[Cubiculum] Lucius Helvetius Corvinus et Susina Alpina

  • Jetzt wäre eigentlich der Zeitpunkt gewesen um sich zu verabschieden, doch es quälte mich noch etwas anderes. Ich musste endlich mit jemanden darüber sprechen. Es wäre das erste mal, dass ich ein Versprechen brach. Doch ich konnte mich noch nicht einmal erinnern, ob ich wirklich Versprochen hatte darüber zu schweigen. Außerdem wusste Alpina mehr darüber als ich selber.
    Nervös rutschte ich auf meinem Stuhl hin und her. „Da ist noch etwas anderes“, fing ich vorsichtig an. „Ich möchte dir danken, dass du Phryne geholfen hast, als sie ihr Kind verlor. Es war bestimmt nicht leicht für dich, doch bei dir war sie in den besten Händen. Wenn ich es gewusst hätte wäre ich gekommen, um ihr bei zu stehen, schließlich war es ja auch mein Kind, wie sie mir glaubhaft versicherte.“
    Erleichtert atmete ich auf. Es war heraus und Alpina sah nun, dass ich keine Geheimnisse vor ihr hatte.

  • Alpina war nervös. Warum eigentlich? Sie und Ursi gingen sich ein Pferd ansehen. Oder zwei? Oder mehr? Wie auch immer. Eigentlich nichts Besonderes. Aber irgendwie war dieser Termin doch etwas Besonderes. Zumindest wollte es Alpina so.
    Sie holte ihre dunkelgrüne langärmlige Tunika mit den Borten hervor. Florale Webmuster zierten die Borten am Ausschnitt und den Säumen und Ärmeln. Darüber zog sie eine ärmellose hellgrüne Übertunika. Sie hatte nur eine zarte Spiralstickerei an Halsausschnitt und Saum. Alpina schloss sie mit den beiden großen Flügelfibeln, die sie von ihrer Großmutter geerbt hatte. Ein Ledergürtel mit filigranen Silberbeschlägen, der in der Mitte der Übertunika abwärts hing und mit apotropäischen Schutzsymbolen verziert war, gürtete sie. Über ihre roten Haare, die sie zu einem Knoten am Hinterkopf geschlungen hatte, legte sie einen feinen grünen Schleier, der den Haaransatz freigab und über beide Schultern sowie den Rücken bis zur Taille fiel.


    Ursi steckte in einem dunkelblauen Kleidchen. Sie sah ihrer Mutter interssiert zu. Die Tracht der Raeterin war ungewöhnlich. Die ortsansässigen Ubierinnen trugen meist eine feste Haube. Die gab es auch in Alpinas Heimat, doch unverheiratete Frauen bedeckten ihr Haupt meist lediglich mit einem Tuch, bzw einen Schleier. Die großen Flügelfibeln wirkten archaisch und entsprachen nicht der aktuellen Mode, sondern dem traditionalistischen Geschack der eigensinnigen Räter, die an ihren vorrömischen Sitten und Gebräuchen festhielten.
    Gedankenverloren kämmte Alpina die dunklen Locken ihrer Tochter und bändigte sie mit einem blauen Band. Die Kleine jammerte und fluchte. Sie versuchte der Mutter vom Schoss zu springen. Alpina wurde streng.
    "Hiergeblieben!"


    Ursi schmollte und erwiderte patzig.
    "Warum? Wieso muss ich so was anziehen?"


    Alpina ließ sie los. Natürlich verstand die Dreijährige nicht warum sie gekleidet wurde wie zu einem Fest. Schließlich gingen sie bloß in die Castra, Pferde streicheln. Die Raeterin zuckte die Achseln.
    "Ich dachte es macht dir Spaß, dich herauszuputzen. Mir jedenfalls macht es Freude, wenn ich mal nicht im Alltagsgewand ausgehe. Wie oft gehe ich schon aus, Ursi?"


    Die Kleine legte den Kopf schief.
    "Eigentlich nie", gab sie zu. "Aber musst du doch auch nicht. Hier ist es doch schön!"


    Alpina lächelte. "Sicher, Ursi. Hier ist es schön."
    Sie streckte die Hand aus. "Komm! Wir gehen! Hast du die Äpfel für die Pferde? Und das trockene Brot? Pferde lieben so was."


    Die Kleine nickte und zeigte auf den Korb neben der Türe.
    "Also los, wir wollen den Tribun nicht warten lassen."

  • Als Alpina mit Massa im großen Bärenbett lag, kam es ihr zunächst komisch vor. Dieses Bett hatte sie mit Corvinus geteilt wann immer ihm sein Dienst Zeit dazu gelassen hatte. Mit allem was man in so einem Bett eben so tat... nun lag ein anderer Mann bei ihr.


