unbedingt länger wohnen als es nötig war, auch wenn sie davon ausging, dass die Unterkunft des Praefecten gewissen Standards entsprach. „Dann wird es mit der Suche hoffentlich nicht allzu lange dauern.“
    Ihre Frage nach etwas zu trinken beantwortete er nach einem kleinen Moment ablehnend. Stattdessen trat er hinter sie. Umarmte sie und küsste ihren Nacken. Die feinen Härchen stellten sich auf, und eine leichte Gänsehaut breitete sich von dort aus, wo seine Lippen ihre Haut berührten. Seiana seufzte leise und lehnte sich an ihn, ihre Hände auf seinen, die sie von hinten umschlangen. Einen langen Moment blieb sie einfach so stehen, genoss mit geschlossenen Lidern seine Liebkosungen, bevor sie sich in seinen Armen umdrehte und ihn erneut küsste. So oft hatten sie das schon getan. So oft hatten sie schon so da gestanden, in dem Wissen, dem Wunsch, dass dem Kuss mehr folgen würde, und trotzdem... war es heute doch etwas anderes. Seiana hätte nicht geglaubt, dass das Wissen endlich verheiratet zu sein einen Unterschied machen würde, und doch war es so, stellte sie fest, als sie ihren Mann weiter küsste und ihre Finger sich einen Weg unter seine Kleidung suchten.

  • Bestimmt würden ihnen die ortskundigen Duccier behilflich sein, auch wenn Seneca keinen Einzigen von ihnen kannte so würde sich sicher eine Verbindung durch seinen Patron herstellen lassen, immerhin war ihm der Gedanke seine zwei Frauen zwischen hunderten Männern schlafen zu lassen auch nicht unbedingt geheuer.
    Aber Seneca war im hier und jetzt, und im hier und jetzt war seine Frau dabei ihn zu küssen und sie hatte bereits ihre Finger nach ihm ausgestreckt. Natürlich war der Iunier nicht abgeneigt und suchte ebenfalls ihre Haut unter der Kleidung während er sie sachte aber bestimmt ins Schlafzimmer schob. Er hatte immer davon geträumt sie zu heiraten. Er hatte nicht wie ein kleines Mädchen von seiner Hochzeit geträumt oder sich ausgemalt wie die Feier wohl aussehen würde, aber er hatte sich immer gewünscht dass er sagen könnte 'Dies ist Decima Seiana, meine Frau, meine bessere Hälfte, die Person die mich komplettiert' und nun war es endlich soweit. Ihre Haut zu spüren, ihr Kleid zu lösen, und sie zu fühlen hatte sich immer schon gut angefühlt, aber irgendwo im Hinterkopf wusste er dass das was sie taten nicht in Ordnung, und er hatte sich Gedanken um die Zukunft gemacht.
    Jetzt fühlte es sich mit jeder Berührung sicherer an, richtiger, und während er sich mit ihr aufs Bett fallen ließ, zum ersten Mal aufs Ehebett, wusste er dass ein Teil von ihm endlich angekommen war.

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