"Nosce te ipsum" - "Erkenne dich selbst" in Germania Libera

  • Othmar antwortete nicht auf den Dank Alpinas über ihre bislang sichere Begleitung. Das ganze Unterfangen war für Othmar in erster Linie ein Geschäft, wenn er dabei selbst dazulernen konnte, umso besser und wenn die junge Frau, der sie ihre Begleitschutz zur Verfügung stellten, ihr Ziel erreichte - was das auch immer sein mochte - auch gut. Dennoch hatte auch er die junge engagierte Frau in den wenigen gemeinsamen Tagen schätzen gelernt und dennoch wusste er nicht viel von ihr. Aber wollte er überhaupt wissen, was diese junge Frau ins freie Germanien trieb, wo man eigentlich schnell das Leben verlieren konnte?


    Der Fluss hat eine ganz eigene Kraft, nicht wahr.


    Auch er blichte auf den stumm dahinströmenden Visurgis hinaus. schon oft hatte er selber die Erfahrung gemacht, dass der Strom eine beruhigende, fast schon magische Kraft hatte. Ein Ruhepol im krisengeschüttelten und konfliktbeladenden Land der Marser und Chatten.

  • Othmar war schon ein ganz spezieller Mensch. Verschlossen und schweigsam, aber hinter der bisweilen ruppigen Fassade verbarg sich ein mitfühlender Mensch mit viel Inuition. Alpina hatte nicht erwartet, dass er auf ihren Dank antwortete, es hätte nicht zu ihm gepasst. Seine Feststellung zum tiefschwarzen nächtlichen Visurgis schien zu offenbaren, dass er ähnlich fühlte wie sie bei jenem Anblick.


    Der mäandernde Fluss, Sinnbild für das Leben, das so selten geradlinig verlief. Der Fluss machte Kurven, verzweigte sich, floss an manchen Stellen sogar in die entgegengesetzte Richtung. Er strömte manchmal ruhig und gemächlich, beinahe träge dahin, dann wieder, wie jetzt in der Phase eines Hochwassers überspülte er die Ufer, riss Erdreich und Bäume mit sich, verschlang Pflanzen und Tiere, zermalmte sie in seinen Fluten, an den felsigen Uferbereichen...


    Alpina dachte an die Styx, den griechischen Unterweltsfluss. Sie wusste, dass sie auf ihrem Weg zu Osrun den Virsurgis überqueren musste. Würde sie damit auch jene magische Grenze überwinden, wie diejenigen die vom Fährmann Charon über die Styx ins Reich der Toten gelangten? Oder glich der Visurgis mehr dem Acheron, der die Toten zu einem See brachte, in dem sich diejenigen, deren Lebenswandel nicht lupenrein gewesen war, von Verfehlungen reinwaschen konnten? Stand nicht am Ende des Acheron ein Totenorakel? War Osrun die Prophetin eben jenes Orakels? Was würde geschehen, wenn sie das Wasser aus diesem Fluss trank? Würde es ihr ewiges Vergessen bescheren, wie die Lethe, oder Weisheit und Allwissenheit wie die Mnemnosyne?


    Othmar schien keine Antwort auf seine Feststellung zu erwarten, dass der Fluss eine ganz eigene Kraft hatte. Schließlich waren sie beide wie gefangen vom Anblick des tiefschwarzen Wassers. Vermutlich waren ihre Gedanken, Hoffnungen und Wünsche sehr unterschiedlich, doch die Magie des Moments, vereinte beide in diesem einen sich endlos anfühlenden Augenblick.

  • Othmar hätte nicht sagen können, wie lange sie beide schweigend nebeneinander gesessen und auf den Fluss hinausgeblickt hatten. Es war nicht nötig, dass sie weitere Worte miteinander wechselten, denn der Fluss drückte alles aus, was sie hätten sagen können. Irgendwann erhob sich Othmar schwerfällig, denn die Kälte machte vor seinen Knochen nicht halt. Mit einem freundlichen.


    Gute Nacht!


    begab er sich wieder in die Hütte und ließ Alpina allein zurück. Wieder in der Hütte nahm er seinen Schlafplatz im verbliebenen Bett ein und schließ wenige Minuten später ein. Seine Träume umkreisten wieder Hldrun und verschiedene Bilder bildeten sich in seinem Kopf, verschwanden und tauchten wieder auf. Immer wieder entwickelten sich neue Szenarien, die alle nach kürzester Zweit verschwammen. Doch war seine Nacht kurz. Als die ersten Sonnenstrahlen durch die verbliebenen Fenster und die Ritzen der aufgehängten Pelze drangen, war es Zeit aufzustehen, sich bei einem kurzen Frühstück zu stärken, um schließlich die letzte kurze Etappe bis Novaesium in Angriff zu nehmen.

  • Lange saßen sie schweigend und blickten auf den Fluss und die Landschaft. Dann verabschiedete sich Othmar und ging in die Hütte zum Schlafen. Alpina blieb wachsam. Es war eine wunderbar stille Nacht. Nur wenige Male, als es in ihrer Nähe knackte oder Tierlaute in der unmittelbaren Umgebung der Hütte zu hören waren, wurde Alpina ein wenig mulmig. Sie lauschte dann intensiver, versuchte den Ursprung des Geräusches zu erkunden. Zum Glück erwiesen sich die Geräusche jedes Mal als ungefährlich.
    EInmal ging Alpina in die Hütte, legte Feuerholz nach und kehrte dann vor die Tür zurück.


    Als Alpina in der Hütte die ersten Geräusche der aufwachenden Pelzhändler vernahm, öffnete sie die Tür und schlüpfte zu den anderen. Ein wenig trockenes, altes Brot musste für das Frühstück reichen. Dann machten sie sich wieder auf den Weg.


    Alpina wurde bewusst, dass ihr das rhythmische Klappern der Eselhufe fehlen würde. Es war der stetige Taktgeber für ihr gemeinsames Tempo. Sie alle hatten sich darauf eingestellt und legten unbewusst ihre Strecke im Gleichklang mit den Eseln zurück. Die letzte Etappe gemeinsam...

  • Nach dem kurzen Frühstück ging es nun auf die nächste Etappe bis nach Novaesium. Erneut führte sie der Weg am Visurgis entlang, der sich stets zu ihrer Rechten dahinschlängelte. Die Esel wurden auch weiterhin mit kleinen Brotstücken bestochen, damit sie ein einigermaßen hohes Tempo halten konnten. Die Temperaturen waren zwar niedrig, doch bleiben sie auf ihrem Weg nach Novaesium weitgehend von unschönen Überraschungen verschont. Weder setzte ein starker Sturm ein, noch gab es den eiskalten Schneeregen des vergangenen Tages und da sie relativ nah am Wasser liefen, gab es keine Bedrohungen durch wilde Tiere. Auch Räuberbanden waren hier, so wusste es Othmar, eher selten, da sie besser in den tiefen, unübersichtlichen Wäldern angreifen konnten. So gingen sie Schritt für Schritt vorwärts, immer im Rhytmus der trappelnden Eselshufe, Bäume auf der linken, den Visurgis auf der rechten Seite, und folgten dem Strom des Flusses gen Norden.


