Eine Nachricht von zu Hause

  • Eigentlich war es ein schöner Sommertag, warm und sonnig, dennoch war Octavena eindeutig nicht so guter Laune wie sie angesichts dieser Temperaturen wohl sonst gewesen wäre. Sie war nachdenklich, schweigsam, und hatte sich in dieser Stimmung allein nach draußen in den Garten zurück gezogen sobald ihre Tochter am Nachmittag eingeschlafen war.
    Ein paar Stunden zuvor war ein Brief an sie eingetroffen, der einen weiten Weg hinter sich hatte. Er kam aus Tarraco, aber anders als sonst, wenn sie einmal ein Schreiben von dort bekam, war diese hier nicht von ihrem Vater gekommen, sondern von einem Cousin, den sie das letzte Mal vor einer Ewigkeit gesehen hatte und an den sie sich kaum noch erinnerte. Der Inhalt des Briefs war denkbar knapp: Petronius Bassus, Octavenas Vater, war tot.
    Der Nachricht ihres Verwandten, der sich wohl vor Ort auch um alles gekümmert hatte beziehungsweise zu dem Zeitpunkt, an dem er den Brief geschrieben hatte, sich darum hatte kümmern wollen, nach war Bassus einfach eingeschlafen und nie mehr aufgewacht, aber wenn Octavena ehrlich war, kümmerte sie das gar nicht mehr sonderlich, denn es änderte nichts mehr an den Tatsachen: Ihr Vater war tot.
    Dabei war diese Information als solche auch keine so große Überraschung, schließlich war Bassus auch nicht mehr der Jüngste gewesen. Trotzdem hatte Octavena irgendwie geglaubt, vielleicht auch nur gehofft, dass sie noch ein wenig mehr Zeit haben würde.
    Seit er sie aus Tarraco fort geschickt hatte, hatten sie zwar einen sporadischen Briefkontakt gepflegt, aber diese Art der Kommunikation hatte sich aufs Nötigste beschränkt und war von beiden Seiten mehr ein Bericht von Tatsachen gewesen. Octavena hatte ihn über ihre Hochzeit informiert, über ihre Schwangerschaft und schließlich die Geburt seiner Enkelin. Alles Dinge, über die vermutlich auch ihr Onkel seinen Vetter auf dem Laufenden gehalten hatte. Das letzte, was Octavena Bassus allerdings ins Gesicht gesagt hatte, war wahrscheinlich irgendein Widerwort bei ihrer Abreise gewesen. Etwas, das keiner von ihnen später wieder gerade gerückt hätte. Ihr letzter Streit war einfach so unverändert stehen geblieben wie an dem Tag, als sie die Stadt verlassen hatte.
    So konnte Octavena zwar nicht wirklich behaupten, so sehr zu trauern wie sie es vielleicht gesollt hätte - dafür hatte auch zu viel zwischen ihnen gestanden -, aber gleichzeitig hatte sie eine eher schweigsame Nachdenklichkeit erfasst. Stumm saß sie im Garten auf einer Bank, drehte die Nachricht in ihren Fingern und hing ihren eigenen Gedanken nach.

  • Witjon war an diesem wunderbaren sonnigen Tag guter Laune von seinem Tagewerk in der Regia Legati Augusti Pro Praetore heimgekehrt und freute sich bereits darauf ein kühlendes Bad zu nehmen und sich anschließend beim gemeinsamen Abendessen im Kreise seiner Familie die Zeit zu vertreiben. Als er jedoch die Villa Duccia betreten hatte, dauerte es nur wenige Augenblicke, bis Marga stirnrunzelnd neben ihm stand. Sie wies ihn darauf hin, dass Octavena einen Brief erhalten hatte und seit dem schweigsam und grübelnd im Garten saß. Witjon dankte Marga und ließ also trotz des Umstandes, dass er unter der Tunika, die er seit den Morgenstunden trug, fürchterlich durchgeschwitzt war, das kühlende Bad vorerst bleiben.