    Sie verscheuchte die Gedanken und kuschelte sich eng an ihn. Es blieb auch nicht beim Kuscheln allein. Wie das wohl oft so war, wenn man sich gerade erste gegenseitig erkundete, fanden beide sich zu an- und erregend um nur nebeneinander zu schlafen.


    Und so kam es dass Alpina am kommenden Morgen einen reichlich müde drein blickenden Massa zum Morgenapell in die Castra verabschiedete. Sie küsste ihn zärtlich zum Abschied.
    "Komm bald wieder, bitte!", flüsterte sie. Die Angst war groß, dass er ebenso schnell wieder aus ihrem Leben verschwand wie Corvinus.

  • Und ob sie das konnten. Tuniken hatten nicht die Angewohnheit selbstständig die Räumlichkeiten zu wechseln. „ Meine Tunika ist stubenrein und ans allein sein gewohnt.“ sagte Massa grinsend. Bereitwillig ließ er sich von Alpina führen. Die Ecke im Haus kam ihm bekannt vor, die hatte ihm Alpina heute gezeigt. Es könnte ihr cubiculum sein. Er lag richtig und keine Minute später mit Alpina in diesem großen Bett.


    Wache und sehr intensive Phasen wechselten sich mit ruhigen Phasen ab. Die erster gemeinsame Nacht der beiden, die viel zu schnell zu ende ging.
    Massa war hundemüde und kaputt. So einen Marathon hatte er seit Ewigkeiten nicht mehr mitgemacht. Aber egal, was er die Nacht dafür geschenkt bekam wog das alles auf.
    Ein zärtlicher Kuss von Alpina machte den Abschied erträglicher. Massa blieb ihr nichts schuldig, erwiderte den Kuss. „ Werde ich. In spätestens 3 Tagen. Versprochen.“ Drei Tage, drei Tage, in denen sich dienstliche und außerdienstliche Termine die Klinke in die Hand geben würden.

  • Wenige Tage nach dem Erhalt des Briefes hatte sich Alpina soweit gefangen, dass sie sich an die Beantwortung des Briefes machen konnte, den Decria Timarcha, die Mutter von Corvinus und Curio, ihr geschickt hatte.


    Ad Decria Timarcha
    Vinus Vosegus Helveti


    Liebe Timarcha,


    mit unsäglicher Trauer erfüllt mich dein Brief. Die bange Angst, die sich schon seit langem in meine Seele geschlichen hat, wird zur Gewissheit. Mit großer Anteilnahme teile ich Euren Verlust, der ja auch meiner und Uricinas ist. Wie bitter muss der Verlust seines ältesten Sohnes für deinen Gatten sein. Er hatte sicher große Hoffnung in die weitere Karriere seines Erstgeborenen gesetzt. Wie es für dich als Mutter ist, kann ich ungefähr nachempfinden, wo ich doch selbst Mutter bin. Ein furchtbarer Schicksalsschlag.


    Etwa zeitgleich mit deiner Nachricht hatte ich ein eigenartiges Erlebnis. Ein verlumpter Mann, vermutlich ein Germane, der nur radebrechend Latein sprach, überbrachte mir eine sehr persönliche Nachricht von Corvinus. Vermutlich schrieb es sie sehr kurz vor seinem Tod auf ein Bärenfell, begleitet von einer Zeichnung, die eine Familie und eine Bärenfamilie zeigt - eine Anspielung auf unsere kleine Familie. Dazu folgende Worte: "Ich werde dich immer lieben Alpina Ich habe versucht zurück zu kommen doch es war mir nicht möglich zu stark waren die Kräfte die dies nicht wollten. Gestorben bin ich wohl schon am Danuvius Ich hoffe ich sehe dich auf der anderen Seite irgenwann wieder In Liebe dein Bär!"


    Es ist natürlich kein Zeugnis seines Todes, zumal der Bote nicht mehr befragt werden konnte. Er starb, wie ich gestern bei der Nachfrage in der Castra der Legio erfuhr, an seinen Verletzungen. Dennoch sagte der Mann desöfteren Corvinus Namen und hatte auch den Schlüssel von Corvinus Geheimversteck im Wald. So viele Zufälle kann es nicht geben. Ich nehme an der arme Mann hatte den Auftrag mir direkt von Corvinus Tod zu berichten, was ihm dann nicht mehr möglich war. Vielleicht hilft dir diese Anekdote dennoch, deine Zweifel zu beseitigen und um den verstorbenen Corvinus trauern zu können.