    Irgendwann um die Mittagszeit, die Sonne hatte bereits ihren höchsten Punkt überschritten, sahen sie schließlich die ersten Ausläufer der Siedlung. Sie gehörte zu den größeren in der Umgebung, hatte einen eigenen Palisadenwall, der auf einem Erdwall stand. Ein Holztor gen Süden, das den Eingang zu der Siedlung bot, stand tagsüber immer offen und wurde von drei Männern bewacht. Zwei ältere standen neben einem jüngeren und blickten streng in die Umgebung.

  • Das Wetter hatte sich beruhigt. Doch wenn die Sonne nicht gerade hinter den Wolkenbergen hervorlugte, war es nochimmer kühl.
    An Othmars entspannter Haltung konnte Alpina erkennen, dass er keine größeren Gefahren erwartete. Er wirkte gar ein wenig erleichtert. Erleichtert darüber, dass er seine unberechenbare "Fracht" heil an ihr Ziel bringen würde?


    Tatsächlich erreichten sie bereits um die Mittagszeit die Siedlung, die man Novaesium nannte. Die beeindruckende Umwallung mit Palisade und Holztor machte deutlich, dass man sich hier gegen Angreifer zu wehren wusste. Vermutlich war das auch vonnöten. Alpina rief sich ins Gedächtnis, dass sie sich hier in einer heiß umkämpften Zone zwischen dem Gebiet der Marser und der Chatten befanden. Entsprechend grimmig sahen die drei bewaffneten Wachen am Holztor drein. Alpina zog es vor, sich hinter Hrothgar zu verstecken als sie sich dem Tor näherten.

  • Othmar trat als Anführer der Reisegruppe nach vorne neben die beiden Esel und ging als erster auf die drei Wachen zu. Er musterte kurz die Gesichter und sah, dass er keinen der Wächter kannte. Als sie das Tor erreichten, brachte Hrothgar die Esel zum Stehen und einer der Wächter, ein mittelalter, großer Mann kam auf sie zu, den Speer fest in der Hand, während die anderen beiden den Weg in die Siedlung versperrten.


    Heilsa! Wer seid ihr und was wollt ihr hier?


    Die Stimme des Mannes klang rauh und misstrauisch. Von einem Torwächter wartete sich Othmar aber auch nichts anderes.


    Heilsa! Mein Name ist Othmar und ich bin Pelzhändler. Dies sind meine Begleiter Wolfhart, Hrothgar und Alpina. Wir sind auf der Durchreise nach Chassella, wollen hier eine Nacht Unterkunft nehmen und unseren Proviant aufstocken.


    Der Torwächter blickte ernst und gab dem Händler zu verstehen, ihm zu folgen. Dann umschritt er den Wagen, schaute genau unter die Pelze und hob die Geldsäcke an. Auch klopfte er auf das Holz des Wagen, um nach Hohlräumen zu suchen. Othmar folgte ihm, wirkte dabei aber betont desinteressiert, da der Wächter nichts finden würde, was die Gruppe ins Zwielicht setzen würde. Als der Wächter den Wagen einmal umrundet hatte, besah er sich noch die Begleiter: Den bärenhaften Kerl hinter dem Wagen, den drahtig-athletischen Mann auf der rechten Seite und... er trat einen Schritt beseite... die junge rotblonde Frau, die etwas schüchtern wirkte. Bis auf den Hünen schien keiner eine Bedrohung zu sein und mit Blick darauf, dass es sich um einen Händler hatte, war es für ihn nur verständlich, dass er einen starken Beschützer dabei hatte. Dennoch kam man nicht so einfach in die Siedlung rein, schließlich gab es auch Anweisungen des Dorfoberhaupts.


    Kennt ihr jemanden im Dorf, der für euch bürgen kann?


    Ruhig lag der Blick des Wächters auf dem Pelzhändler und er erwartete die Antwort, von der es abhing, wie es hier weitergehen würde. Der Pelzhändler nickte nur.


    Der Gasthauswirt Berengar kann und wird für mich und meine Begleiter bürgen.


    antwortete er mit ruhiger Stimme und blickte dem Wächter auffordernd ins Gesicht. Der hielt dem Blick stand und nickte den anderen Wächtern zu. Sie gaben den Weg frei und der Wächter gab dem Händler zu verstehen, dass sie in die Siedlung gehen konnten. Hrothgar trieb die Esel an und sie traten an den Wächtern vorbei. In der Siedlung gingen sie sofort nach rechts und die nächste Straße nach links hinein und kamen nach einigen Schritten am Gasthaus des Berengar an.

  • Misstrauisch prüfte einer der Wachmänner den Wagen und die Begleiter des Pelzhändlers. Othmar musste sogar einen Bürgen nennen, um die Siedlung betreten zu dürfen. Dann endlich gaben die Wachen den Weg frei. Alpina hatte ein flaues Gefühl im Magen. Es war das erste Mal, dass man sie so unfreundlich begrüßt hatte. War das ein Hinweis auf die labile Sicherheitslage?


    Othmar schien sich jedoch nicht im Mindesten an der ruppigen Art der Wachen zu stoßen. Er gab Hrothgar ein Zeichen, die Esel anzutreiben und marschierte voraus.
    Den Wagen durch die engen Gassen führend, erreichten sie dann auch ihr Ziel. Ein Gasthaus. Es musste wohl das Gasthaus des Berengar sein, den Othmar zuvor als Bürgen genannt hatte.


    Seit ihrer Überquerung des Limes hatten sie nicht mehr in einem Gasthaus übernachtet. Und die Erinnerung an die letzte Übernachtung in einer Mansio, rief nicht eben gute Bilder in Alpina hervor. Auch wenn die Aussicht auf ein halbwegs ordentliches Lager sie eigentlich erfreuen sollte, fühlte sich Alpina angespannt. Sie beobachtete alle Gäste in dem engen Schankraum genau. Ungewohnt laut war es hier. Was hatte sie die Ruhe der vergangenen Tage doch genossen. Nur die Laute der Natur...
    Selbst in den Siedlungen, in denen sie bei den Dorfvorstehern untergekommen waren, war es nicht halb so laut gewesen, wie in dieser Schankwirtschaft.