    Witjon trat in den Garten hinaus und verharrte einen Moment auf der Türschwelle, um die Ruhe und Abgeschiedenheit dieses Ortes als krassen Gegensatz zum geschäftigen Treiben auf der Vorderseite der Villa auf sich wirken zu lassen. Dann machte er sich auf die Suche nach seiner Frau, die er wenig später auf einer Bank sitzend vorfand.
    "Schlechte Nachrichten?", fragte er Octavena ohne Umschweife, denn der Brief war nicht zu übersehen und ihre Miene ließ nicht unbedingt darauf schließen, dass das Schreiben eine Hochzeitseinladung oder eine Geburtenmeldung enthielt. Witjon gab seiner Frau einen Kuss und setzte sich neben sie. Er ließ ihr Zeit, mit ihren Sorgen herauszurücken, indem er nun einfach still neben ihr saß und signalisierte: Ich bin für dich da.

  • "Was?" Octavena blinzelte überrascht, als sie von Witjons Stimme aus ihren sich ewig im Kreis drehenden Gedanken gerissen wurde. "Achso… Ja, könnte man wohl so sagen…"
    Nachdenklich kaute sie auf ihrer Unterlippe herum und wich bewusst seinem Blick aus. Sie wusste, dass sein Erscheinen und die Tatsache, dass er sich zu ihr setzte, ein Angebot waren, ihm davon zu erzählen, was sie bedrückte, aber gleichzeitig konnte sie ja nicht einmal richtig sagen, was genau sie empfand. Sie war… überrascht und überfordert, allerdings wusste sie auch nicht, wie sie das in Worte fassen sollte.
    Es dauerte einen Augenblick, in dem Octavena sich nur stumm gegen die Schulter ihres Mannes sinken ließ, ehe es ihr gelang, sich selbst zu einer weiteren Erklärung zu bewegen. "Der Brief ist von Verwandten aus Tarraco." Sie seufzte und rieb sich unwillkürlich mit einer Hand nervös das Schlüsselbein. "Mein Vater ist gestorben."
    Nun, da sie es aussprach, fühlte sich die Information gleich etwas schmerzhaft echter an, auch wenn ihre Stimme in ihren Ohren dabei seltsam ruhig klang. Als hätte es das gebraucht, diesen Satz aus ihrem eigenen Mund zu hören, damit sie sich seiner Bedeutung erst richtig bewusst werden konnte.
    "Eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht. Jedenfalls schreibt das mein Vetter."

  • Erwartungsvoll hob Witjon die Augenbrauen. Mit seiner Vermutung hatte er offenbar richtig gelegen. Octavena brauchte einen Moment, um die richtigen Worte zu finden, wobei man ihr ansah wie schwer es ihr fiel über den Inhalt dieses Brief zu sprechen. Witjon ahnte langsam, welche Art Nachricht das Schriftstück transportiert haben mochte. Um seiner Frau Halt zu geben legte er einen Arm um sie und blieb einfach still, um sie nicht zu unterbrechen. Als Octavena dann die Herkunft des Briefes verriet, verstärkte sich Witjons Verdacht. Da musste etwas passiert sein, das nichts Gutes verhieß.
    Seine Ahnung wurde schließlich bestätigt. Lucius Petronius Bassus war tot. Wenigstens schien er friedlich gestorben zu sein, was auch nicht jedem vergönnt war. "Das tut mir leid", sagte Witjon mitfühlend. Er fasste seine Frau noch etwas fester, um sein Mitgefühl auch körperlich auszudrücken. "Tut mir wirklich leid", wiederholte er, weil er daraufhin nicht wusste was er sonst sagen sollte. Dann fiel ihm etwas ein: "Möchtest du seinem Geist am Lararium opfern?", fragte er mit vorsichtiger Zurückhaltung. Er selbst hatte am neu im Atrium aufgestellten Lararium bisher nur ein paar pflichtsgemäße Opfer an die Penaten der Villa und an die Laren dargebracht und sah nun eine Chance, Octavena einen Ort zu bieten, an dem sie ihre Trauer bündeln konnte. Wenn sie denn wollte. Denn was Witjon bisher noch nicht so richtig erkannt hatte war, dass seine Frau offenbar nicht erschüttert oder tief ergriffen war, sondern vielmehr noch etwas unschlüssig über ihre Gefühlslage.