    Wie du dir denken kannst, beschäftigt mich auch die Frage nach den sterblichen Überresten meines Geliebten und wie die Manes besänftigt werden können. Auch möchte ich, dass es einen Ort gibt, an dem die Nachwelt seiner gedenkt und auch Ursicina und der Rest der Familie den Manes Opfergaben bringen kann, so wie es die Tradition will. Aus diesem Grund möchte ich einen Grabstein setzen, der sein Gedenken in Bild umsetzt.


    Von Herzen möchte ich, vor allem auch im Namen Ursicinas dafür danken, dass ihr mir und ihr die Hälfte der Casa Helvetia schenkt. Es ist sehr beruhigend zu wissen, dass Corvinus Tochter auf diese Weise auch in Zukunft versorgt sein wird.


    In einigen Wochen, wenn wir alle ein wenig gelernt haben mit der neuen Situation umzugehen, werde ich gerne auf dein Angebot zurückommen und Euch mit Ursicina gemeinsam besuchen. Die Grüße an Duccia Silvana richte ich selbstverständlich gerne aus.


    Ich bin in Gedanken bei Euch und fühle mich Euch durch die Trauer noch mehr vereint.


    Vale bene, Timarcha


    Susina Alpina mit Ursicina

  • Ein Brief von Licinus und Esquilina! Alpina erkannte es sofort an dem Siegel und dem Absender. Sie nahm den Brief mit sich ins Schlafzimmer, brach das Siegel und las Ursi, die dort spielte, den Inhalt vor.
    Erleichtert stellte sie fest, dass die beiden gut und sicher in Rom angekommen waren. Ganz besonders freute sich Alpina über den Teil, den Esquilina selbst geschrieben hatte. Ursi sprang auf, als sie hörte, dass ihre Mutter ihr einen Kuss von Esquilina geben sollte, um diesen persönlich abzuholen. Sie sah sich die Zeilen ganz genau an, denn auch wenn sie noch nicht lesen konnte, erkannte sie doch die perfekt gezogenen Buchstaben, die Iulius Licinus geschrieben hatte und konnte entsprechend ahnen, dass die noch unsicheren Wörter von ihrer Freundin stammten. Traurig sah sie ihre Mutter an.
    "Ich will Esquilina wiedersehen! Können wir nicht einfach morgen nach Rom fahren, um sie zu besuchen?"


    Alpina streichelte ihrer Kleinen über den Kopf.
    "Leider nein, cara mia! Rom ist nicht eben um die Ecke. Wir müssten die Alpes queren oder gar wie der Praefetus mit dem Schiff fahren. Das geht leider nicht!"


    Unverzüglich brach Ursi in Tränen aus. Ihre kleinen Fäuste schlugen auf die Schenkel ihrer Mutter.
    "Ich will aber! ich will aber! Ich will zu Esquilina!!!!"


    Seufzend ertrug die Mutter die Schläge und streichelte weiter das Haar der verzweifelten Tochter.
    "Weißt du was? Wir schreiben ihr gleich zurück! Was meinst du, wäre das was?"
    Schniefend wischte sich Ursi die Rotzglocke von der Nase fort und sah ihre Mutter in einer Mischung aus Wut, Verzweiflung, Trozt und leiser Hoffnung an.
    "Wenn wir sie dann doch besuchen können, dann schon."

  • Ein paar Wochen, nachdem Alpina und Massa beschlossen hatten, dass es besser wäre getrennter Wege zu gehen, machte sich die raetische Hebamme große Sorgen. Ihre Blutung war überfällig. Wenn sie richtig gezählt hatte war sie deutlich über den 28 Tagen, die ihr Zyklus sonst hatte. Es mussten wohl 32 oder 33 Tage sein.


    Kein Bauchgrimmen und auch keine Kopfschmerzen, wie sie es sonst oft hatte, wenn die monatliche Reinigung anstand. Allerdings fühlte sie auch keine Spannung in den Brüsten, wie damals, als sie mit Ursicina schwanger war. Sie konnte doch nicht etwa schwanger sein? Der Zeitpunkt ihrer Intimitäten mit Massa war nah am Eisprung gewesen, doch eigentlich sollte sie noch unfruchtbar gewesen sein an diesem Tag. Alpina rätselte weshalb die Blutung ausblieb.


    Sie überlegte, ob sie einen Kräutertrank mischen sollte um die Blutung anzuregen, doch erinnerte sie sich noch sehr gut an das letzte Mal als sie ganz gezielt eine Blutung hervorgerufen hatte. Sie war hin und hergerissen. Sie wollte keine Abtreibung auch wenn sie zugeben musste, dass sie auch kein Kind von Massa bekommen wollte. Letztlich entschloss sie sich noch ein paar Tage zuzuwarten. Vielleicht verspätete sich die Blutung dieses Mal einfach.