    Sie versicherte sich also ihrer drei Begleiter und folgte ihnen zu einem Tisch an dem noch Platz für sie war. Das Reden überließ sie wie immer, wenn sie eine Unterkunft suchten, Othmar.

  • Vor dem Gasthaus suchte Hrothgar einen freien Platz im Stall für die Esel und den Wagen, während die übrigen bereits ins Haus traten. Dieses war gut gefüllt, auch schon um diese Uhrzeit und Hauptgesprächsthema war der Sturm vor einigen Tagen, der offensichtlich allen Siedlungen in der Umgebung zu schaffen gemacht hatte und auch hier noch als extrem wargenommen wurde. Othmar und Wolfhart suchten einen freien Tisch für vier Personen und als sie einen solchen gefunden hatten, trat Othmar zum Wirt. Dieser erkannte den Händler sofort und grüßte ihn freundlich.


    Othmar! Du bist also wieder hier. Was machen die Geschäfte?


    Der Händler nickte freundlich zurück, erzählte ein bisschen von seinen jüngsten Erfolgen und Misserfolgen bis hierher und fragte dann nach einem Zimmermit vier Betten. sie hatten Glück, eines der beiden großen Zimmer war grade frei geworden, sodass sie dieses haben konnten. Othmar lie sich für eine Nacht dort eintragen und bestellte für den Abend ein größeren Abendessen. Nach den Strapazen der letzten Tage wollte er seinen Begleitern etwas gutes tun und sie für die Diszplin belohnen. Auch Alpina sollte mal wieder etwas besseres essen, bevor sie weiter reisten. Zwar war das Essen in den bei den Dorfoberhäuptern immer gut gewesen, doch auch mit Verzicht verbunden, da sie mit dem Besuch ja nicht gerechnet hatten.


    Für den Mittag bestellte er aber erstmal zwei Kannen Wasser und vier Humpen Bier, die vom Wirt zum Tisch gebracht wurden. Nun setzten sich auch Othmar und Hrothgar dazu und tranken erstmal einen großen Schluck des frischen Bieres.


    So, Leute. Heute Abend gibt es noch ein gemeinsames Abendessen. Bis dahin habt ihr aber frei.


    gab der Händler von sich, lehnte sich in seinen Stuhl zurück und seufzte einmal laut auf.

  • Als es sich alle vier am Tisch des Gasthauses bequem gemacht hatten und der Wirt die Getränke brachte, sah Alpina irritiert auf die vier Humpen Bier. Wo sie doch auch sonst nie Bier trank, sollte sie jetzt sogar mittags einen Humpen voll trinken. Unvorstellbar, sie würde mit Sicherheit bald die Wirkung des Gebräus spüren. Doch natürlich wollte Alpina nicht unhöflich sein. Es war ja gut gemeint, ebenso wie die Ankündigung, dass es am Abend noch ein letztes gemeinsames Mahl geben würde.


    Überrascht ließ Alpina nach dem ersten Schluck Bier dem Humpen sinken. Othmar gab seinen Begleitern bis zum Abend frei. Eine schöne Geste. Nun, Alpina würde sich umsehen und vielleicht herausfinden, ob ihr jemand den Weg zu Osrun beschreiben konnte. Außerdem wollte sie gerne noch ein Geschenk für die Seherin kaufen. Sie hatte ja nichts mitnehmen können.


    Die Humpen der Männer waren erstaunlich schnell geleert und so schob Alpina ihren Humpen lächelnd Hrothgar hin, der neben ihr saß. Sie bediente sich stattdessen beim Wasser.


    Als alle aufstanden, um sich ihren freien Nachmittag zu gönnen, folgte Alpina den Männern nach draußen. Sie ging ein Stück mit ihnen, doch als sie einen kleinen Laden fand, der auffallend hübsche Zierscheiben und Haarnadeln aus Bein und Horn herstellte, blieb Alpina stehen und ließ ihre Begleiter weitergehen. Sie erstand eine Haarnadel mit einem Halbmond am Ende für sich selbst und eine weitere mit einer Blüte für Osrun. Geschickt steckte sie ihr langes Haar mithilfe der einen Nadel am Hinterkopf fest. Mit der Verkäuferin kam Alpina dann auch ins Gespräch. Sie fragte die Frau, ob sie von der Seherin Osrun gehört habe und ihr sagen könne, wo Alpina sie finden könne. Die dralle Blondine lächelte und nickte.
    "Warte ein wenig. Wenn mich später meine Tochter ablöst, kann ich dir zeigen, wohin du gehen musst", sagte sie.
    Alpina war überrascht. War es denn so nah? Sie hatte erwartet, noch mindestens einen Tag laufen zu müssen. Wie angewiesen, wartete Alpina. Sie setzte sich auf das leere Fass eines Fassmachers, der in seiner Werkstatt arbeitete, seine fertigen Produkte aber auf der Straße feilbot.


    Die Sonne war schon beinahe hinter den Dächern der Häuser verschwunden, als die erwartete Ablösung eintraf. Die Blondine nahm Alpina bei der Hand und führte sie zu dem von Palisaden gesäumten Wall. An einigen Stellen konnte man den Wall erklimmen und über eine hölzerne Konstruktion so hoch hinaufsteigen, dass man über die Palisade ins Land hinaus blicken konnte. Alpina sah den Visurgis und dahinter ein dicht bewaldetes Gebiet. Die Germanin streckte die Hand aus.
    "Siehst du dort? Den Berg da hinten?"
    Alpina folgte dem ausgestreckten Finger. Hinter dem Fluss und dem Wald konnte man schemehaft und dunkel, fast bläulich, eine Erhebung in der Landschaft erkennen. Ein Berg war allerdings in Alpinas Augen etwas anderes, doch sie hatte längst festgestellt, dass man hier jenseits des Danuvius jede kleinere Erhebung gerne als Berg bezeichnete. Also nickte sie.
    "Dort wohnt Osrun. Du musst den Visurgis überqueren und dann auf diesen Berg zuhalten. Sie lebt an einem Teich auf etwa halbem Weg zum Gipfel. Es ist ungefähr ein Tagesmarsch, wenn man gut zu Fuss ist."
    Alpina dankte der Frau und gab ihr noch eine Münze dazu. Dann machte sie sich auf den Rückweg zum Gasthaus. Sie freute sich auf das letzte Abendessen mit ihren Begleitern. Ein komisches Gefühl war es schon, jetzt wieder alleine weiterziehen zu müssen. Sie gab es nur ungern zu, aber irgendwie waren ihr die drei schweigsamen Gesellen ans Herz gewachsen.

