Nach einer langen Reise

  • Plautus lächelte breit: "Na klar kannst Du da Wetten abschließen. Dieser Decrius Pandus betreibt gleich neben seinem Brettertheatrum ein Wettbüro unter dem Namen Phaenomenius Lumpus. Er ist damit stinkreich geworden."


    Das Thema Klientschaften wollte Plautus nun aber nicht mehr weiter breit treten. Er visierte einen Themenwechsel an.


    "Du hattest da vorhin von Geschäften gesprochen. Da wollte ich mich nicht drauf einlassen, weil ich noch im Stress herumhing. Nach der Massage bin ich da ein bißchen aufgeschlossener. Also Du machst Töpfe und ich steche Ton. Könnten wir da nicht ins Geschäft kommen?"

  • "Dann werde ich mir den Laden auf jeden Fall mal anschauen." meinte Valens und grinste. Er musste sich nur beherrschen nicht all zu Geld zu verwetten. Momentan hatte er außer seinen Betrieben keine richtige Einnahmequelle. Den Themenwechsel quittierte Valens mit einem Schulterzucken, was bei der Massage jedoch nicht weiter auffiel.


    "Nun ich steche auch selber Ton. Aber das Problem ist, dass meine Tongruben nicht genug liefern. Wenn das Geschäft läuft, könnte ich jede Woche zusätzlich 300 Pfund Ton verarbeiten. Jetzt stehe ich vor der Wahl, ob ich eine neue Grube erschließe. Aber das würde mehr als drei mal so viel produzieren, wie ich brauche. Von daher können wir schon ins Geschäft kommen."

  • "Dann wünsche ich Dir viel Vergnügen, Fabius. Ich selber mag keine Wetten. Das liegt vielleicht daran, dass ich mit Messwerten umgehen muss, zum Beispiel, wenn wir das Gefälle von Wasserleitungen berechnen. Da sind keine Beliebigkeiten gefragt, sonst landen wir in der Culina des Hades."


    Was das Geschäft mit dem Ton anging, hob Plautus erst mal seine Augenbrauen, dann meinte er: "Das mit dem Ton sollte kein Problem sein. Ich werde Dir ein persönliches Angebot über dreihundert Pfund zum empfohlenen Preis bereitstellen. Wenn Du Ton brauchst, kannst Du's ja abgreifen. Was hältst Du davon?"

  • "Ich seh schon du nimmst deine Arbeit ganz genau. Aber bei der Wasserversorgung ist das wohl auch besser so. Immerhin hängt die ganze Stadt an euren Wasserleitungen. Und die Brühe aus dem Tiber würde ich mir auch nicht in den Becher gießen wollen." meinte Valens, denn als er vor kurzem etwas am Tiber entlang spaziert war, hatte ihn fast der Schlag getroffen. Aus Mantua und Alexandria war er anderes gewöhnt.


    "Das hört sich gut an. Gerade weil ich dann meine Produktion auch noch etwas variieren kann. Ich habe nicht die Reserven um wochenlang weiterproduzieren zu lassen, wenn wenn das Geschäft mal nicht so läuft. Von daher schlage ich gerne ein." Dann streckte Valens seine Hand zu dem Sergier herüber, sodass er einschlagen konnte.

  • "Gemacht!", sagte Plautus und schlug ein. "Wir sollten mal gelegentlich weiter über Geschäftliches reden, aber erst mal muss ich noch raus aufs Land. Wird wohl eine staubige Angelegenheit. Gleich morgen früh geht's los. Jetzt muss ich noch mal schauen, ob meine Apparitores die Ausrüstung richtig zusammen gestellt haben. Ich melde mich, wenn ich zurück bin, Fabius. Bis dann, vale!"

  • Erscheinung war Kostümierung, so dass Stella sich stets an ihre Situation anpasste. Stella verkleidete sich gerne, spielte gerne groß auf oder auch mal klein. Sie war nur eine Schauspielerin auf einer merkwürdigen Bühne. Allein in der Welt, allein in dieser Stadt, mit einer losen Hoffnung, gab es nichts, was sie hielt oder zurückhielt. Alles war ihre Bühne, auch wenn Bilder sie leiteten. Bilder, die oft klar und manchmal verschwommen waren. Hier war sie, sich vorbereitend auf den Tag, an dem sie eine Person konfrontieren würde, die sicherlich Geheimnisse hatte und sicherlich mehr über die Vergangenheit berichten konnte, als jeder andere. Eine Person, die ihrem Vater ein Versprechen gegeben hatte, welches sie nun einfordern musste. Wirklich einfordern, damit sie ihrem Ziel näher kam. Aber bis dahin galt ihr diese Bühne. Stella ließ sich fast durch das Wasser treiben, denn sie hatte ein solches Wunder in ihrem Leben zuletzt vor Jahren gesehen. Diese Therme war großartig. Und sie eignete sich, Frauen zu beobachten, um sich ihre Verhaltenweisen anzueignen, damit sie eine neue Rolle erlernen konnte. Stella musste ihr Verhalten imitieren, damit sie sich als etwas ausgeben konnte, damit man ihr glauben schenkte. Ihre Augen waren also offen und wach. Es gab viel zu lernen.

  • Valeria Maximilla war lange nicht mehr in den Agrippathermen gewesen. Zu sehr lastete die Erinnerung an diesen unbeschwerten Tag und den tragischen Verlust von Iulia Phoebe auf ihrem Gemüt.


    ( Und auch die unerwartete Abreise von Viridomarus, den sie für ihren besten Freund gehalten und der ihr nicht einmal eine kleine Nachricht hinterlassen hatte. Mit einem Mädel vom Land konnte man es ja machen. Anderseits hatten sie auch so den handfesten Skandal vermieden, den "Eine Valeria lässt sich mit einem Peregrinus ein" ergeben hätte....)


    Aber es half nichts, die Valeria konnte sich nicht auf ewig in ihrer Casa verkriechen. (Nur ihren Studien war es zugute gekommen, Maxi hatte in allem Fortschritte gemacht).
    Heute war sie also wieder in die Therme gekommen. Im Apoditerium hatte sie sich umgezogen, ihre Kleider in die Nische getan und suchte nun nach ihrer körperlichen Reinigung das Tepidarium auf.
    Ihre Holzsandalen klapperten auf dem Fliesenboden, als sie zum Becken hinlief. Dort ließ sie sich in das lauwarme Wasser gleiten und bewunderte einen Moment lang die Deckengemälde.
    Ihr gegenüber befand sich eine junge Frau, vielleicht etwas älter als sie selbst. Ihre Blicke begegneten sich. Der jungen Frau schien nichts zu entgehen, sie beobachtete alles.