  • Am 39 Tag des Zyklus, Alpina war sich schon fast sicher gewesen, dass sie erneut schwanger war, setzte eine heftige Blutung ein. Zusammengesetzt aus dicken Klumpen geronnenen Blutes ergoss sich die Menstruation nach außen und damit auch das kleine, sich gerade erst in Entwicklung befindliche Leben. Alpina trauerte um das Kind, denn sie wäre doch gerne noch einmal Mutter geworden, andererseits dankte sie auch Iuno Lucina, dass sie ihr in dieser Situation kein Kind schenkte.
    Die Beziehung zu Massa war nicht von Dauer gewesen, sie hatte gespürt, dass sie nicht füreinander gemacht waren, auch wenn sie ihn nach wie vor mochte und seinen liebevollen Umgang mit Ursi sehr geschätzt hatte.


    Nun konnte sie Abschied nehmen. Von der Vorstellung erneut eine dauerhafte Beziehung zu einem Soldaten einzugehen und von der Hoffnung wieder Mutter zu werden. Mit dem Blut und den Gewebsfetzen ergossen sich heiße Tränen in den Nachtopf.

  • Alpina war sehr überrascht als der nächste Brief von Lininus und Esquilina nicht nur aus einer Briefrolle bestand sondern auch ein Päckchen mit einem Codex enthielt. Neugierig las sie zuerst die Überschrift des Codex, bevor sie den Brief ihres römischen Freundes öffnete.


    Gynaecolgica des Soranus von Ephesus



    stand darauf.
    Faszniert betrachtete Alpina die Schrift. Doch bevor sie neugierig darin las, nahm sie den Brief des Freundes zu hand.


    Ad
    Susina Alpina
    Casa Helvetia
    Mogontiacum


    Liebe Alpina,


    wir beide haben uns sehr über deinen Brief gefreut.


    Ich danke dir herzlich für deine medizinischen Ratschläge und werde mich mal umsehen, ob sich auf den hiesigen Märkten diese geheimnisvolle Knolle findet. Pfefferminze gibt es, ich weiß zufällig, dass wir sogar welche im Haus als Gewürz haben.


    Nun, ich verlasse mich noch auf den medicus in der castra. Der Mann macht ein ganz kompetenten Eindruck und in der apotheca würde dir wohl das Herz übergehen. Man merkt, dass wir hier in Rom sind und die Geldreserven der Prätorianer größer sind, als die einer legio an der Grenze.


    Ansonsten gewöhne ich mich langsam an die Arbeit hier und auch an meine Pflichten als Hausherrn der Casa. Kurz nach meiner Ankunft hier mussten die beiden Senatoren nämlich Rom aus verschiedenen Gründen kurzfristig verlassen.


    Ich freue mich darauf schon bald wieder von euch zu hören, denn was du geschrieben hast gilt auch umgekehrt. Und stups Ursicina mal auf die Nase von mir.


    in treuer Freundschaft


    Dein Licinus


    Liebe Pina und liebe Ursi,


    es ist weit, weißt du und deshalb kann man nicht einfach so kommen. Aber ich will euch auch besuchen. Vor allem wenn Papa lange arbeiten muss und ich schlafen muss bevor er heimkommt. Aber das ist nicht oft.


    Ich lerne ganz fleißig, damit ich irgendwann mal genauso viel kann wie du, Pina. Und auf Papa pass ich auch auf. Aber eigentlich macht er gar nicht so viele Dummheiten. Auch wenn ich den Leuten ständig erklären muss, dass sie sich nach links stellen müssen, wenn sie mit ihm reden. Erwachsene sind manchmal sooo doof. Du und Papa natürlich nicht.


    Ich vermiss euch


    Esquilina.



    Nachtrag:


    Liebe Alpina,
    auf dem Weg zum Postversand bin ich an einem Buchladen vorbeigekommen, wo mir der beiliegende Codex in die Augen fiel. Ich fürchte zwar dass du aus ihr nichts neues mehr lernen wirst, aber ich möchte sie dir dennoch zum Geschenk machen.
    Licinus



    Begeistert drückte Alpina den Brief an ihr Herz. In Gedanken drückte sie Licinus und Esquilina, die beide so weit fort und ihr doch so nah waren. Wie lieb von Licinus, dass er an sie gedacht hatte, als er den Codex gesehen hatte. Ja, das war genau ihr Thema. Wie interessant! Gleich wollte sie sich in das Buch vertiefen.

  • Alpina öffnete den Codex und vertiefte sich in das erste Kapitel.


    Kapitel 1


    Welche Frau eignet sich zur Hebamme?