  • Die Männer verbrachten ihren freien Nachmittag alls woanders. Während Hrothgar über den Markt streifte, ging Wolfhart zur Stadtmauer, um sich mit den Wächtern zu unterhalten und Othmar ging schnurstracks zu dem kleinen Hafen der Stadt, der vor allem Fischerbooten als Anlegestelle diente. Aber auch einzelne kleinere Handelsschiffe fanden sich dort. Othmar wollte sich bei jenen Händlern, die aus dem Norden kamen, erkundigen, wie die Lage dort war. Davon wollte er es abhängig machen, wie weit sie nach Chasella noch nach Norden reisen würde.


    Am Abend trafen sie sich dann zum gemeinsamen Abendessen. Die Wirtsstube war noch voller, als bei ihrer Ankunft, doch fanden sie noch einen Tisch, der sofort von Hrothgar in Beschlag genommen wurde. Berengar servierte derweil das Essen und die Getränke. Zwei Kannen warmen Met und zwei weitere Kannen mit Wasser. Als Vorspeise gab es frisch gebackenes Brot mit einem Quark-Kräuterdip. Der Alkohol löste die Zungen der Germanen, sodass sie nun immer immer mehr ins Gespräch kamen, sowohl untereinander, als auch mit den anderen Gästen.


    So, Mädchen, wie soll es jetzt für dich weitergehen?


    Er prostete Alpina zu und trank einen Schluck des warmen Met.

  • Die fröhliche Runde, das gute Essen und der warme Met lösten die Zungen der Germanen und Alpina erkannte verwundert, dass sogar Othmar in Plauderstimmung geriet. Sie erwiderte das Prosit und antwortete ihm:


    "Ich habe heute Nachmittag auf dem Markt eine Frau getroffen, die mir den Weg zu der Seherin beschrieben hat. Ich werde also morgen den Visurgis überqueren und dann auf den "Berg" zuhalten, der hinter dem Wald zu erahnen ist. Wenn ich mich ranhalte, dürfte ich gegen Abend dort sein. Zum Glück geht die Sonne ja inzwischen nicht mehr so früh unter."


    Sie sah in die Runde. Die Blicke verrieten ihr, dass die Männer es nicht besonders klug fanden, dass sie alleine gehen würde, doch Alpina hatte keine Angst... mehr. Sie war so kurz vorm Ziel ihrer langen gefährlichen Reise. Wenn die Unterirdischen gewollt hätten, dass sie ihr Leben verlor, dann hätten sie es sich sicherlich längst geholt. Alpina war davon überzeugt, dass es ihre Bestimmung war, den Weg zu Osrun zu gehen. Was danach kam, kommen sollte, stand in den Sternen...

  • Die Begleiter wirkten nicht eben glücklich mit dieser Entscheidung. Sicherlich würde sie in der Stadt jemanden finden, der - oder die - ebenfalls zu diesem Berg reisen würde. Doch hatte die junge Frau ja nun mehrfach bewiesen, dass sie umsetzte, was sie sich vorgenommen hatte. Zudem war es ja ab dem morgigen Tag nicht mehr das Problem des Pelzhändlers, wie es mit ihr weiterginge. Zwar war die junge Frau eine vertrauenswürdige, freundlich und engagierte Reisebegleiterin, doch hatte sie insbesondere mit dieser Geistergeschichte immer Gefahr für die Gruppe bedeutet. Also gut...


    Der Abend war auch weiterhin feucht-fröhlich und Stimmung wurde immer besser. Als sie jedoch auch das üppig-deftige Fleischspeise und den Nachtisch mit reichlich Honig aufgegessen hatten, trieb es sie nur noch in die Betten. Etwas schwankend stiegen sie die Treppen in den ersten Stock hinauf, traten in den Raum, verteilten schnell die vier Betten, schoben den Riegel vor und legten sich schlafen.

  • Nach dem deftigen Mahl und reichlich Met fielen alle vier wie die Steine in die Betten der Kammer, die Othmar für die Nacht angemietet hatte. Zu ihrem eigenen Erstaunen schlief Alpina schnell ein und dann auch tief.


    Der Morgen graute bereits als sie wach wurde. In den anderen Betten regte sich noch nichts, doch als Alpina genauer hinsahm konnte sie erkennen, dass Othmar bereits ein Auge riskierte. Auch ihn trieb die Unruhe aus dem Bett. In Kürze waren die anderen beiden geweckt. Nach der üblichen morgendlichen Katzenwäsche nahmen sie ihr Frühstück in der Schankstube ein. Sie waren nicht die einzigen, die an diesem Morgen früh aufbrachen.


    Gemeinsam mit Hrothgar holte Alpina die Esel und den Wagen. Wie selbstverständlich half sie noch beim Einspannen. Als sie dann aber gemeinsam das Holztor der Siedlung passiert hatten, blieben die Pelzhändler stehen. Es war an der Zeit Abschied zu nehmen. Mit einem tiefen Atemzug ging Alpina auf Othmar zu. Ihre Stimme war ein wenig belegt, als sie sich noch einmal bei ihm für die Begleitung bedankte.


    "Danke für alles, Othmar. Es war sicher nicht immer einfach mit mir und ich hoffe sehr, dass ich euch nicht allzu lange aufgehalten habe. Auf jeden Fall wünsche ich euch eine gute Weiterreise und einen guten Einkauf. Wer weiß, vielleicht laufen wir uns ja eines Tages wieder über den Weg. Es würde mich freuen."


    Sie drückte ihm die Hand und sah ihm mit festem Blick in die Augen. Er sollte wissen, dass sie zuversichtlich war, dass es ein Wiedersehen geben würde.
    Dann wandte sie sich an Wolfhart. Auch ihm dankte sie mit einem festen Händedruck. Zuletzt ging sie zu Hrothgar. Auch wenn er ihr nie etwas hatte sagen können, wusste sie doch intuitiv, dass gerade er am meisten Verständnis für sie gehabt hatte. Der Meister der nonverbalen Kommunikation hatte ihr immer das Gefühl gegeben, verstanden zu werden. Lang hielt sie seine Hand und seinen Blick. Dann kramte sie aus ihrer Manteltasche ein letztes, trockenes Brotstück hervor und überreichte es lächelnd.
    "Es wird dir sicher noch gute Dienste leisten", flüsterte sie.


    Ihr letzter Gruß galt den beiden Eseln, Primus und Secundus. Sie strich noch einmal über die weichen Schnauzen der Grautiere. Dann riss sie sich los. Sie schulterte ihre Rückentrage und schlug den Weg zur Brücke über den Visurgis ein. Als der Weg nach Norden abbog, warf sie verstohlen einen Blick zurück. Die kleine Gruppe der Pelzhändler hatte den Abzweig nach Chassella genommen. Sie waren schon kaum mehr zu erkennen.