    Maximilla sprach sie an: "Salve, herrlich hier, nicht?"

  • Das Wasser war eine Wohltat, wenn nicht sogar ein kleines Wunderwerk für die Tiberia, die auf ihrem Landgut nahezu keine Möglichkeit hatte, ein echtes Balneum zu besuchen. Die Wohltat lenkte sie inzwischen auch von ihrer selbstgesetzten Mission ab, die anwesenden Frauen zu studieren. Ein Studium dessen Stella viel zu schnell überdrüssig wurde, da das Verhalten der meisten seltsam eintönig war und nur aus sich wiederholenden Gesprächen und Gesten bestand. War es wirklich so einfach? Stella grinste frech und zynisch über diese Frauen, die sich von ihr sicherlich derart unterschieden, dass eine ausführliche Gesprächsführung für beide Seiten nicht von Vorteil war. Mit einer schnellen Handbewegung fuhr sie sich über die Stirn und dann durch die Haare. Sie entschloss sich für einen Moment die Augen zu schließen, einen Moment der Ruhe zu finden, damit sie nicht in ein gehässiges Lachen ausbrach. Besonders die Frauengruppe unweit hatte in ihr eine üble Gehässigkeit geweckt. Dennoch wollte sie nicht unangenehm auffallen. Es blieben nur gehässige Gedanken. Als Stella ihre Augen wieder öffnete, begegnete ihr Blick einer anderen Frau, die sie unmittelbar ansprach. Es war vorbei mit der Ruhe. Jetzt musste Stella ihre Konversationsfähigkeiten aktivieren, die ihr Vater einst schulen wollte aber leider war ihr Vater selbst kein großer Redner gewesen, viel zu nüchtern und eisern. Emotionen zu vermitteln war schwierig und andere zu begeistern oder zu unterhalten, noch ungemein schwerer. Stella konnte sicherlich plappern aber nicht wirklich plaudern. Einfache Gespräche konnte sie nicht, da sie oft in ihre seltsamen Gedanken abtrieb, die oft fantasievoll und sprunghaft waren. Langweilige Gespräche ohne Fundament waren ihr einfach zuwider. Das hatte sie insbesondere auf dem Land gehasst. "Salve," entgegnete Stella mit einem falschen Lächeln, etwas, was sie konnte. "Es ist wunderbar!" Die Antwort war ehrlich aber gab keine weiteren Impulse in Richtung eines Gespräches. Das wurde Stella schlagartig bewusst. "Stella," stellte sie sich knapp vor und hoffte damit die römische Höflichkeit bedient zu haben, die sie selbst im Exil abgelegt hatte. Dennoch musste sie diese Höflichkeit erneut erlernen, damit die junge Frau in der Gesellschaft irgendwie überleben konnte. Es war eine gute Gelegenheit das elende Plaudern zu erlernen.

  • „Salve Stella, ich bin Valeria Maximilla“, stellte sich Maximilla vor und lächelte.


    Die andere junge Frau wusste nicht, wie schwer sie das Lächeln gerade ankam. Sie hatte die ganze Zeit das Gefühl, eine unsichtbare Iulia Phoebe an ihrer Seite zu sehen, die sich in der Bronzespiegelung einer Säulenverzierung nahe des Beckenrandes Grimassen schnitt und ihr Haar auf verschiedene Weise, als wäre sie ihre eigene Ornatrix, hochsteckte und so fragte die Valeria:
    „Meinst du auch, dass Honig wirklich gut für das Haarwachstum ist, wenn man es sich in die Spitzen schmiert?“


    Schon im gleichen Augenblick verwünschte sich Maximilla. Sie wurde knallrot. Weshalb redete sie ohne Sinn und Verstand?
    Die Andere musste sie für völlig überdreht halten, und so sagte sie als nächstes:
    „Ist man, wenn man tot ist, wirklich nur ein Schatten im Hades? Ich stelle mir das höchst unangenehm vor.“
    Das machte es jetzt wohl noch schlimmer. Valeria Maximilla war entschieden noch nicht gesellschaftsfähig. Sie hätte zuhause hinter ihren neuentdeckten Schriftrollen bleiben sollen.


    Vor lauter Verlegenheit tauchte sie unter und hielt die Luft an. Dann kam sie unter der Wasseroberfläche hoch und hoffte, dass diese Stella ein ausgesprochenes Kurzzeitgedächtnis hatte.
    „Wenn du nachher massiert werden möchtest, Stella, nimm nicht Ovidia, sagte sie in höflichstem Plauderton und kreuzte hinter ihrem Rücken die Finger, um Frigg zu bitten, sie vor weiteren unpassenden Bemerkungen zu bewahren.
    „Ovidia bricht einem fast das Kreuz.“
    Wieder lächelte sie ausgesprochen freundlich:

  • Stella glaubte wirkliche eine dieser römischen Frauen vor sich zu haben, die nur über ihre Haare und Kleider sprachen. Furchtbar. Wirklich ein Albtraum, dass Maximilla genau dieses Vorurteil bestätigte mit ihrer Frage. Stella wollte abtauchen aber sich nicht die Blöße der Flucht. Jetzt musste sie improvisieren. Es fiel ihr schwer. "Ehm," machte sie, um sich etwas Bedenkzeit zu erkaufen. "Ich glaube, dass es helfen kann. Ich benutze auch eine Mischung aus Tonerde und Honig," war die schnell zusammengebaute Antwort. Ein falsches Lächeln wurde entsprechend angehängt, während ihre Augen zum wunderschönen Deckmosaik flüchteten. Es war wunderschön! Als die Augen zum Gespräch zurückkehrten, stellte Stella fest, dass Maximilla inzwischen knallrot geworden war. Urplötzlich traf Stella eine unvorbereitete Frage, die garnicht ins Bild passte. Maximilla durchbrach die Plauderei und überfuhr Stella regelrecht. Stella, um sich zu besinnnen, warf sich ein wenig Wasser ins Gesicht. Diese Frage hätte auch sie selbst stellen können aber nicht in diesem Kontext. Maximilla entpuppte sich als Rätsel. Stellas Vorurteile funktionierten nicht mehr. Natürlich hatte sich Stella diese Frage nach dem Tod auch gestellt. Sie selbst betete ja zu Pluto, den einzigen Gott, der wahrlich Macht über alle besaß. "Wir sind alle nur Schatten, Maximilla. Alle nur Gefangene einer endlosen Abfolge von Ereignissen," war die Einleitung ihrer Antwort. "Pluto holt uns irgendwann alle. Doch das ist nicht wichtig. Was wir im Leben tun, hallt in der Ewigkeit. Solange wir in Erinnerung bleiben, stirbt das, was wirklich waren, niemals. Und selbst wenn wir vergessen werden, hatte unser Ende stets einen Sinn, denn wir waren hier. Ein Ende ist ein Ende und was wirklich geschieht, wenn Pluto uns holt..." holte sie aus und verlor das Lächeln aus ihrem Gesicht, was ohnehin nur gefälscht war. "Das kann nur Pluto selbst sagen. Ob es ein Elysium gibt, einen Hades, oder ob wir einfach verschwinden... - Niemand weiß es." Stella nickte Maximilla zu. Noch immer war ihr Pluto eine Antwort schuldig. Noch immer wartete sie darauf, dass der Todesgott sich offenbarte und ihr antwortete. Doch Stella war sich sehr wohl klar, dass sie eine Antwort vom Tod erhalten würde. Schließlich tauchte sie unter und tauchte mit einer völlig konträren Aussage wieder auf. Stella war nun verwirrt. "Öh...!" Es schafften nur wenige, Stella vollständig zu verwirren aber Maximilla hatte es in wenigen Minuten geschafft. "Können wir bei einem Thema bleiben?" Stella wollte wirklich beim spannenden Thema Tod und Geister bleiben, denn das war deutlich interessanter als Haare oder Massagen.

  • Maximilla hatte Stella weder nach ihrer Gens noch ihrem Stand gefragt. Im Wasser selbst sah man niemandem seinen Status an. Erst hinterher konnte man Reichtum an der Anzahl der Sklavinnen, an den kostbaren Ölen und feinen Handtüchern ablesen.
    Ob Stella wohl viele Sklavinnen dabei hatte? Oder selbst eine war? Egal, sie hatte interessante Ideen.


    Mit schräg gelegtem Kopf lauschte Maximilla:
    „Wir waren hier, das klingt schön.“, sagte sie:
    „Nur wer wird davon künden, wenn wir keine großen Taten vollbringen? Schau, ich hatte eine Freundin, Iulia Phoebe. Sie war noch nicht verheiratet, hatte keine Kinder. Nun ist sie tot, ermordet worden auf der Straße. Sie war voller Leben und Pläne und Gelächter und Freude auf ihre Zukunft. Manche hielten sie für hochmütig, aber als ich neu in Rom ankam, war sie sehr lieb mit mir. Wo ist das hin, Stella? Hört ein Mensch einfach so auf? Noch denke ich täglich an sie, aber es wird schon weniger und irgendwann werde ich nur noch einmal im Jahr an sie denken.
    Pluto macht mir Angst. Wenn es stimmt, was sie erzählen, ist er ein Despot im Schattenreich und lässt uns ewig wie dummes Gras auf der Asphodeloswiese herum stehen!“

    Fast zornig verdrehte Maximilla die Augen:
    „Oder wird man wiedergeboren? Viele Völker glauben das. Die Germanen glauben sogar, dass die Welt mit allem was darauf ist und die Götter irgendwann sterben und dann beginnt alles von Neuem mit einem Sonnenaufgang.“
    Die Valeria schenkte Stella einen forschenden Blick:
    „Entschuldigung, dass ich dich mit so düsteren Themen zutexte.
    Tiberius, das ist mein Cousin, bei dem ich lebe, würde mir empfehlen, meine Lektüre zu wechseln.
    Ich lese gerade nur so Zeug.
    Das wir alle schon Schatten sind und nur Gefangene einer endlosen Abfolge von Ereignissen, das klingt so, als würdest du Pluto regelrecht verehren?“

  • Wie schnell sich doch Dinge wandeln konnten. In einem Moment sprach die beiden Frauen noch über Haarpflege und im anderen über den Tod. Stella mochte das. Immerhin hatte sie ja ihre eigene Geschichte mit dem Tod. Im Gegensatz zu vielen anderen, sah sie Pluto sogar als Verbündeten. Denn mit der Zeit würde auch die zur Rechenschaft ziehen, die ihrer Familie Leid angetan hatten. Der Tod war der Gott der Götter, denn in ihrer Unsterblichkeit verstanden die Götter Sterblichkeit nicht und Pluto brachte diese Sterblichkeit. Stella beäugte die Valeria, während sie sprach. Auch Valeria schien von einem Schicksalsschlag schwer betrübt, was eine gemeinsame Brücke zwischen beiden Frauen baute. "Das ist schrecklich!" Dies war ihr Kommentar, den sie sehr ehrlich meinte und ihr Gesichtsausdruck vermittelte dies auch. Dennoch wollte sie Valeria helfen, sich nicht in der Trauer zu verlieren. Stella selbst hatte viele Jahre getrauert, sich den dunklen Gedanken hingegeben, war verzweifelt und hatte sogar überlegt, ihren Verwandten ins Jenseits zu folgen. Doch am Ende hatte sie Pluto höchstselbst gerettet, indem er ihr ein Bewusstsein für das Ende gab. Ein Ende gab immer Sinn und ein Leben, welches gelebt war und freilich endete, war ein echtes Leben. Erinnerung war der Schlüssel, auch wenn sie schmerzhaft war.