    Die Erörterung ist notwendig, damit wir nicht ungeeignete Personen unterrichten und uns umsonst bemühen.
    Erforderlich ist Kenntnis des Lesens und Schreibens, scharfer Verstand, gutes Gedächtnis, Fleiß, Ehrbarkeit, normale Sinnesorgane, gesunde und kräftige Gliedmaßen; manche verlangen auch, dass die Hebamme lange und schmale Finger habe und die Nägel kurz gerundet trage.
    Die Kenntnis der Schrift verschafft ihr die Möglichkeit, auch theoretisch ihre Kunst zu studieren, scharfer Verstand erleichtert es ihr, was sie hört und sieht zu verstehen, das gute Gedächtnis, die erlernten Kenntnisse zu behalten, denn das Wissen gründet sich auf Merken und Auffassung. Liebe zur Arbeit verleiht ihr Ausdauer; denn mannhaften Ausharrens im Leiden bedarf, wer solche Wissenschaft erlernen will.


    Die Hebamme ließ den Codex sinken. Entsprach sie den Anforderungen des Autors? Sie konnte Lesen und Schreiben - ja. Scharfen Verstand? Naja... wer sollte das beurteilen? Ein gutes Gedächtnis besass sie schon, zumindestens im Bezug auf ihr Fachgebiet. Fleiß, Ehrbarkeit und normale Sinnesorgane - ja, das definitiv. Gesunde und kräftige Gliedmaßen. Nun ja, gesund ja, aber viel Kraft besaß sie nicht.
    Lange, schmale Finger.... Alpina sah an sich herab. Nicht wirklich. Eher kleine Hände mit mittellangen Fingern. Die Nägel aber stutzte sie regelmäßig.


    Dann führte der Autor aus, warum er diese Dinge forderte. Alpina nickte. Das war alles logisch und schlüssig.
    Sie fragte sich, ob es dort wo dieser Soranus lebte und praktizierte eine Möglichkeit gab, Kenntnisse und Wissen über ihren Beruf an einer Schule zu lernen. Sie hatte den Hebammenberuf von ihrer Mutter gelernt und die von deren Mutter. Aber was gab es sonst noch alles zu lernen? Was wussten die Hebammen in Rom oder Ephesus, was sie nicht wusste?


    Liebe zur Arbeit - ja! Und noch einmal - Ja!!! Das hatte sie und sie wusste, dass man Leiden aushalten musste, um es in diesem Beruf zu etwas zu bringen.

  • Alpina las weiter im Buch des Soranus. Die Lektüre erwies sich als spannend. Was sagte dieser Medicus, der sich auf Frauenkrankheiten spezialisiert hatte, über die Fähigkeiten, die eine Hebamme mitbringen musste?


    Ehrbar muss sie sein, weil ihr bisweilen Hauswesen und Privatgeheimnisse anvertraut werden, und weil verdorbenen Charaktere die Einbildung, medizinische Kenntnisse zu besitzen, oft zu Intrigen verleitet; ferner im Besitze gesunder Sinnesorgane, weil sie bald mit den Augen, bald mit dem Gehör untersuchen, bald mit dem Tastsinn erfassen muss, mit geraden Gliedern begabt, damit sie ungehindert ihren Geschäften nachgehen kann, von kräftiger Konstitution, denn weil sie auf mühsame Wanderungen angewiesen ist, unterzieht sie sich gewissermaßen doppelter Anstrengung. Auch ist es gut, wenn sie lange und schmale Finger hat und kurze Nägel trägt, damit sie beim Berühren entzündeter Stellen im Inneren keine Schmerzen verursacht. Dieses erreicht sie jedoch auch von selbst durch fleißige Arbeit und Übung.


    Die Raeterin ließ den Codex sinken. Ja, Verschwiegenheit war wichtig. Was war ihr nicht alles anvertraut worden in all den Jahren? Kuckuckskinder, Verhältnisse von Sklavinnen mit ihrem Herrn und umgekehrt, der Hausherrin mit einem Sklaven, aber auch Vergewaltigungen und Mißbrauch, schreckliche Grausamkeiten und Abtreibungen.


    Er warnte davor, dass die Einbildung über medizische Fähigkeiten zu verfügen zu Intrigen verleite. Nachdenklich ließ sie den Codex sinken. Wie meinte er das? Hatte sie ausreichende medizinische Fähigkeiten oder bildete sie sich das nur ein? War sie schon verleitet worden Teil einer Intrige zu werden? Kritisch ließ sie die Vergangenheit vor ihrem Auge ablaufen. Sie konnte in jedem Fall noch mehr lernen, musste dringend ihre medizinischen Fähigkeiten verbessern, zum Wohle der Frauen, Männer und Kinder, die sich ihr anvertrauten.


