In letzter Zeit war es in der Villa Claudia recht ruhig geworden. Sicherlich wuselte immer noch die gewohnte Zahl an Sklaven durch die Gegend und sorgte für den notwendigen Komfort, aber an Gesprächspartnern auf Augenhöhe mangelte es ziemlich stark. Livineia, die insgesamt keine sonderlich extrovertierte Persönlichkeit war, vermochte es auch nicht durch irgendwelche Freundinnen aufzufangen, dass ein Großteil der Familie einfach einmal ausgeflogen war - oder das Zeitliche gesegnet hatte.
Insbesondere ihre Brüder Marcellus und auch Felix fehlten ihr besonders. Felix war nun schon eine ganze Weile in Gesellschaft der erlauchten Ahnen der Gens Claudia, ein Umstand, der Livineia damals sehr zugesetzt hatte. Nicht nur, weil sie ihn grundsätzlich verloren hatte, sondern weil es ihr auch die eigene Sterblichkeit brutal vor Augen geführt hatte. Ihren Bruder so dahinsiechen zu sehen hatte ihr wehgetan. Obschon sie sich normalerweise niemals die Finger schmutzig machen würde und sich vor jedwedem Kontakt zu Kranken, Armen oder Schmutz scheute, hatte sie damals viele Stunden bei ihm verbracht und mit ihm gesprochen. Anfänglich hatte sie noch damit gerechnet, dass er seine Erkältung schnell überwinden würde, aber nach ein paar Tagen der massiven Verschlechterung seines Zustandes war ihr klar geworden, dass sie sich täuschte. Ständig hatte sie bei ihm gesessen und Angst davor gehabt, ebenfalls zu erkranken. Sie hatte es gehasst, dass er krank war; auch, dass sie selbst davor Angst gehabt hatte, zu erkranken. Heute hasste sie sich dafür, dass sie damals so viel Zeit darin investiert hatte, sich vor seinem Husten zu ekeln. Vor seiner verschwitzten Stirn. Immerhin hatte der Ekel sie nicht abgehalten, aber trotzdem... Er war ihr Bruder gewesen, einer ihrer beiden Lieblingsbrüder. Und er hatte es nicht geschafft.
Und Marcellus? Ob er es geschafft hatte, wusste sie nicht. Er war schon ziemlich lange fort, ohne dass sie ein Lebenszeichen von ihm gehört hatte. Er war nach Germanien gegangen, ein finsterer, unsympathischer Ort, der in ihm schon immer eine morbide Faszination ausgelöst hatte. Livineia hatte das niemals verstanden. Sie konnte sich kaum eine ungastlichere und schrecklichere Umgebung ausmalen als Germanien - bestenfalls noch Britannien. Von wegen 'wilde Schönheit' und all dieser Mist. Vielleicht hoffte er auf schöne, germanische Frauen. Auch das war für Livineia, die selbst nun so gut wie gar nicht von irgendwelchen fleischlichen Gelüsten getrieben wurde, nur schwer nachvollziehbar. Der ganze Rest war allerdings noch skurriler. Was trieb einen in Sümpfe mit diesen abermillionen Mücken, Krankheiten und brutalen Einheimischen? Das war kein Ort für einen Römer, schon gar nicht für einen Patrizier. Für sie selbst noch sehr viel weniger.
Jetzt schien dieser finstere Ort ihren Bruder verschlungen zu haben. Sie war sich da ziemlich sicher und auch innerhalb der Gesellschaft war das Thema im Grunde schon abgehakt. Er würde sich kaum in ein freiwilliges Exil begeben haben, nicht dort. Und er würde seine Schwester auch nicht einfach in dieser quälenden Ungewissheit zurücklassen. Es musste etwas passiert sein. Sie wartete eigentlich nur noch auf die Nachricht, dass irgendwelche Habseligkeiten von ihm gefunden wurden; seinen Leib hatten die Germanen vermutlich schon gegessen. Was gab es nicht für Gerüchte, je nachdem, wen man fragte?! Sie wagte kaum daran zu denken und immer wenn sie es doch tat - mehrere Male am Tag wohl - stürzte sie sich selbst in bescheuerte Hoffnungen, von denen sie wusste, wie bescheuert sie waren. Sie war eigentlich eine Realistin und lachte manchmal über sich selbst, über die eigene Naivität und ihre Verleugnung der Realität. Solange nichts von ihm gefunden wurde, war es eben leicht, die höchste Wahrscheinlichkeit abzuwerten. Anders als bei Felix gab es keine eindeutigen Beweise für einen Tod. Lediglich eindeutige Indizien. Nur blieb die Frage, wie lange sie sich belügen wollte? Sie mochte falsche Hoffnungen nicht. Hatte sie nie gemocht.