    "Iulia Phoebe lebt weiter. In deiner Erinnerung und ihr Ende, so grausam es auch war, lässt sie für immer als die Person leben, die sie zu diesem Zeitpunkt war, Valeria," erklärte Stella überzeugt. "Lass' das furchtbare Ende nicht überschatten, welcher Mensch diese Iulia für dich war. Sie hat deinen Weg geprägt, dich begleitet, und nun begleitet sie dich als Gedanke, der vielleicht etwas verblassen wird aber niemals die Zeit ungeschehen macht." Stella überlegte kurz, um ihre manchmal wirren Gedanken verständlich auszudrücken. "Es ist alles bei dir. Was jetzt ist, ist das Vergangene von Morgen. Iulia Phoebe kannst du nur ehren, indem in ihrem Andenken weiterlebst. Immer weiter lebst, bis auch dein Ende kommt. Alles ist verbunden, jeder Mensch, jede Entscheidung, hallt in der Ewigkeit wieder. Schau dir diese Stadt an, die einst erbaut von wenigen, ist heute die Hauptstadt eines grenzenlosen Imperiums. Entscheidungen über Generationen haben dazu geführt," verband sie verschiedene Ideen.


    "Pluto ist gerecht," sagte sie und blickte Valeria ernst an. "Was uns jetzt, wie Unheil erscheinen mag, mag einem anderen Schicksal dienen. Niemand versteht, wie sich Wirkungen zusammensetzen und welches Schicksal sich aus dem Tod formen kann. Unsere Entscheidungen fußen nicht nur auf uns selbst, sondern auch auf den Menschen, denen wir begegnen. Die Griechen sagen, dass alles stets fließt. Alles fließt und bewegt sich," teilte sie ihren eigenen Glauben mit. "Wiedergeboren?" Stella zögerte einen Moment. Ja, daran hatte sie auch gedacht. Einmal mehr aber am Ende war die Suche nach den Zeichen der Wiedergeburt vergebens. "Ich glaube viel mehr, dass wir nicht wirklich als die Person wiedergeboren werden, die wir waren, sondern stets verändert zurückkehren. Alles ändert sich, wandelt sich, aber behält seinen Lebensfunken. Das Ende schafft stets einen neuen Anfang," teilte Stella ihren Gedanken mit aber nahm sich vor, darüber noch etwas mehr nachzudenken.


    "Du textest mich nicht zu, Valeria. Ich selbst habe mich intensiv mit dem Thema auseinander gesetzt," wiegelte sie einen Versuch der Unterbrechung ab und wollte genau in diesem Thema bleiben. "Pluto ist nicht der Feind, Valeria. Du kannst ihm nicht entkommen. Unser Ende gehört ihm. Warum sollten wir ihn fürchten? Nur das Unbekannte kann man fürchten. Pluto begleitet ein jedes Leben, mehr als andere Götter, die in ihrem Eigennutz leben. Pluto interessiert sich für uns und kümmert sich um unser Schicksal," erklärte sie.


    "Ich glaube sogar, dass Pluto gerechter ist als jeder andere Gott. Denn er unterscheidet nicht. Er ist zu jedem gleich." Ja, sie verehrte Pluto, denn er war der einzige Gott, der ihr zuhörte. So glaubte Stella zumindest. "Und ob deine Iulia jetzt ewig auf einer Wiese steht, wage ich zu bezweifeln, Valeria. Denn niemand weiß, was danach kommt. Niemand weiß, was das Jenseits ist und da wir ohnehin nur Schatten sind, heißt es ja nicht, dass wir nicht erneut Schatten, woanders sein können. Doch du bist hier, nimm' die Zeit mit Iulia, und mache jetzt das Beste aus ihrer Erinnerung." Eines Tages würde Stella auch ihre Familie wiedersehen. Eines Tages würden sie zusammen stehen. Doch jetzt musste Stella alleine gehen, so einsam, traurig und verletzt dies auch war. Dieser Glaube an Pluto half ihr dabei. Es war ihre Rettung gewesen, denn ansonsten wäre die Verzweifelung unerträglich gewesen.

  • Valeria Maximilla wurde lebhaft. Stella behandelte sie endlich mal nicht wie ein Kind, sondern redete ernsthaft mit ihr. Cousin Tiberius hielt sie noch für sehr kindlich und interessierte sich wenig für das, was in ihr vorging. Und auch Viridomarus hatte in ihr wohl eher ein unterhaltsames Kind gesehen, denn von einer Frau, die einem wichtig war, verabschiedete man sich doch, wenn man verreiste.
    „Pluto ist so… Alles ist verbunden, jeder Mensch, jede Entscheidung, hallt in der Ewigkeit wieder, sagst du. Und ich habe das Gefühl, der Unterweltgott fragt mich die ganze Zeit: Ist das jetzt wichtig? Was ich auch jetzt tu, da kommt die Frage.
    Und dann tu ich nichts mehr, liege auf meinem Bett und weiß nicht, wohin mit mir.
    Weißt du, ich habe einmal eine Sklavin kennen gelernt, die mich beleidigt hat. Sie gehörte Iulius Caesoninus. Ich kam in die Domus Iulia angerauscht und verlangte eine Entschuldigung. Natürlich gewährte man sie mir.
    Aber nun fühle ich mich furchtbar deswegen. Es waren Caesoninus letzte Tage, und was ich zuletzt mit ihm gesprochen habe, war so banal und unwichtig.
    Hätte ich nicht besser sein können?
    Ich war wirklich ein dummes selbstsüchtiges Gör.“


    Als Stella „Alles fließt“ nannte, wusste Maximilla das erste Mal in ihrem Leben, dass das ein Satz von Heraklit war.
    Ihre neue Zurückgezogenheit hatte dazu geführt, sich auf den Hosenboden zu setzen und sogar im gefürchteten Griechisch Fortschritte zu machen.
    Stella hatte solche Probleme sicherlich nicht. Bestimmt war sie eine jener Stadtrömerinnen, die schon mit einer griechischen Amme aufgewachsen waren, gebildet und eloquent. Bestimmt lagen ihr Dummheiten, wie sie die Valeria machte, fern.


    Jetzt fragte Maximilla:
    Was hast du denn den Menschen, die du mochtest, gesagt oder getan als du sie das letzte Mal vor ihrem Tod gesehen hast ?"