    Gesunde Sinnesorgane hatte sie. Mühsame Wanderungen fielen ihr nicht schwer. Beruhigt las sie, dass die langen, schmalen Finger nicht dringend nötig waren, da man die Kunst des Berührens entzündeter Stellen im Inneren auch durch fleißige Arbeit und Übung erlernen konnte. Ihre Finger waren schließlich nicht so lang und schmal wie gefordert.


    Mit einem Seufzen blickte sie auf das Werk des Griechen. Wie gerne würde sie von so einem Spezialisten lernen eine bessere Hebamme zu werden.

  • Das erste Kapitel war zu Ende. Alpina konnte nicht aufhören. Sie begann das nächste Kapitel zu lesen.


    Kapitel 2


    Die tüchtigste Hebamme Es ist nötig, das was zu einer tüchtigen Wehemutter gehört, zu besprechen, damit die Tüchtigsten ihrer selbst bewusst werden, die Anfängerinnen dieselben als Muster ansehen, das Publikum aber wisse, welche es rufen soll. Im Allgemeinen nennen wir diejenige fertig, welche die Heilkunst völlig erfasst hat (theoretisch), die Tüchtigste aber die, welche schon mit Hand angelegt hat und mit der Theorie viele Erfahrung verbindet.
    Im Besonderen aber betrachten wir diejenige Hebamme als die tüchtigste, welche im ganzen Gebiete der Therapie geübt ist – denn bald muss man diätetisch, bald chirurgisch, bald pharmaceutsich eingreifen. Die im Stande ist, richtige Anweisungen zu geben, die den Zusammenhang mit dem Allgemeinen erfasst, das Nützliche daraus zu entnehmen versteht, dann im Einzelnen sich nicht beim Wechsel der Symptome verwirren lässt, sondern dieselben in entsprechender Weise lindert, welche ferner ruhig und unerschrocken bei Eintreten von Lebensgefahr ist, in geschickter Weise den richtigen Weg der Hilfe vorzuschlagen versteht, Trost den Leidenden zuspricht, Mitgefühl besitzt. Dass sie bereits geboren habe, ist nicht durchaus erforderlich, wie einige Autoren meinen, damit sie bei eigener Kenntnis der Schmerzen mit den Kreissenden fühle, was bei solchen, die geboren habe, eher vorauszusetzen sei. Ferner erfordert ihr Dienst Kraft, doch braucht sie nicht durchaus jung zu sein, denn auch eine junge kann kraftlos und im Gegenteil eine ältere stark sein; dann muss sie mäßig im Genuss und stets nüchtern sein, weil der Augenblick nicht vorherzusehen ist, wo sie zu gefährlich Kranken(:..gerufen wird, auch verschwiegen, weil ihr viele Lebensgeheimnisse anvertraut werden, auch unbestechlich, auf dass sie nicht für Geld Abtreibungsmittel verabreiche, frei von Aberglauben, damit sie nicht um eines Traumes oder einer Beschreiung oder des gewohnten Mysteriums des Gottesdienstes willen eine heilbringende Handlung unterlässt.


    Alpina starrte auf die Zeilen. War sie so eine "tüchtige Hebamme?" Sie war durchaus praktisch begabt und verfügte auch über einige theoretische Kenntinisse wobei da sicher noch viel zu erlernen war. Sie gab nicht selten diätetische Hinweise, pharmazeutische auch, zumindest wenn es um Kräuter ging. Chirurgische Kenntnisse besaß sie - zwangsweise - soweit es eben notwendig war für die Geburt eines Kindes. Und in den letzten Jahren auch vermehrt bei verletzten Erwachsenen.
    Sie bemühte sich immer ruhig und unerschrocken zu sein, die richtigen Anweisungen zu geben und Trost zu spenden. Mitgefühl hatte sie mit Sicherheit.


    Kraft und Alter spielten nach Soranus keine Rolle und auch der Umstand, dass sie selbst geboren haben sollte, wenn sie einer Frau in den Wehen half. Bei Alpina war dies der Fall. Sie hatte Ursi geboren und wusste - bei Iuno Lucina - genau was es für Schmerzen bedeutete, einem Kind das Leben zu schenken.


    Für sie war es eine Selbstverständlichkeit nüchtern zu sein. Ihr wurde das Leben mindestens zweier Menschen anvertraut. Wie konnte man eine Geburt leiten, wenn man betrunken war?
    Verschwiegenheit und Unbestechlichkeit sollte doch eigentlich auch selbstverständlich sein, oder nicht? Abtreibungsmittel gegen Bestechnung? Unvorstellbar. Alpina hatte bereits Abtreibungsmittel gegeben, aber immer nur in einer echten Notlage der Frau oder aber weil sie Mutter oder Kind in Gefahr sah.