  • Octavena lächelte schwach, auch wenn das weniger daher rührte, dass sie in Trauer versunken und angesichts dessen froh über sein Angebot gewesen wäre, sondern dass diese einfache Frage - gemeinsam mit einer gewissen Rührung darüber - das bittere Gefühl eines schlechten Gewissens weckte. Witjon meinte es zwar gut, aber der Vorschlag ging an ihrer tatsächlichen Gefühlswelt eher vorbei. Oder viel mehr dem Teil davon, den sie bisher hatte ordnen können.
    "Ich weiß noch nicht", gab sie schließlich zögerlich zurück. "Vielleicht..."
    Wie sollte sie Witjon das schwierige Verhältnis, das sie zu ihrem Vater gehabt hatte, nur am besten erklären, ohne herzlos oder respektlos angesichts dessen Tods zu wirken? Wo sollte sie anfangen? Wie? Octavena hatte es in den letzten Jahren so gut es ging vermieden, über Bassus zu reden. Jetzt plötzlich wieder mit dem Thema anzufangen, erschien ihr da merkwürdig.
    "Ehrlich gesagt bin ich, glaube ich, im Moment noch etwas überfordert ", gestand Octavena ihm schließlich und stieß ein weiteres leises Seufzen aus. "Meine Beziehung zu meinem Vater war… kompliziert."
    Sie biss sich unwillkürlich auf die Unterlippe. "Es gab einiges böses Blut zwischen uns." Wieder erschien auf ihren Lippen ein Lächeln, aber dieses Mal hatte es einen eindeutig bitteren Zug. "Deshalb bin ich damals überhaupt von ihm hierher geschickt worden."

  • Vielleicht? Witjon wusste ja, dass Octavena nicht das innigste Verhältnis zu ihrem Vater gehabt hatte. Aber dass die Abneigung der beiden offenbar so weit ging, dass Witjons Weib nicht einmal sicher war, ob sie ihrem verstorbenen Vater göttlichen Segen mit auf den Totenweg geben wollte, das alarmierte Witjon. Erst recht, als Octavena zugab mit der Situation überfordert zu sein.


    "Verstehe", sagte Witjon ohne eine bestimmte Wertung. Kurz hielt er inne, suchte nach den richtigen Worten. Er wollte nicht zu offensiv danach fragen, was damals schief gelaufen war, denn seine Frau hatte seit ihrer Heirat nie sonderlich offen, meist einfach gar nicht, über ihren Vater gesprochen. Er wollte in dieser Situation lieber nicht alte Wunden aufreißen, deren Gründe noch nicht verarbeitet waren.


    "Willst du mir davon erzählen?", fragte er daher in der Hoffnung, dass Octavena sich ihm in dieser Sache nach dieser langen Zeit anvertraute.

  • Nein, genau genommen wollte Octavena gar nicht über ihren Vater sprechen, der in so vieler Hinsicht an und mit ihr gescheitert war. Sie wollte sich nicht darüber Gedanken machen, was schon vor Jahren unveränderlich schief gegangen war. Aber jetzt hatte sie diesen Pfad einmal eingeschlagen und sie wollte Witjon auch nicht am Ende noch komplett irritiert die falschen Schlüsse über die Angelegenheit ziehen lassen.
    "Ich hatte nie ein sonderlich inniges Verhältnis zu meinem Vater", erklärte sie dann schließlich, wenn auch etwas widerstrebend, "Und nach dem Tod meiner Mutter ist es mit diesem Verhältnis nur noch weiter bergab gegangen… Ich kann gar nicht genau sagen, woran es lag, aber ich erinnere mich nur noch, dass kurz bevor ich Tarraco verlassen habe, wir uns immer wieder gegenseitig ein paar schreckliche Dinge an den Kopf geworfen haben." Dinge, die sie nie geklärt hatten, obwohl das nun im Rückblick wohl dringend nötig gewesen wäre.
    Octavena schüttelte seufzend den Kopf. "Wahrscheinlich treibt mich das auch nur so um, weil keiner von uns beiden das alles jemals wieder hat gerade rücken können."