  • Das Gespräch entwickelte sich doch in eine Richtung, die Stella durchaus gefiel. Düstere Philosophien zu vertreten, ja, genau das, war ihr Ding. Mit einem zynischen Funkeln in den Augen überlegte sie einen Moment, um der Valeria eine gerechte Antwort zu geben. In Stellas Gedankenwelt bewegten sich viele Bilder und Ideen. Sie entschied sich mit der sokratischen Methode zu arbeiten und einfach Fragen zu stellen, damit Valeria ihr auf dem Weg der dunklen Erkenntnis folgen konnte. "Ist es überhaupt wichtig, dass du etwas tust? Sind wir nicht einfach in dieses Leben geworfen worden? Ist es möglich, dass es garkeine Bedeutung gibt? Erhalten Dinge nicht erst Bedeutung durch uns und unsere Betrachtung?" Stella reihte Fragen aneinander, die ihre Gedanken grob spiegelten. Es fiel ihr schwer, die Fragen exakt zu formulieren, da zu viele Ideen ausgesprochen werden wollten. "Ich glaube, dass wir uns selbst Bedeutung verschaffen, durch unser Denken und Handeln. Jeden Tag entscheiden wir etwas und formen damit unser Schicksal jeden Tag auf's Neue. Nichts ist wichtig und nichts ist unwichtig, denn allein, was du glaubst, ist entscheidend." Stella warf ein paar Gedanken durcheinander, und auch pflegte ein wenig die düstere Denkschule ihres Vaters ein. Dabei gestikulierte Stella mit ihrer linken Hand, so dass sich ein paar Wellen im Wasser bildeten. "Warum verurteilst du dich dafür?" Eine Frage, die Stella so stellte, dass eine gewisse Herzenswärme mitschwank.


    Die zynischen Augen der jungen Tiberia wandelten sich in einen fürsorgenden Ausdruck. "Er ist tot. Nichts wird ihn zurückbringen und du kannst nur weiterleben, in der Gewissheit, dass du in Zukunft besser handeln kannst," meinte Stella und beendete die Gestik ihrer Hand abrupt. "Wir alle sind unserer Vergänglichkeit nicht bewusst, handeln stets so, ob es immer ein Morgen gibt, immer und jeden Tag, leben wir so, als ob uns die Ewigkeit gehört. Dabei gehört uns nicht mal diese Zeit, da wir sie mit der Welt teilen. Alles, was du tust, jeden Tag, spiegelt sich in der Ewigkeit wieder. Alles, was du denkst, wird irgendwann zu Handlungen führen. Handlungen, die dich und andere verändern können oder auch nicht. Wenn es keine Bedeutung, keinen Sinn gibt, gibt es Trost darin, dass du jene Bedeutung jeden Tag selbst erschaffst." Stella machte eine Pause, blickte an das wunderschöne Mosaik an der Decke und sprach dann mit fast schon träumender Stimme: "Wenn Pluto eines wirklich lehrt, ist es, dass wir uns selbst vertrauen, handeln, solange wir können, und durch dieses Leben gehen, so leidvoll und leer es ist, denn am Ende haben wir uns ein Stückchen Zeit erbaut." Stella ließ ihren Blick wieder zu Valeria herabsinken.


    "Wir sind keine Götter, keine mächtigen Wesen, die bis in alle Ewigkeit existieren. Die Götter geben vor, sich zu kümmern, doch bauen sie nur neue Bühnen für uns Sterbliche, doch die Bühne verlassen wir mit Pluto. Er geht mit uns den letzten Gang, hinter dem Styx, dorthin wohin wir gehen müssen und hinter uns liegt dann ein Leben, ein Leben, welches wertvoll durch seinen Verlust ist," teilte sie nun offen ihren Glauben mit, der ihr in Angst und Einsamkeit stets Zuflucht war. "Du bist klug, Valeria. Du hast die Gelegenheit, dich zu entwickeln. Du hast die Gelegenheit, etwas daraus zu lernen und du kannst das Leben anderer damit bereichern, wie du jetzt mein Leben bereichert hast, indem du deine Gedanken mit mir teilst. Dieses Gespräch hätte ich mit Sicherheit nicht erwartet, Valeria," sagte Stella und lachte salzig. Ihr Augen weitete sich dabei, als Valeria etwas sehr Persönliches fragte. Stella beendete ihre Lachen und ihr Gesicht erfror zu eisigem Frost. Die Erinnerung bemächtigte sich ihres Herzens. Ihre Mutter war tot. Ihr Vater höchstwahrscheinlich ebenfalls. Von ihrer Mutter konnte sich Stella verabschieden aber von ihrem Vater nicht. In beiden Fällen machte sich Stella unentwegt Vorwürfe. "Meiner Mutter las ich eine Geschichte vor, bis sie entschlafen ist. Eine Geschichte über eine Eule. Eine germanische Geschichte, die sie sehr liebte und einst für mich aufgeschrieben hatte," antwortete Stella langsam, jedes Wort auswählend und mit glasig-traurigen Augen. "Meinem Vater konnte ich nichts mehr sagen, da er einfach ging, verschwand und das Letzte woran ich mich erinnere ist, dass er durch die Tür ging und sich noch einmal umdrehte und mich Soldaten zurückhielten, weil ich zu ihm wollte. Er ging und die Soldaten brachten mich fort, weit weg," brach es aus ihr heraus. "Ich sollte gehen," wollte Stella flüchten, denn jetzt hatte sie zu viel verraten und sich selbst in Gefahr gebracht. Stella war unvorbereitet, nicht stark genug, ihre Trauer stets zu verbergen und Valeria hatte sie genau mit dieser Frage aus der Reserve gelockt. Es tat weh. Die Trauer kroch durch ihr Herz und umwickelte ihre Atmung, so dass sie kaum Luft bekam. "Ich... muss... gehen...," hauchte sie und versuchte dem Gespräch zu entkommen aber da sie keine Luft mehr bekam oder glaubte keine Luft mehr zu bekommen, hielt sie sich keuchend am Beckenrand fest.