    Aberglauben durfte die Behandlung nicht beeinträchtigen. Aber auch Alpina wusste wie sehr Träume, Omina oder Götterzeichen eine Geburt beeinflussten und sei es auch nur deshalb weil sie die Frau verängstigten und damit die Geburt verlangsamten oder gar zum Stillstand brachten. Im günstigsten Falle beschleunigten sie die Geburt und halfen. Sie selbst war nicht gänzlich frei von "Aberlauben", da sie fest an den Einfluss der Götter glaubte. Doch hoffte sie, trotzdem ihre Arbeit nach bestem Wissen und Gewissen auszuführen und nichts zu unterlassen was der Heilung zuträglich war.


    Alpina ließ den Codex sinken. Sie grübelte. War sie wirklich eine gute Hebamme? War sie tüchtig? Tüchtig genug?

  • Die raetische Hebamme las und las. Sie verschlang das Werk des Soranus von Ephesus beinahe. Es waren viele ihr völlig unbekannte Empfehlungen darin, seltsam anmutende Behandlungen und Theorien aber auch eine Menge Rezepturen mit ihr vollkommen unbekannten Zutaten und Pflanzen oder Heilpflanzen, die in Germania einfach nicht zu bekommen waren und wenn doch, dann zu astronomischen Preisen.


    Als sie das Buch beendet hatte stand für sie eines fest. Sie wollte das erlernen, was dieser kluge Medicus in seinem Buch beschrieb. Dazu musste sie zunächst einmal feststellen ob dieser Soranus von Ephesus noch lebte und praktizierte und wenn ja, dann wo? In Ephesus, so wie der Name vermuten ließ? Dann wäre es ein unmögliches Unterfangen von ihm direkt zu lernen. Aber Licinus hatte das Buch schließlich in Rom gekauft. Vielleicht gab es dort einen Schüler von ihm, der auch praktizierte und von dem sie lernen konnte? Sie musste Licinus schreiben. Eifrig ergriff sie Papyrus und Feder und legte los.


    Ad
    Marcus Iulius Licinus
    Princeps Praetorii
    Domus Iulia
    Roma


    Lieber Licinus,


    sei auf´s herzlichste bedankt für das großartige Buch! Ich konnte gar nicht mehr aufhören, darin zu lesen. Es hat mir so viele neue Einblicke gegeben in die Frauenheilkunde und so viele Behandlungsmöglichkeiten erwähnt, mit denen ich noch nicht vertraut bin. Nichts würde ich lieber tun, werter Freund, als diese Wissenschaft zu erlernen.
    Kannst du mir sagen, wo der Autor des Werkes lebt und arbeitet? Lebt er, wie sein Cognomen ahnen lässt, in Ephesus? Oder weißt du ob es in Rom Medici gibt, die nach seinem Vorbild arbeiten und lehren?


    Bitte versuche das für mich in Erfahrung zu bringen. Ich würde alles möglich machen, um diese Kunst zu erlernen. Wenn ich nur nicht bis Ephesus reisen müsste. Denn dann wird es leider unmöglich sein.


    Drücke Esquilina ganz herzlich von mir und schreibe mir bitte so bald wie möglich zurück. Vergiss nicht mir zu schreiben wie es der Kleinen, inzwischen sicher wieder gewachsenen Maus geht und was sie Neues in der Schule gelernt hat. Auch interssiert mich brennend, wie es dir gesundheitlich geht. Ich hoffe gut?


    In treuer Freundschaft und mit tiefstem Dank für das wundervolle Geschenk,
    Alpina

  • Überrascht nahm Alpina den Brief entgegen, den ihr ein Bote überbrachte. Er kam auch Rom. Allerdings nicht, wie erwartet von Licinus sondern von einem Helvetier, wie ihr das Siegel deutlich zeigte.
    Die Raeterin nahm den Brief mit sich auf ihr Zimmer. Dort brach sie das Siegel und las den Brief.


    Ad
    Susina Alpina
    Casa Helvetia
    Mogontiacum



    In anteilnehmender Trauer


    Salve Susina Alpina,


    du wirst dich sicherlich wundern über diesen Brief. Genauso wunderte ich mich vor einigen Tagen als ich Nachricht erhielt der Erbe meines Verwandten Lucius Helvetius Corvinus zu sein. Mit großer Trauer erfüllt mich die Nachricht von seinem Tod. Ich mag mir gar nicht vorstellen wie es sich dabei für dich, seiner Frau anfühlt. Ja diesen Status hast du, wenn auch nicht vor dem römischen Recht dann aber doch in den Augen der Gens. Leider weiß ich nicht viel über dich. Ich habe irgendwann mit Corvinus Mutter ein paar Briefe geschrieben und sie hat mir ein wenig von dir berichtet. Das du Hebamme in Mogontiacum bist, die Gefährtin von Corvinus die er heiraten wird sobald der Exercitus das zu lässt und das ihr eine gemeinsame Tochter habt.
    Ich hoffe du und die kleine Helvetia sind wohl auf und ihr seid versorgt!


