Marcus Iulius Dives Minor hatte es satt, wie seine eigene Mutter den Mann, dessen Namen er erhalten und in dessen Fußstapfen er einst unweigerlich würde treten dürfen - oder müssen -, tagein und tagaus unentwegt in den Schmutz zog. Immer nur hackte sie auf ihm herum, zählte seine Fehler auf und machte ihn schlecht; dabei war sie, so meinte er zu wissen, doch selbst nicht einen Deut besser. Weshalb sonst sollte der Princeps sie entlassen - oder 'in den Erziehungsurlaub geschickt' - haben?
Erst schleifte sie seine Schwester und ihn hier hinaus aufs Land, wo es verglichen mit Roma nicht viel zu sehen und nicht viel zu erleben gab. Im Gegenteil hatte Minor zuletzt gar nur wegen ihr die Wagenrennen der Ludi Palatini verpasst und hatte seinen unangefochtenen Favoriten Prusias Kynegros nicht anfeuern und unterstützen können. Anschließend hatte er sich mit dem Nachbarsjungen Aulus angefreundet, was sie ihm ebenfalls nicht einen Moment lang gegönnt hatte. Stattdessen verbot sie ihm, Aulus zu besuchen und mit Aulus zu spielen. In der Konsequenz hatte er, da seine kleine Schwester als Mädchen von Kampfspielen in seinen Augen nichts verstand, allein spielen und gegen verschiedenen Ungeheuer aus den Tiefen des Meeres kämpfen müssen - genau so, wie in der Vorstellung des jungen Iuliers auch sein Papa dereinst als Tribun im stadtrömischen Sumpf gegen Kriminelle und andere Ungeheuer in den Kampf gezogen war. Doch auch dies versuchte ihm seine Mutter offenkundig madig zu machen.
Als Fausta ihn zuletzt gar vom gemeinsamen Abendessen auslud, war das Maß für den kleinen Dives endgültig voll gewesen. Er hatte keine Lust mehr darauf, dass ihm alles verboten wurde. Er hatte keine Lust mehr darauf, dass er ständig bestraft wurde. Er hatte keine Lust mehr darauf, sich andauernd schlecht zu fühlen, weil seine Mutter kein gutes Haar ließ an dem Mann, der den gleichen Namen trug wie Minor selbst. Es fühlte sich an, als würde sie stets indirekt auch gegen ihn wettern. Darauf hatte er keine Lust mehr. Er hatte keine Lust mehr auf seine Mutter. Er wollte zu seinem Vater!
Still und heimlich schlich er sich folglich in einem ihm günstig erscheinenden Augenblick aus seinem Zimmer, stahl sich leise an den Bediensteten des Hauses vorbei und versteckte sich vor etwaig vorbeieilenden Sklaven, die mutmaßlich von seiner Mutter persönlich angetrieben worden waren, so wie sie manchmal hetzten. Es war beinahe wie ein aufregendes und gefährliches Spiel, in dem jeder falsche Schritt den eigenen Tod - in Form einer anzunehmen schlimmen Bestrafung durch seine Mutter - bedeuten würde. Der junge Dives, er imaginierte sich in die einstige Rolle seines Vaters als Tribun der ehrenwerten Cohortes Urbanae. Vollkommen auf sich allein gestellt hatte er einige Zeit verdeckt in diesem Anwesen - der fiktiven Subura - gelebt und ermittelt. Doch nun war die Zeit gekommen, da es galt, hier auszubrechen und zurück nach Hause - zu seinem Vater - zu finden. Doch überall lauerten feindliche Spione und Verräter - die Angestellten und Sklaven seiner Mutter -, an denen er auf Zehenspitzen vorbeischleichen musste, um sein finales Ziel zu erreichen. Selbst Aulus von nebenan hätte sich wohl kein spannenderes Abenteuer ausdenken können...
In seinen kuscheligen Lieblingsmantel gehüllt war die erste Etappe seiner Reise schnell geschafft. Minor hatte das Haus unbemerkt verlassen. Bald darauf fand er sich gar an der Grundstücksgrenze wieder, wo er im Folgenden nun beschloss, seine erste Rast einzulegen. Mit flinker Hand griff er in seine rechte Manteltasche und holte einen Keks hervor. Dabei lehnte er sich mit dem Rücken an die Grundstücksmauer und warf einen Blick zurück auf das Anwesen. Im Innern desselben saßen seine Schwester und ihre gemeinsame Mutter mutmaßlich gerade im Triclinium und hatten ebenfalls ihr Abendessen. Der kleine Dives überlegte, ob es tatsächlich so eine gute Idee wäre und er es tatsächlich wagen sollte, jetzt wegzulaufen. Eventuell sollte er sich zur Vermeidung weiteren Ärgers und noch größerer Konsequenzen doch lieber wieder zurück ins Haus schleichen und so tun, als wäre er nie weggewesen? Alternativ könnte er sich auch innerhalb der Grundstücksmauern irgendwo verstecken. Dann würde er immerhin in dieser Nacht noch einmal ruhig und sicher schlafen können. Zudem böte sich am frühen Morgen des Folgetages womöglich noch einmal die Gelegenheit für einen Kurzbesuch in der Küche, wo er seinen aus Keksen bestehenden Reiseproviant noch einmal etwas aufstocken könnte. In just diesem Augenblick allerdings rief jemand aus der Richtung des Hauses seinen Namen hinaus in die einsetzende Dämmerung. Die Flucht des jungen Iuliers war aufgeflogen.
Hastig und beinahe panisch steckte er den angebissenen Keks zurück in seine Manteltasche und hob das kleine Holzschwert auf, ohne welches ein römischer Tribun sich niemals allein so tief in die Subura wagte. Anschließend rannte er blindlings los auf die Straße - wo er sich sogleich fast zu Tode erschreckte, als scheinbar aus dem Nichts ein Ochsenkarren vor ihm auftauchte, sofort zu bremsen begann und in nur wenigen Schritt Entfernung hielt. Ein großer Mann stieg vom Wagen herab und kam langsam auf den Jungen zu. Die Kapuze seines Mantels verdunkelte sein Gesicht, sodass sich der kleine Dives unweigerlich zu fürchten begann.