  • Nach dem kleinen Frühstück traten sie nun gemeinsam ihren vorerst letzten gemeinsamen Weg an. Nur die Götter wussten, ob sie sich wieder sehen würden. Der Abschied fiel derweil nicht allzu groß aus. Die junge Frau verabschiedete sich von jedem einzelne, wobei Othmar noch die meisten Worte abbekam. Er nickte bedächtig und schüttelte ihre Hand.


    Ich wünsche dir alles Gute, Alpina, und wenn die Götter wollen, dass wir uns wieder sehen, werden sie das schon einrichten.


    sagte er mit einem freundlichen Lächeln. Wolfhart erwiderte den Händdruck Alpinas nicht zu fest - denn sonst hätte er ihr wahrscheinlich die Hand gebrochen - und Hrothgar freute sich, dass sie so lange bei ihm innehielt. Nie hatte er ihr sagen können, dass er Verständnis für sie hatte, doch glaubte er in ihrem Blick zu erkennen, dass sie es trotzdem wusste. Als die junge Frau dann ihren Weg gen Osten einschlug folgten Othmar und seine Begleiter der Straße weiter nach Norden, um ihre Geschäfte wieder aufzunehmen.

  • Schon nach kurzer Wegstrecke erreichte Alpina die Brücke über den Visurgis. Durch das Hochwasser war der Pegel soweit angestiegen, dass die Wellen des Flusses bereits kurz unterhalb der Bohlen dahinzogen, die auf den Brückenträgern auflagen. Sehr vertrauenserweckend sah das zwar nicht aus, doch was blieb Alpina übrig. Sie musste auf die andere Flussseite.
    Mit einem letzten Gedanken an die Nacht, in der sie mit Othmar vor der Hütte gesessen und den Fluss betrachtet hatte, betrat sie die Brücke. Welchen Fluss überquerte sie wohl?


    Zunächst zog sich der Weg noch breit gen Osten dahin. Der Wald wurde immer dichter. Und auch wenn ihr das Klappern der Eselshufe als Taktgeber fehlte, kam Alpina doch flott voran. Dachte sie erst, der Berg rücke kein bisschen näher, war bei ihrer Mittagspause doch schon zu erkennen, dass es nicht mehr sehr weit bis zum Fuß des Berges sein würde.
    Auf ihrer Strecke war sie bislang keinem weiteren Wanderer begegnet. Es war einsam und unendlich still in dieser Welt jenseits des Visurgis. Ab und an erahnte sie ein Tier in der Ferne oder vernahm ein Vogelzwitschern in den Zweigen über ihr. Gefährlich schien es jedoch nicht zu sein.


    Am frühen Nachmittag erreichte sie den Fuß des Berges. Hier teilte sich der Weg. Ein Teil verlief in der Ebene um den Berg herum, zumindest erahnte man das. Der andere, wesentlich schmalere Pfad lief in Kehren den Berg hinauf. Alpina wählte diesen Weg und verschwand schon bald im Wald, der sich an die Flanken des Berges schmiegte. Der Pfad folgte ein Stück lang einem sprudelnden Bergbach, der über Kiesel und bizarr geformte Felsen talwärts rauschte. Der Wald bestand aus Buchen, Eschen, Bergahorn und Ulmen. Im Unterholz konnte Alpina die ersten grünen Blätter an den Hollerbüschen erkennen. Auf großen Flächen breitete sich der Lärchensporn über dem Waldboden aus, dazu der Hahnenfuß, das Lungenkraut und der Aronstab. Märzenbecher blühten in großen Tuffs.
    Plötzlich öffnete sich ein Blick ins Tal des Visuris. Vor Alpina breitet sich das flache Land aus, mit seine Wäldern und Wiesen. In der Ferne konnte sie Novaesium erkennen. Ihr Blick schwenkte nach Norden soweit sie sehen konnte. Irgendwo dort waren ihre Begleiter unterwegs nach Chassella.


    Als sie weiterging kam sie an einem Felsenmeer vorbei, auf dem kein Bergwald wuchs. Diese kahle Stelle im Wald war nur von Farnen, Flechten und Moosen bedeckt. Hinter dem felsigen Gebiet wich der Laubwald einem Mischwald mit uraltem Baumbestand. Alpina trat in den Wald ein. Nach kurzer Wegstrecke öffnete sich der Wald und gab den Blick auf einen märchenhaft schönen Teich frei.



  • Alpina sog die Magie des Ortes förmlich in sich auf. Der Blick über den dunklen Teich, das Grün des Waldes, die zarten Farbtupfer der ersten Frühlingblumen auf den Wiesen rund um den Teich, alles war so traumhaft, so irreal. Weil sie den Verdacht hatte, zu träumen, begab sich Alpina ans Ufer des Teiches. Sie tauchte eine Hand ins Wasser. Es war eiskalt. Nein, sie war wach, eindeutig.


    Einige Zeit genoss sie einfach den Anblick und die Ruhe, die von diesem Ort ausging. So sehr, dass sich auch ihr aufgewühltes Herz beruhigte. Dann begann sie die Umgebung des Teiches abzusuchen. Hatte die Frau aus Novaesium nicht gesagt, dass Osrun an diesem Teich lebte? Alpina konnte keine Hütte sehen. Sie begann also, den Teich zu umrunden. An manchen Stellen standen die Bäume so dicht am Wasser, dass Alpina einen Umweg machen musste, doch meist konnte sie direkt am Ufer entlanggehen. Als sie wiedereinmal ein Dickicht aus Sträuchern umrundete, öffnete sich plötzlich der Blick auf eine kleine Lichtung. Dort am Waldrand lag eine niedrige, dunkle Hütte mit einem kleinen Kräuter- und Gemüsegarten sowie einem gemauerten Kuppelofen. Da keine Menschenseele zu sehen war, wandte sich Alpina zunächst dem Teich zu. Am Ufer stand eine einfache aus Stämmen und einem Brett gefertigte Bank, die einen herrlichen Blick auf den Teich und die Felsformationen des dahinter aufragenden Berges eröffnete. Alpina ließ sich nieder. Tief atmete sie die Luft ein und tränkte die Augen mit den Farben des Wassers und des Waldes.


    Sie war so in sich ruhend, dass sie förmlich erschrak, als sie von hinten jemand ansprach.


    "Es ist wirklich ein besonderer Ort, nicht wahr?"