    Ich bin mir nicht sicher ob du weißt wer ich bin. Meinen Namen kennst du ja nun. Ich und Corvinus teilen uns einen Großvater. Ich lebe in der Nähe von Roma Eterna und betreibe dort für die Gens ein Weingut.


    Ich soll dir auch das Beileid und Unterstützung von Marcus Helvetius Commodus ausrichten. Dem Oberhaupt der Familie in dessen Haus ich mich immer aufhalte wenn ich in Roma weile und aus dem ich dir auch gerade schreibe.


    Ich würde gerne nach Germanien reisen und nach dem rechten sehen. Aufklären warum ich und nicht du oder wenigstens eure Tochter als Erbin eingetragen sind. Doch leider hatte ich vor kurzem einen schweren Unfall und erhole mich von einer Trepanation. Da ich weiß das du medizinisch gebildet bist weißt du das eine solche Verletzung eine lange Genesung nach sich zieht. Deshalb ist eine Reise derzeit leider nicht möglich und ich muss auf diesem Weg Unterstützung und Anteilnahme bieten.


    Wir, meine Wenigkeit und Marcus Helvetius Commodus bitten dich und bieten dir an dich jederzeit an uns zu wenden wenn du Hilfe oder Unterstützung benötigst.


    Vale Bene
    Tiberius Helvetius Varus & Marcus Helvetius Commodus



    Mit großer Verwunderung ließ sie den Brief sinken. Corvinus hatte ihr nie von seinen Verwandten in Rom erzählt. Sie wusste, dass die Familie seines Vaters aus Rom stammte, ihn der Militärdienst nach Germanien verschlagen hatte. Aber sie hatte nie von Helvetius Varus und Commodus gehört.
    Jetzt waren sie die Erben von dem was Corvinus besessen hatte. Nun ja, sie hatte ja auch nichts erwartet. Der Brief und die darin ausgedrückte Anteilnahme waren schon mehr als sie erwarten konnte. Dann sprach dieser Helvetier von einem Unfall, der ihn ans Bett fesselte. Eine Trepanation! Eine Schädelöffnung! Alpina erstarrte. Er musste von Glück sagen, dass er so eine schwere Verletzung und Operation überstanden hatte. Abschließend boten die beiden Helvetier ihre Unterstützung an. Nun ja, sicherlich nur freundliche Floskeln, aber immerhin.


    Alpina grübelte. Sollte sie die Helvetier um Hilfe bitten, wenn sie tatsächlich nach Rom reisen wollte? Durfte sie das? War es auch so gemeint oder eher pro Forma?
    Sie las den Brief noch einmal. Er klang warmherzig und mitfühlend. Vielleicht sollte sie es versuchen. Zunächst aber wollte sie eine Nacht darüber schlafen und vor allem wollte sie abwarten, was ihr Licinus schrieb. Sie wartete immer noch auf dessen Antwort aus Rom. Zur Zeit war der Postverkehr zwischen Rom und Mogontiacum ungewöhnlich langsam.

  • Es war soweit. Alpina würde mit Ursi nach Rom abreisen. Sie hatte alles vorbereitet. Balbus war eingeführt in die wichtigsten Arbeiten in der Taberna Medica. Er hatte ihr Rezeptbuch mit den wichtigsten Rezepten, sie hatte ihm gezeigt wie sie Salben, Medicinalweine und Kräutermischungen für Tränke, Bäder und Waschungen zubereitete. Alle invasiven Techniken kannte er besser als sie. Die Gebärenden würden in dieser Zeit von einer Kollegin aus den Cabanae übernommen.


    Nun war es an der Zeit, Licinus ihre Ankunft anzukündigen. Sie holte Papyrus und Feder und schrieb.


    Ad
    Marcus Iulius Licinus
    Princeps Praetorii
    Domus Iulia
    Roma


    Lieber Licinus,


    es ist soweit! Ich habe einen Vertreter für die Taberna Medica gefunden und werde in wenigen Tagen nach Roma abreisen. Ich hoffe sehr, dass dir das nicht ungelegen kommt. Ursi nehme ich selbstverständlich mit. Ich freue mich so sehr darauf dich und Esquilina wiederzusehen. Aufgeregt bin ich natürlich auch. Die Gynaikolgia des Soranus habe ich bei mir und hoffe so sehr, ihn treffen und bei ihm lernen zu dürfen.


    Drücke Esquilina ganz fest von mir.
    In freudiger Erwartung,


    Alpina


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