Allein. In einsamer Stille saß Dives vor den beiden Briefen. Der obere stammte von seiner Großtante, die ihm wohl wieder einmal ungefragt zahlreiche gut gemeinte Ratschläge auf den Weg geben wollte. Vermutlich würde er keinen einzigen davon beherzigen. (Dafür wusste die rüstige Imperiosa schlicht zu wenig über die komplizierte und verzwickte Lage ihres divitischen Großneffen.) Dennoch freute er sich zweifellos auf ihren Brief. Unter selbigem jedoch lugte unheilvoll das nur halb verdeckte Decimer-Wappen hervor. Und anders als bei all den anderen Briefen hatte der Iulier hier nun nicht die geringste Ahnung davon, was ihn wohl in diesem Schreiben erwarten würde.
Womöglich hatte der Decimer erst jetzt vom Tod Sergias erfahren. Und womöglich hatte er daraufhin nun diesen Brief geschrieben, um Dives - ganz im Sinne seines Auftritts bei ihrer Hochzeit - seine hämische Freude über all das Unglück, welches sie über die Iulier gebracht hatte, mitzuteilen. Es wäre immerhin nicht sein erster Brief, der Dives einem verbalen Schlag ins Gesicht gleich treffen würde... Wäre es unter diesen Voraussetzungen vielleicht sogar besser, diesen jüngsten Brief erst gar nicht zu lesen? Er könnte abhanden gekommen sein... verloren irgendwo inmitten der unzähligen anderen Briefe. Das würde die Gefühlswelt des Iuliers womöglich vor einem weiteren Schlag bewahren.
"Aber ich bin ja nicht feige. Zumal er mir ja noch irgendetwas bedeuten müsste, um mich zu verletzen.", sprach er sich selbst Mut zu und erinnerte sich seines späteren Opfers an Apoll, das ihn von der starken Zuneigung zu diesem Decimer erlöst haben sollte. So also wagte er sich schlussendlich nach einer gefühlten Ewigkeit doch, den decimischen Brief zu öffnen. Und er las...
"Mein Freund." Bereits nach diesen zwei Worten stockte der Iulier und fragte sich unweigerlich, ob sie das denn tatsächlich waren: Freunde. Sie hatten seit Jahren keinen Kontakt mehr, gingen sich seit Jahren aus dem Weg, und in einem der letzten Konversationen - dem bereits eingangs angesprochenen Brief - hatte Decimus doch einst auch recht deutlich gemacht, dass ihre Freundschaft beendet war. Verloren. 'Sage mir, verlor'ner Freund...'
"Wie Du weißt, ist es für gewöhnlich meine Devise, immer gut informiert zu sein. Dies ist im Augenblick leider nicht der Fall, da ich gerade erst von einer sehr langen Mission zurückgekehrt bin. So weiß ich nicht viel mehr, als dass Deine Gattin zu Fall gekommen ist und Du Dich aufs Land zurückgezogen hast.", las Dives weiter und hielt anschließend kurz inne. Es zeichnete sich ein schmales Lächeln auf seinen Lippen ab, während er sich misstrauisch fragte: Waren diese Worte aufrichtig und ehrlich? Oder versuchte Decimus, der als Praetorianer doch stets so überaus gut informiert war, sich hier lediglich die eigenen Hände rein zu waschen von den Vorkommnissen um einen gewissen Trecenarius Tiberius Verus?
Aulus Tiberius Verus. Einst hatte der Iulier eine Empfehlung für diesen Mann ausgesprochen, um damit einer Bitte seines (inzwischen nun ehemaligen) Verbündeten Tiberius Lepidus zu entsprechen. Gedankt hatte es ihm dieser Tiberier, indem er als Trecenarius hinter dem Rücken des Familienoberhauptes Dives gegen dessen Familia ermittelt hatte. Und als wäre dies nicht Verrat genug an der tiberisch-iulischen Verbundenheit, welche einst gar durch eine Ehe war manifestiert worden, hatte er in seinen Ermittlungen überdies irgendwie (Dives glaubte an einen Verrat durch Sergia) herausgefunden, dass Dives an anderen Männern interessiert war. - Es war dies das Ende der divitischen Unabhängigkeit, denn er war seither erpressbar durch die Soldaten in schwarz. Es war das Ende der divitischen Karriere. Es war bis auf absehbare Zeit das Ende seiner Tage in der Urbs Aeterna, der Ewigen Stadt, dem Zentrum praetorianischer Macht und Kontrolle.
"Wenn du tatsächlich 'gerade erst von einer sehr langen Mission zurückgekehrt' bist, dann werde ich mich wohl über die aktuellen Verlautbarungen des Palatin informieren müssen.", sprach der Iulier zu dem Schriftstück in seinen Händen. "Denn ich kann mich zumindest nicht entsinnen, dass du offiziell vom Posten eines Praefectus Praetorio entlassen wurdest." Und wer an der Spitze der Praetorianer stand, der wäre wohl ohne jeden Zweifel - mindestens in Teilen - mitverantwortlich dafür, was alle rangniedrigeren Praetorianer so taten...
Doch zurück zum Brief. Dives überflog die nächsten Zeilen, die von einer fernen Vergangenheit sprachen. Erst der letzte Satz zog neuerlich seine ganze Aufmerksamkeit auf sich:
"Natürlich ist mein Einfluss bei Weitem nicht mehr der alte, aber wenn ich Dir irgendwie beistehen kann, lass es mich wissen!" War das der Versuch einer Entschuldigung? Gestand Decimus hier zwischen den Zeilen nun doch ein, mehr zu wissen? Gestand er ein, über das damalige Handeln des tiberischen Trecenarius doch informiert zu sein und zu ahnen, dass es ebendieser praetorianische Angriff auf die Senatoren-Familia Iulia Dives war, der den Senator und seine Kinder aus Roma vertrieben hatte?
Doch was wollte er tun? Wohl nur der Tiberier selbst wusste, wem er alles die divitische Achillesferse offenbart hatte. Vielleicht wusste es inzwischen auch Tiberius Lepidus schon, oder ein anderer tiberischer Verwandter. Vielleicht wusste es der komplette Führungsstab der Praetorianer. Vielleicht existierte gar eine schriftliche Akte, über die ganz zufällig ein einfacherer Miles beim Schreibtischdienst gestolpert war. Dann würde es in Windeseile in allen Mannschaftsgraden bekannt sein - und es wäre nur eine Frage der Zeit, bis jemand auf die Idee käme, einem in Roma ansässigen Dives einen 'freundlichen' Besuch abzustatten.
Nein. Eine Rückkehr nach Roma wäre selbst im Falle des Todes des Trecenarius keine sichere Option.
"Du wirst wohl ein Weile warten müssen, bis ich mich ausreichend informiert habe und dir antworten kann.", schloss Dives letztlich seine 'Unterhaltung' mit dem decimischen Brief. *
* Ich bin jetzt erstmal knapp anderthalb Wochen im Urlaub. Londinium is calling.