  • Valeria Maximilla hörte zu und versuchte geistig zu folgen. Dann sagte sie:
    “Es sind nicht die Dinge, die uns beunruhigen, sondern die Meinungen, die wir von den Dingen haben. Das habe ich kürzlich gelesen. Das sagt ...ein Stoiker?
    Ich bin nicht klug, Stella, ich bin fürchterlich ungebildet. Ich bin nicht mit griechischen Ammen und Lehrern aufgewachsen, mich hat eine germanische Liberta in einer Villa Rustica in der Provinz erzogen. Sie war für mich immer der klügste und wichtigste Mensch, doch ihre Art Klugheit taugt für die Urbs Aeterna nicht.
    Einen gescheiten Brief auf Latein kann ich noch immer nicht schreiben. Den muss ich meinem Sklaven zum Korrigieren geben.
    Dennoch: Mich entwickeln, das gefällt mir. Wenn ich schon für mich nicht gut bin, vielleicht dann für andere gut sein?“


    Dann fragte Maximilla nach den letzten Momenten mit geliebten Menschen. An der Reaktion von Tiberia Stella sah sie, dass ihre Frage wohl unpassend gewesen war.
    „Nein, nein, nein“, sagte sie beschwichtigend: „Vergiss, was ich gefragt habe. Das war germanische Direktheit. So drückt es zumindest mein Cousin aus. Entschuldigung, ich wollte nicht taktlos sein!“
    Sie schüttelte den Kopf und dachte bekümmert: Ich kann nicht gut mit Leuten umgehen, das wird immer deutlicher.
    Die junge Frau indes hielt sich am Beckenrand fest und schnappte nach Luft.
    Wieder wurde Maximilla knallrot.
    Und sie sagte leise: „Das war mein Fehler. Überhaupt nicht deiner. Ich freue mich über unser Gespräch. Ich wäre gern mehr wie Du.“

  • Was war wirklich von Bedeutung? Stella resignierte. Nicht nur, weil die Trauer so schmerzlich war, sondern weil sie schon zu oft an diesem Punkt war. Die Trauer lähmte sie, machte sie mürbe und einsam. Wie eine Overtüre gegen jeden war ihr eigener Abgesang. Ihr Leben war leer, denn dieser Punkt war jenes Zentrum, welchem diese Tiberia niemals entkam. Stella wollte sich selbst retten, entkommen aber dieses Zentrum mit seiner verführerischen Dunkelheit versprach Antworten. Antworten gegen jedes Vergeben und Aufgeben. Stella war es diesem Augenblick schlicht egal, ob Valeria ungebildet war, nicht klug war und vieles nicht verstand. Es war nicht wichtig. Denn dieses dunkle Zentrum begann sie innerlich zu ertränken. Stella konnte nicht einfach gehen. Nicht einfach flüchten. Denn alles, was sie eigentlich immer wollte, längst nicht mehr zu retten war. Ihre Familie war verloren. Möglicherweise war sie die Letzte eines ganzen Hauses, einer Blutlinie, die einst bis zur Gründung der ewigen Stadt zurückgereicht hatte. Die Blutlinie würde mit ihr enden. Vielleicht war das gut so. Wenn Pluto dies wollte, würde es so sein. Noch immer sah sie brennend, wie ein helles Licht, die Gesichter ihrer verlorenen Angehörigen, insbesondere das ihres Vater und ihrer Mutter. Die Geister der Vergangenheit hielten sie davon ab, ganz im Dunkeln zu vergehen und gleichzeitig ließen die Geister sie nicht gehen. Diese Kreaturen der Erinnerungen hielten sie genau an diesem Punkt, zwischen Abgrund und Aufstieg.


    Die Beschwichtigungen von Valeria verfingen nicht. Nein, sie war nicht taktlos gewesen. Nur hatte Stella keinen eigenen Lebenstakt mehr. Jede Erinnerung, jedes Wort, konnte sie in eine andere Richtung treiben. Menschen sprachen mit ihr und doch hörte sie den Geistern zu. Stella fand ihre Luft wieder und ihre Atmung beruhigte sich, da sie wortlos mit der Vergangenheit sprach und ihre Lippen Sätze bildeten, die Raum und Zeit überwanden. Eine Magie der Sterbenden, erlernt von einer Lebenden. "Die Toten sprechen zu mir," wandte sich Stella um und blickte mit ihren großen aber leeren Augen an. "Es ist nicht so, dass ich genau höre, was sie sagen. Es ist auch nicht derartig, dass sie wirklich hier wären aber ich habe so ein Gefühl, so eine Gewissheit, dass sie mit mir sprechen wollen und mir Dinge vermitteln. Es ist einem Echo gleich, einer Wiederholung aus der Vergangenheit in die Gegenwart über die Zukunft," offenbarte Stella ihre Gefühlswelt und versuchte ihre wirren Gedanken zusammenzufassen. "Du willst nicht sein, wie ich. Niemand will das," sagte die Erbin einer Seherin ernst und fand wieder ein Lebenslicht in ihren eigenen Augen. "Ich bin mit einer seltsamen Gabe geboren worden und ich sehe die Welt anders. Ich spüre die Welt anders und nehme anders an dieser Welt teil, als du es tust," versuchte Stella einen komplizierten Zusammenhang zu vermitteln. "Meine Träume sind manchmal real. Ich träume Dinge, bevor sie passieren und dann passieren sie. Ich spüre Kälte und weiß, dass Pluto mich beobachtet," erklärte die junge Tiberia und blickte traurig zu Valeria. "Du willst nicht so sein. Durch diese Gabe bin ich jetzt allein. Denn Pluto gibt und nimmt, Valeria. Ich habe meine ganze Familie verloren aber wurde mit dieser Gabe gesegnet und seitdem ich allein bin, sehe ich diese Welt gänzlich anders und inzwischen ist der Tod in meiner Nähe greifbar." Stella fühlte sich besiegt und hoffte, dass sie mit der gefühlten Wahrheit aus dieser Situation entkommen konnte. Sie wollte Valeria nicht allein zurücklassen aber konnte auch nicht weiter sprechen. "Ich bin müde." Ja, Stella war müde und dieses Momentes überdrüssig. Denn Valeria konnte nicht wissen, wie es war, ein Bote des Pluto zu sein. Pluto war ein guter Freund geworden und doch war die Beziehung kühl, fast frostig kalt.