  • Octavena musste sich offenbar überwinden, um über ihren Vater zu sprechen. So war es dann auch nicht besonders viel, was sie über das Verhältnis mit ihm erzählte. Witjon versuchte einen möglichst verständnisvollen Gesichtsausdruck zu machen. Es war nicht immer leicht, die eigenen Interessen und Lebensvorstellungen mit denen seiner Eltern in Einklang zu bringen, das wusste Witjon aus eigener Erfahrung.


    "Nunja", begann er schließlich zögernd mit einer Antwort. Octavenas letzte Worte darüber, dass keiner der beiden die Dinge hatte gerade rücken können, beschäftigten ihn augenblicklich. Die Idee für eine Lösung war schnell gefunden. "Vielleicht ist es ja noch nicht zu spät, ihm das zu sagen", deutete Witjon eine Möglichkeit an, mit dem Vater Frieden zu schließen. Aber weil er bereits zuvor davon gesprochen hatte, dass Octavena am Lararium opfern könnte, stockte er aus der Sorge sie mit dieser Idee zu sehr zu bedrängen oder zu nerven. Vielleicht wollte seine Frau ja erst nochmal über diesen ganzen Streit grübeln und musste selbst zu dem Schluss kommen, dass sie eine nachträgliche Aussöhnung wollte. Witjon lächelte Octavena aufmunternd an. Er hasste es, sie so bedrückt zu sehen.

  • "Ja, vielleicht." Octavena erwiderte das Lächeln halbherzig, versuchte es aber, Witjon nicht direkt anzusehen. Sie würde wohl noch eine Weile an dieser Sache zu knabbern haben, trotzdem fühlte sich der Knoten in ihrer Brust nun doch ein wenig leichter an. Früher oder später würde sie damit abschließen, abschließen müssen, schon allein, weil was gewesen war sich nun auch nicht mehr ändern ließ und sie sich am Ende nur selbst wahnsinnig machen würde, wenn sie zu lange darüber grübelte. Vielleicht war Witjons Vorschlag, dem Geist ihres Vaters zu opfern, doch nicht so abwegig, auch wenn sich in Octavena einiges dagegen sträubte. Vielleicht war es genau das, das ihr bei dem nötigen Schlussstrich würde helfen können?
    Ihre Gedanken begannen sich wieder im Kreis zu drehen und unwillkürlich schüttelte Octavena den Kopf. Seufzend stand sie auf. Nein, das führte erstmal zu nichts. Sie musste ihren eigenen kreisenden Gedanken entkommen, musste etwas tun und sich ablenken.
    "Ich sollte wohl sehen, dass ich mich mit Marga und Lanthilda um das Abendessen kümmere...", murmelte sie dann, auch wenn sie noch immer sichtlich neben der Spur war. Daran änderte auch das nervöse Lächeln nichts, um das sie sich bemühte. "Die beiden wundern sich bestimmt schon, wo ich bleibe."

  • Es war verständlich, dass Octavena nicht gleich völlig überzeugt von Witjons Idee war. Wenn man so eine Nachricht erhielt, die Meldung über den Tod eines Verwandten - erst recht wenn es der eigene Vater ist -, dann war klares Denken zunächst nicht möglich. Witjon wusste das und deshalb ließ er seiner Frau nun erstmal Zeit. Er saß einfach neben ihr und war da. Das war das wenigste was er momentan tun konnte. Octavena schien auch schnell mit ihren Gedanken abzuschweifen und Witjon hinderte sie nicht. Das Kopfschütteln seiner Frau machte ihm schließlich deutlich, dass der Moment des Innehaltens vorüber war. Octavena zeigte zudem ihren Unwillen, hier nur untätig und zweifelnd herumzusitzen.


    "Ein bisschen Ablenkung schadet sicherlich nicht", stimmte Witjon zu und erhob sich, wobei er Octavena die Hand anbot. Er hoffte außerdem, dass Marga und Lanthilda sich entsprechend um die Hausherrin kümmern würden, mit dem nötigen weiblichen Einfühlungsvermögen. Vielleicht würde die kindliche Leichtigkeit ihrer beider Tochter dann ihr Übriges tun, um Octavena wieder ein klares Denken zu ermöglichen.

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