    Auffahrend drehte sie sich zu der Stimme um. Hinter der Bank stand eine kleine und zarte Frau. Sie trug ein dunkelbraunes, langärmliges Kleid und eine Haube, wie Alpina sie schon oft bei den germanischen Frauen gesehen hatte. Ihr Gesicht war von tiefen Falten durchzogen, Wetter und Alter hatten deutliche Spuren hinterlassen. Die Fältchen in den Augenwinkeln deuteten jedoch darauf hin, dass sie Humor besaß.


    Aufgeregt stammelte Alpina, als sie die fremde Frau begrüßte.
    "Heilsa. Bist du Osrun?"


    Die alte Frau lächelte, setzte sich auf die Bank und gab Alpina ein Zeichen, sich neben sie zu setzten.
    "Manche nennen mich so. Aber ich habe schon viele Namen bekommen. Wenn du möchtest, nenne mich Osrun. Wie heißt du, Mädchen?"


    Alpina ließ sich neben Osrun nieder.
    "Ich heiße Alpina und ich bin so froh, dass ich dich gefunden habe..."


    Sie wollte ansetzten, der alten Frau die Geschichte ihrer weiten Reise zu erzählen, doch dann brach sie ab. Irgendwie war nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Stattdessen saßen die junge und die alte Frau schweigend nebeneinander und betrachten die Schönheit der Natur. Nach einiger Zeit begann Osrun zu sprechen.


    "Manche nennen diesen Teich die Heimat der Göttin Frigga, manche wollen die Göttin Hulda oder schlicht "Frau Holle" als Bewohnerin des Gewässers kennen. Die meisten aber erzählen von einer "weißen Frau", die hier über den Eingang zu einem unterirdischen Reich wacht. Sie sagen, die "weiße Frau" bringt denjenigen, die sich Kinder wünschen, die Seele eines Kindes aus den Tiefen des Wassers. Oder aber sie nimmt eine Kinderseele dort auf und macht sie zu einem "Heimchen". Wieder andere sagen, die "weiße Frau" tröstet die Frauen, die von ihrem Liebsten verlassen wurden..."


    Osrun schwieg wieder und Alpina dachte über das nach, was sie gesagt hatte. Irgendwie traf wohl alles ein wenig auf sie zu. Sie seufzte.
    Langsam senkte sich die Dämmerung über den magischen Ort. Osrun stützte sich auf und erhob sich ächzend.
    "Nun, meine Kleine, es wird langsam dunkel. Du kannst mir helfen, das Brot aus dem Ofen zu holen und dann mit mir in die gute Stube kommen. Willst du das machen?"


    Alpina nickte und nahm ihre Rückentrage. Sie half der Alten, zwei aus grobem Schrot gefertigte Laibe aus dem Ofen zu holen und trat dann nach ihr in die Hütte ein. Der Raum war klein und verfügte über nicht viel mehr als zwei Betten, eine gemauerte Kochstelle in der Mitte und einem kleinen Tisch mit zwei Stühlen. An den Wänden waren Regale mit den Gegenständen des Alltags und ein paar Vorratsgefäßen angebracht.


    Osrun legte die Laibe auf ein Holzbrett auf dem Tisch. Sie dampften noch. Dann nahmen beide einander gegenüber Platz. Der sanfte Blick der Alten ruhte auf Alpina. Sie streckte ihre faltigen Hände auf der Tischplatte nach Alpina aus.
    "Gib mir deine Hände", forderte Osrun die Junge auf.


    Alpina gehorchte. In dem Moment, wo Osrun ihre Hände ergriffen hatte, begann sich iAlpinas Sicht einzutrüben, Farben und Formen verschwammen und setzten sich neu zusammen. Bilder tauchten vor ihrem Auge auf. Sie sah sich als Kind vor dem Haus der Großmutter, sah ihre Mutter, die ältere Schwester und auch den Vater in seinem vollen Ornat. Die Bilder verschwammen, dann sah sie ihre Schwester, wie sie als glückliche Braut ihrem Bräutigam die Hand reichte. Wieder verschwammen die Bilder, nun war Alpina mit ihrer Mutter auf der Straße nach Mogontiacum unterwegs. Sie sah den freundlichen Atius Scarpus, der ihnen Unterkunft gewährte. Alpina konnte Bilder der Eröffnung ihrer Taberna Medica sehen, sie lächelte unwillkürlich. Wieder verschwanden die Bilder, wieder kamen neue Bilder. Ihr Stelldichein mit Marcellus im Garten, seine vielen zuckersüßen Worte, Beteuerungen, die erste Liebesnacht mit Folgen. Das nächste Bild zeigte sie über den Komposthaufen gebeugt, die Übelkeit der Schwangerschaft und die Tränke zur Abtreibung von sich gebend. Dann sah sie Curio, wie er kalkweiss an ihrem Bett saß, nachdem er sie in ihrem Blut gefunden hatte. Ein Bild von Runa und ihr beim Hagebuttenpflücken und schließlich eine ganze Reihe von Bildern aus der verhängnisvollen Nacht in der Casa Atia. Die Ereignisse, die sie so über alle Maßen aus dem Gleichgewicht gebracht hatten. Im sich auflösenden Bilderreigen erschienen noch Bilder ihrer Reise: die Brücke über den Rhenus sowie Othmar und seine Gefährten. Dann hörte der Bildersturm auf.


    Alpina atmete tief durch und als sich ihr Blick wieder klärte, sah sie in die traurigen Augen Osruns. Die alte Frau sagte kein Wort, doch Alpina war klar, dass sie wohl auf irgendeine magische Weise an ihren Bildern Teil gehabt hatte. Sie ließ Alpinas Hände los und brach das Brot, das inzwischen deutlich abgekühlt war. Schweigend aßen sie das Brot.


    Nach einer Weile fragte Alpina sie: "Kannst du mir helfen, Osrun?"


    Da legte die Alte ihre faltige Hand wieder auf Alpinas Hände. "Sicher. Wir finden einen Weg. Nur Mut."

  • In dieser Nacht schlief Alpina sehr unruhig. Die Alpträume quälten sie. Zwar wachte sie nicht schreiend auf, doch warf sie sich auf ihrem Bett unruhig hin und her. Als Osrun aufstand, um Feuerholz nachzulegen, öffnete Alpina ihre Augen. Die Alte Frau sah sie nachdenklich an, dann ging sie in ihr Bett zurück.


    Der kommende Morgen brachte zunächst ein karges Frühstück mit dem Brot vom Vortag. Sie spachen nicht, sondern hingen offenbar jede ihren Gedankengängen nach. Schließlich fragte Osrun.
    "Ich möchte heute waschen. Hilfst du mir dabei?"