  • Aber diesmal wusste Maximilla, von was Tiberia Stella sprach. Sie schaute sich um, ob jemand zuhörte und sagte dann ehrfürchtig:
    „Oh, Stella, du bist eine Albruna oder Aurinia, eine Weise Frau. Das mit den Träumen und mit dem Tod, doch, doch, das passt alles. Ich bin in der Civitas Aquensis in Germanien aufgewachsen. Eine Germanin aus dem Stamm der Myrginge hat mich erzogen. Sie hat mir von den Seherinnen erzählt, die dort sehen und wahrsagen.“


    Maximilla kämpfte damit, ob sie so tun sollte als wisse sie mehr, um für die neue Bekannte interessant zu bleiben. Dann entschied sie sich für Ehrlichkeit:
    „Leider hat mir Adalheidis, weil ich doch eine Römerin bin, nie ganz ausführlich darüber berichtet." sagte sie:
    „Sie glaubte, wir Römer können nicht mehr mit den Alben sprechen, so nannte sie es. Zu dir sprechen sie aber!"
    Wieder schaute sie sich um. Die Furcht, für verdreht gehalten zu werden, war da:
    „Die Götter haben etwas Großes vor mit dir, Stella! Das hätte Adalheidis gesagt, und sie irrte sich nie. Genauso wenig wie die Götter sich irren, wenn sie dir solch eine Gabe verleihen.“


    Nun leuchteten ihre Augen in neuem Glanz. Sie war bewegt durch fremdes Schicksal. Ein wenig lüftete sich der graue Schleier, der schon so lange über ihr lag, und ihre Bewegungen und Gedanken zäh und quälend machten, als sei sie in einen Morast geraten. Vielleicht würde Anteilnahme sie wieder lebendig und froh werden lassen, wie vor dem Tod der Iulier.


    „Lass mich dir helfen, Stella“, schlug Maximilla vor:
    "Egal was es auch sei, wenn ich es dir geben kann, bekommst du es!"

  • Genau das hatte ihre Mutter stets gesagt, dass Stella eine geborene Seherin war. Einst war ihre Mutter selbst eine Seherin gewesen und war davon überzeugt, dass Stella diese Gabe geerbt haben würde. Anzeichen hatte es dafür seit Stellas Jugend gegeben aber erst nach dem Tode ihrer Mutter waren ihre Kräfte vollens erwacht. Es war genau so, wie es ihre Mutter prophezeit hatte. Eine Seherin musste allein sein, von Einsamkeit umschlossen, um zu sehen. Doch Stella wollte diese Gabe nicht. Es machte sie anders und Andersartigkeit war in einer Gesellschaft oft mit Hürden, Konflikten und Problemen verknüpft. Viele Menschen, insbesondere Römer, konnten Andersartigkeit nicht verstehen und sahen darin etwas Gefährliches. Gerade die strenge Gesellschaft der Römer verzieh wenig Abweichung, da es für jede Handlung und Pflicht strenge Regeln gab. Stella, ein Kind der Liebe zweier Welten, der römischen Disziplin und der germanischen Verbundenheit, fühlte sich nie Zuhause und zweifelte nicht nur an sich selbst, sondern auch an ihrer Umwelt. Die Bewunderung der Valeria konnte sie folglich nicht verstehen. Valeria offenbarte einen Teil ihres Lebensgeschichte und Stella wollte antworten aber schwieg für einen Moment. "Viele Menschen sprechen ohne Herz. Es fühlt sich genau so an. Sie wirken tot auf mich. Sie gehen durch ihre Leben, handeln, wie Holzpuppen, und verschwinden dann, ohne je einen echten Herzschlag besessen zu haben. Du wünscht dir nicht diese Gesichter zu sehen, wenn sie Fratzen werden. Du wünscht dir nicht, diese Kälte zu spüren und du wünscht dir nicht, Menschen lesen zu können," sprach sie etwas wirr ihre Gedanken aus und versuchte die Bewunderung der Valeria etwas zu schmälern. Doch dafür war es sicherlich zu spät. "Diese Stadt fügt mir Schmerzen zu. So viele Menschen, die sich selbst verloren haben und durch Irrwege schreiten, unwissend ihres eigenen Todes," sagte Stella und gab damit offen zu, dass sie nicht in dieser Stadt leben konnte. Eine Wahrheit, die sich nur schwerlich akzeptieren konnte aber Rom tat ihr nicht gut. "Die Götter spielen mit Steinen, Valeria. Sie haben keinen Plan. Dinge geschehen, weil sie geschehen und dann passieren neue Dinge aus den alten Dingen. Es ist eine ständige Wiederholung. Wenn die Götter etwas mit mir vor hätten, würde ich die Muster klarer sehen aber ich sehe nur die Muster der Menschen und ihrer Leben, wie sie miteinander verknüpft sind, weil Plutos Kette uns alle bindet," lehnte Stella den Gedanken ab, dass sie einen echten göttlichen Auftrag hatte. "Der einzige Gott, der mit mir gesprochen hat, ist Pluto. Nicht, wie du jetzt vielleicht denkst, aber er war dort. Ich sehe ihn, wie er durch die Straßen schreitet, wie er hinter mir steht und wie er erscheint, wenn sich ein Tod ankündigt." Und das machte ihr sichtlich Angst, so dass sich gegen Leuchten in Valerias Augen stellte sich der dunkle Glanz der kalten Angst in Stellas Augen. "Pluto wartet stets in jedem Schatten und auch jetzt ist er anwesend," mahnte Stella und erlaubte sich eine geisterhafte Geste, indem sie ihre Hand wischend vor ihrem Gesicht bewegte."Die Geister holt er ab, die sich noch an das Leben klammern. Die Geister, die wir beschworen haben, als wir sprachen." Jetzt sah Stella eine helle Farbe, wie sie blendend hell vom Mosaik zu sinken schien. "Alles ist verbunden. Jegliche Grausamkeit und jegliche Milde, Valeria," sagte sie und kniff die Augen im hellen Lichte zusammen, als sich eine Aura vor ihren Augen formte. "Pluto ist hier," hauchte Stella und tauchte im Wasser ab, als unweit eine Frau zusammenbrach, die aus dem Dampfbad gekommen war und sich nun erholen wollte. Großes Geschrei, als Sklavinnen herbei eilten und weitere Frauen, um der zusammengebrochenen älteren Frau zu helfen. Mühsam richtete man die leblose Frau auf und brachte sie aus dem Badesaal. Stella tauchte wieder auf, spürte noch immer den Frost in ihrem Nacken und blickte verstört zu Valeria. Es konnte Zufall sein, und womögloch war es dies auch, aber Stella glaubte im Geschrei über den mutmaßlichen Tod der älteren Frau unweit Pluto gehört zu haben. "Ich brauche Hilfe," jappste sie. "Kannst du mich aus der Therme begleiten?" Stella wollte nicht allein gehen. Die helle Farbe verschwand und die Aura ebenso. "Ich habe nichts mehr, da meine Familie tot ist, genau so tot, wie diese Frau," bemerkte die Tiberia und deutete dann zum Portal, durch das gerade die leblose Frau getragen worden war.

  • Valeria Maximilla bekam Augen groß wie runde Zierbleche:
    „Du hast das mit der toten Frau vorhergewusst.“, flüsterte sie:
    „Du bist eine Aurinia. Aber du bist doch keine Germanin, oder? Wie kann das sein?“
    Ein ziemlicher Lärm begann. Die Thermenverwaltung wollte offensichtlich von dem Todesfall ablenken und schickte einige Flötenmusikerinnen und Akrobatinnen zu den Becken hinein, die sehr geschickt anfingen, sich Bälle und Ringe zuzuwerfen, auf den Händen zu gehen und zu tanzen.


    Maximilla deutete auf ihre Ohren – nun verstand sie kein Wort mehr. Und Schreien wollte sie nicht.
    Sie bot der neuen Bekannten hilfsbereit ihren Arm:
    Eine Badesklavin wartete schon mit großen Tüchern, um den jungen Damen behilflich zu sein.
    „Noch eine schöne Massage, Dominae?“, schrie sie lächelnd.
    Die Valeria nahm ein Badetuch, reichte Tiberia Stella ein anderes und machte eine abwehrende Handbewegung.


    Als sie sich vom Becken entfernten, nahm der Flötenlärm den Göttern sei Dank ab.
    „Meine eigene Sklavin wartet in der Umkleidehalle.“, sagte Maximilla „Wo ist deine Sklavin, Stella ? Ich bin mit der Sänfte gekomen, ich nehme doch an, du auch? Wenn dir nicht gut ist, bringe ich dich gerne dorthin. Oder wenn du keine dabei hast, nehme ich dich bis zu deinem Zuhause mit.
    Ich bin früher auch gerne zu Fuß gegangen, aber alle meinen, dass sich das für eine Dame nicht wirklich gehört.
    Nicht dass du umkippst und dir den Kopf an dem ganzen Marmor hier aufschlägst. Du bist ganz blass.“


    Jetzt winkte sie die Badesklavin doch zu sich:
    „Bring der Domina Wein oder Mulsum!“, befahl sie.
    Die Sklavin verschwand und kam mit einem metallenen Becher wieder, in dem der Gewürzwein war,
    Kniend bot sie ihn Tiberia Stella von einem Tablett an.

  • Stella wollte sich erklären, die passenden Worte finden aber es misslang ihr. Unfähig wirklich darüber sprechen zu können, ließ sie Valeria ihre Fragen stellen. Die Antworten wären ohnehin zu kompliziert und vielleicht auch mit zu vielen Geheimnissen versehen, die sie Valeria nicht zumuten konnte. Vieles war nicht so, wie es erschien und ebenso vieles erschien unter genauerer Betrachtung völlig anders. Ein Lärm brach los. Ein Lärm, der auch Stellas empfindliche Ohren traf. Erschrocken zuckte sie zusammen und hoffte, dass das Wasser in ihren Ohren erneut zu jener dumpfen Erleichterung beitragen würde. Das tat es nicht. Auch Stella deutete auf ihren und schüttelte ihren Kopf in einer sanften Bewegung, da das Wasser nun doch im Ohr munter gluckerte. Valeria bot Stella ihren Arm an, um aus dem Becken zu steigen. Stella, immer noch erschöpft und nicht ganz im Moment, nahm den Arm an und stieg zusammen mit der wirklich netten Valeria aus dem Becken, um sich dann von einer Badesklavin anschreien zu lassen. Abermals zuckte Stella zusammen. Diese Unruhe machte ihr zu schaffen. Die Tibera begann merklich zu zittern. Die Situation überwältigte sie und auch die Eindrücke begannen ihren zu sensiblen Verstand zu überfordern. Teilnahmslos griff Stella nach dem Handtuch, welches ihr angeboten wurde und blickte angestrengt zu Boden, um nicht zu viele Gesichter erblicken zu müssen. Zu viele Eindrücke, zu viele Leben und auch zu viele Emotionen konnten nicht verarbeitet werden.


    Dieses Bad entwickelte sich für Stella zu einem Spiel des Überlebens. Denn Pluto hatte ihr einen Irrweg hinterlassen. Der Flötenlärm begleitete die tapsenden Schritte der irritierten Stella, die mühsam die Bodenfliesen zu zählen begann, um nicht auf die Gesichter blicken zu müssen. Ihr ganzes Leben war sie nur von wenigen Menschen umgeben gewesen und hatte sich darin gewöhnt, Gesichter und Emotionen zu lesen aber bei so vielen aufgeregten Menschen war es für sie unmöglich jeden Eindruck zu sortieren. "Danke," kroch ihr ein ehrliches Wort über Lippen, während ihre nassen Haare, wie ein Schild vor ihren Augen hingen und das brennende Zwielicht der Anwesenden abwehrten. Das gesenkte Haupt verblieb erstarrt, während ihre Wangen zitterten. Das Badehandtuch um ihren Leib wurde durch eine verkrampfte Hand gehalten. "Umkleide," stammelte Stella und spürte erneut den kalten Hauch in ihrem Nacken. "Ich habe keine Sklavin," antwortete die Tiberia und wagte einen Blick auf. Mit einer ruckartigen Bewegung sortierte sie ihren Vorhang aus Haaren zur Seite. "Wir können...", wollte sie einen Fluchtpunkt ansteuern aber versagte. "Ich habe kein Zuhause, nicht mehr." In der Tat hatte sie derzeit kein Zuhause. Zumindest kein Echtes. Und sie war zu erschöpft, um sich eine passende Lügengeschichte zurecht zu legen.


    Valeria kümmerte sich rührend. Schließlich tauchte jene Sklavin mit Mulsum auf. Stella griff mit ihrer Linken nach dem Becher und schloss ihre von der Feldarbeit zermürbten aber immer noch feingliedrigen Finger um das Metal. Ein Schluck brachte ihr etwas Kraft zurück, bevor sie mit einem erschöpften Lächeln zu Valeria blickte. "Ich möchte einfach nur gehen," wiederholte sie ihren Wunsch.

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