    Natürlich würde Alpina helfen. Sie bejaht also die Frage und half dann sogleich, den Korb mit Wäsche nach draußen zu tragen. Auch Alpinas Wechselwäsche konnte eine Reinigung vertragen.
    Es war neblig. Der Nebel klebte förmlich am Berg und auf den Wiesen rund um den Teich. Alpina fröstelte. Sie zog die Tunika unter ihrem Gürtel so hoch, dass ihre Beine bis über die Knie frei waren. Dann stieg sie beherzt ins eiskalte Wasser. Den ersten Kälteschmerz überwindend atmete sie tief durch. Osrun reichte ihr Stück für Stück die Wäsche. Alpina reinigte sie mit klammen Fingern. Als alle Stücke gewaschen waren, kletterte Alpina über die schlammige Uferzone aus dem Wasser. Arme und Beine waren feuerrot von der Kälte.


    Unbeeindruckt wies die alte Frau Alpina an, ihr beim Auswinden der Wäsche zu helfen. Danach hängten sie die Wäschestücke in die Bäume rund um die Lichtung oder legten sie auf der Wiese aus. Alpinas skeptischen Blick zum Himmel beantwortete Osrun mit einem Lächeln.
    "Die Sonne wird schon noch herauskommen. Keine Sorge."


    Flink pflückten sie einige Minzeblätter, die in der Uferzone wuchsen und gingen in die Hütte zurück, um sich einen warmen Tee zu bereiten. Als Alpina den Becher mit der warmen Flüssigkeit in den Händen hielt und der erste Schluck des heißen Gebräus ihre Kehle hinunterrann, begann sie langsam wieder Gefühl in Händen und Füßen zu bekommen.


    Nach einiger Zeit schien Osrun beschlossen zu haben, dass Alpina nun warm genug sei, um die nächste Aufgabe zu beginnen. Sie holte einen Korb in dem Naturwolle und einige Spindeln lagen.


    "Kannst du spinnen?", fragte sie.


    Alpina nickte. Es war zwar schon eine Weile her, dass sie das letzte Mal eine Spindel in der Hand gehabt hatte, doch tatsächlich hatte sie vor allem im Haus ihrer Großmutter die Abende häufig mit dem Drehen der Spindel verbracht und sich dabei gar nicht so ungeschickt angestellt. Seit sie jedoch in Mogontiacum gelebt und mit der Tabern Medica so viel Arbeit gehabt hatte, war sie nicht mehr zum Spinnen gekommen.
    Osrun nahm sich eine Spindel und drückte auch Alpina eine zarte Holzspindel in die Hand. Ein dünnes Fädchen war in nur wenigen Windungen daraufgesponnen. Alpina griff nach der Wolle und wollte die Arbeit fortsetzten, doch kaum hatte sie den Faden zwischen den Fingern gedrillt, riss er schon ab. Ärgerlich versuchte sie ihn wieder anzustückeln, um das Spinnen fortsetzen zu können. Doch so sehr sie sich auch anstrengte, es wollte nicht gelingen.
    Sie sah wie Osrun mit unglaublicher Leichtigkeit die Spindel drehte und die Wolle zum Faden drillte. Verzweiflung flutete in Alpina hoch. Erneut setzte sie an. Das konnte doch nicht wahr sein! Wieso ging das einfach nicht?


    Nach einigen vergeblichen Versuchen ließ sie enttäuscht die Spindel sinken.
    "Ich verstehe das nicht. Es will mir einfach nicht gelingen, diesen Faden fortzuspinnen."


    Osrun lächelte sanft. "Kennst du die Nornen, Alpina?"
    Alpina nickte. Auch wenn die Griechen sie Moiren und die Römer Parzen nannten, so waren die drei Schicksalsgöttinnen, die den Lebensfaden woben, trotz ihrer unterschiedlichen Namen Ausdruck des gleichen Leben-bestimmenden Prinzips.


    "Eine Esche weiß ich, heißt Yggdrasil,
    Den hohen Baum netzt weißer Nebel;
    Davon kommt der Tau, der in die Täler fällt.
    Immergrün steht er über Urds Brunnen.


    Davon kommen Frauen,vielwissende,
    Drei aus dem Seedort unterm Wipfel.
    Urd heißt die eine,die andre Verdandi:
    Sie schnitten Stäbe;
    Skuld hieß die dritte.
    Sie legten Lose,
    das Leben bestimmten sie
    Den Geschlechtern der Menschen,
    das Schicksal verkündend."


    Osrun verstummte wieder und sah Alpina lange an.
    "Warum kannst du diesen Faden nicht weiterspinnen, Alpina?"


    Alpinas Kehle wurde trocken.
    "Weil ich ihn selbst abgerissen habe?"


    "So ist es", antwortete die Alte. "Du versuchst immer wieder, diesen Faden fortzuspinnen, der nicht mehr zu retten ist. Alpina, du musst loslassen! Nur wenn du akzeptierst, dass dieser Faden abgerissen ist, können eure beiden Seelen zur Ruhe kommen. Du musst dein getötetes Kind loslassen. Gib es frei!"


    Traurig ließ Alpina die Spindel sinken. Sie wusste, dass Osrun das aussprach, was sie schon lange in ihrem Herzen wusste, sich aber immer davor gefürchtet hatte.

  • Osrun stand auf. Sie gab Alpina ein Zeichen, ihr zu folgen. Als sie durch die Tür der Hütte nach draußen traten, empfing sie gleißendes Sonnenlicht. Die alte Frau hatte mit ihrer Wetterprognose recht gehabt. Am Ufer des Teiches blieb Osrun stehen. Sie deutete auf die Spindel, die Alpina in den Händen trug.


    "Leg deine Kleidung ab und nimm die Spindel mit ins Wasser. Wer weiß, vielleicht kannst du die weiße Frau sehen..."


    Gehorsam legte Alpina ihre Kleidung ab. Sie nahm die Spindel wieder auf. Dann stieg sie zum zweiten Mal an diesem Tag in das eisige Wasser. Jeder Schritt wurde zur Qual, vor allem als das Wasser über ihr Becken hinaus den Bauch berührte. Sehr plötzlich wurde das Wasser tiefer. Alpina blieb stehen. Nach einer Weile beruhigte sich der Wasserspiegel. Die Wellen, die sie durch ihre Bewegung aufgeworfen hatte, entfernten sich. Alpina konnte ihr Spiegelbild im Wasser erkennen. Sie betrachtete sich einige Zeit, fragte sich, wer die junge Frau war, die ihr entgegensah. Als nichts geschah, drehte sich Alpina nach Osrun um. Doch die alte Frau war verschwunden, das Ufer war leer.
    Nachdem sie sich wieder nach vorne gedreht hatte, erkannte sie, dass sich ihr Spiegelbild verändert hatte. Eine weiße Gestalt sah ihr aus dem Wasser entgegen - die weiße Frau!
    Alpinas Herz machte einen Sprung. Gebannt starrte sie auf die feengleiche Frauengestalt, die ihr aus der Tiefe die Hände entgegenzureichen schien. Plötzlich verstand Alpina, was die weiße Frau von ihr wollte. Sie ließ die Spindel ins Wasser fallen. Und obwohl sie aus ganz leichtem Holz gefertigt war, ging sie doch unter, sank der weißen Frau geradewegs in die Hände. Es schien als lächle die Gestalt im Wasser.
    Ein Wind kam auf und sanfte Wellen begannen die Wasseroberfläche zu kräuseln. Die Gestalt der weißen Frau verschwamm, wurde undeutlich. Als sich der Wind gelegt hatte und die Teichoberfläche sich wieder glättete, blickte Alpina nur noch ihr eigenes Spiegelbild entgegen.


    Nun nahm sie die Kälte des Wassers wieder wahr. Sie fror. Mit einem letzten Blick auf die Stelle, an der die weiße Frau die Spindel entgegen genommen hatte, drehte sich Alpina um und watete zum Ufer zurück. Dort wartete Osrun bereits mit ihrer Kleidung auf sie. Schweigend hüllte sich Alpina in ihre Kleider und schritt an der Seite der Alten zur Hütte zurück.


    In dieser Nacht schlief Alpina so tief und fest wie schon lange nicht mehr.

  • Am kommenden Morgen frühstückten die beiden Frauen einen nahrhaften Getreidebrei. Sie sprachen wenig. Doch nachdem Alpina Osrun beim Abwasch geholfen hatte, eröffnete die alte Frau das Gespräch.


    "Ich möchte heute Brennnesseln für eine Suppe sammeln. Ein gutes Vorkommen ist etwa eine Stunde Fußmarsch von hier entfernt an einem ganz besonderen Ort. Möchtest du mich begleiten?"


    Und ob Alpina das wollte. Sie nickte also eifrig.
    Mit einem Korb bewaffnet, machten sich die Frauen auf den Weg. Nach einer einfachen Brücke, die nur aus zwei Holzbrettern bestand, die einen Bach überquerten, ging es in Serpentinen bergab. Dann überquerten sie eine Wiese. Am Waldrand konnte Apina schon die Brennnesseln erkennen. Osrun und Alpina benutzen den Stoff ihrer Kleider, um nicht von den Brennhaaren lädiert zu werden und pfückten eifrig die frischen, grünen Blätter. Bald hatten sie eine ausreichende Menge beisammen.


    Die alte Frau bedeutete Alpina mit ihr zu kommen. Sie betraten erneut den Bergwald. Wieder ging es steil abwärts. Plötzlich standen sie auf einer Lichtung vor einer bizarr anmutenden Felsformation.



    Gebannt starrte Alpina die wie abgeschliffen wirkenden Felsnadeln an, die in der Mitte eine spaltartige Öffnung freigaben. Wahrlich, wieder so ein magischer Ort. Als sie sich Osrun zuwandte, lächelte die alte Frau.
    "Meinst du, du findest alleine zurück? Dann würde ich schon einmal vorausgehen. Bleib du ruhig noch ein wenig hier..."


    Es war eindeutig, dass Alpina bleiben sollte. Sie nickte also. Schon wenig später war Osrun verschwunden. Alpina sah sich um. Sie fasste die Felsen an, spürte die Beschaffenheit des Steins, genoss die Magie des Ortes. Als sie sich wieder umdrehte, saß auf der Lichtung eine Gestalt - eine Frau mit langem dunkelblondem Haar. Sie flocht einen Kranz aus Gänseblümchen.



    Als Alpina näher trat, stand die Frau auf und kam auf Alpina zu. Alles an ihrer Gestalt wirkte blass, fast durchscheinend. Sie war wunderschön. Mit einem Lächeln setzte sie Alpina den Blumenkranz auf.
    "Hier, für dich, Alpina", sagte sie.


    Mit offenem Mund starrte Alpina die feengleiche Erscheinung an.
    "Du kennst meinen Namen? Aber ich glaube nicht, dass wir uns schon begegnet sind..."


    Die junge Frau kicherte. "Viel mehr noch, Alpina, viel mehr! Du hast mir das größte Geschenk gemacht, das eine Frau geben kann. Du hast mir für eine Nacht deinen Körper geliehen, damit ich noch ein letztes Mal mit meinem Geliebten vereint sein konnte."


    Sprachlos starrte Alpina die schöne, junge Frau an. "Alwina?", hauchte sie.
    Ihr Gegenüber nickte. "So hieß ich, ja. Ich danke dir aus tiefstem Herzen dafür, dass du mir die Möglichkeit gabst, Abschied zu nehmen. Uns war kein Abschied gegönnt. Er zog in den Bürgerkrieg, ich blieb zurück... und dann durchtrennten die Schicksalsschwestern meinen Lebensfaden."
    Eine Träne glitzerte in ihrem Augenwinkel. Alpina streckte die Hand aus und wollte Alwina am Arm berühren, doch sie fasste ins Leere. Erschrocken zog sie die Hand zurück.


    "Nicht nur an diesem Abend, sondern eigentlich jedes Mal, wenn ich Corvinus traf, hat er deinen Namen im Mund geführt. Er liebt dich noch immer so sehr..."


    Alwina nickte. "Ja, er ist ein ganz besonderer Mann. Deshalb war es so wichtig für uns, noch einmal zusammen zu sein, einmal wirklich Abschied zu nehmen. Ich danke dir für dieses Geschenk."


    Alpina war es eher peinlich, hatte sie doch Alwina immer um diese tief empfundene Liebe beneidet und nun dankte sie ihr, ausgerechnet ihr dafür, dass sie eine Nacht mit Corvinus verbringen durfte... es schien ihr nicht richtig so.


    "Werde ich jemals eine solch innige Liebe erleben? Eine die bis über den Tod hinaus andauert? Werde ich das, Alwina?", fragte sie zweifelnd.


    "Ich hoffe es, Alpina. Ich hoffe es sehr."
    Sie stand auf. "Ich muss nun gehen und du auch. Es ist schön, dass ich mich bei dir bedanken durfte. Doch mein Weg führt nun endgültig durch dieses Tor dort in die Anderswelt. Du darfst bleiben..."


    Mit einem wehmütigen Ton in der Stimme, drehte sich Alwina um. Sie ging auf den Spalt in dem bizarr geformten Felsenmeer zu und verschwand darin. Alpina blieb allein zurück. Nachdenklich machte sie sich auf den Rückweg zu Osruns Hütte am Teich.

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