Mit halb geöffneten Augen blinzelte sie träge gegen den klaren, blauen Himmel. Sie quälte sich regelrecht damit, hier draußen zu sein, auch wenn sie im Schatten war. Nur diffuses Licht fiel auf sie und ihre Umgebung herab und der süßliche Geruch des Jasmins berauschte ihre Sinne. Sie mochte den Geruch - das war letztlich auch der Grund, nicht im Inneren des Hauses zu sein. Würde es erst noch wärmer werden, würde sie sich allerdings zurückziehen.
Jetzt, wo sie sich auch noch so allein fühlte, steigerte sich ihre Lustlosigkeit auf alles nur noch mehr. Sie hatte sowieso schon keine Lust, das Haus zu verlassen, sich mit Menschen abzugeben die unterhalb ihrer Würde waren (was die meisten Menschen des Reiches betraf...) oder sich unnötig anzustrengen. Für am Ende gar nichts. Ihr war schlichtweg langweilig. Nicht nur für den Moment, sondern generell; das ganze Leben war ihr schrecklich langweilig geworden, aber allein zu verreisen erschien ihr auch nicht sonderlich verlockend. Abgesehen davon dass sie keine Lust hatte, würde es wohl auch nicht gerade das Wohlwollen ihres Vaters oder Großvaters erwecken.
"Domina?" Als die Stimme an Livineias Ohr drang, verdrehte diese nur kurz die Augen und sah dann in das Gesicht von Piston. Nur, um ihm zu zeigen, dass er ihre Aufmerksamkeit besaß, sie verschwendete in diesem Augenblick noch keinen Atem an ihn. "Domina, Aurelius Laevinus wünscht Deinem Bruder einen Besuch abzustatten, was soll ich ihm sagen?" erkundigte er sich. Livineia bemerkte, wie unbehaglich der Sklave sich fühlte. Sie galt allgemein als launisch und herrisch, insbesondere, wenn sie gestört wurde - und das war nun gerade ziemlich eindeutig der Fall. Sie schloss kurz die Augen und atmete tief durch, sich durch diese Konfrontation deutlich gestresst fühlend. Was jetzt? Offenbar wusste Laevinus nichts von den Geschehnissen - von welchen denn auch? Was sollte sie ihm ausrichten lassen?
"Sag ihm, er ist nicht hier." meinte sie schwerfällig und hielt sich ein wenig leidend die Rückseite ihrer Hand vor die Stirn. Piston, wohl recht froh über sein Entrinnen, nickte rasch und meinte: "Sehr wohl, Domina." Er hatte sicherlich nicht im Sinn, weitere Rückfragen zu stellen und machte sich wieder auf den Rückweg, als dann plötzlich doch wieder die Stimme der Herrin zu hören war. "Ach, nein, lass ihn ruhig rein, ich werde mit ihm sprechen. Schick ihn hierher." Auch das sollte dem Sklaven recht sein, der erneut nickte, seinen Auftrag noch einmal bestätigte und dann verschwand.
Seufzend starrte sie in die Richtung, aus der Laevinus dann demnächst zu erwarten sein würde. Sie hatte eigentlich nicht die geringste Lust, ihn zu sehen. Es war ja nicht nur das unangenehme Gespräch über Marcellus, das sie nun erwartete. Da waren einfach noch ganz viele unangenehme Erinnerungen. Demütigende Erinnerungen an früher. So etwas konnte sie nicht gut leiden. Trotzdem schuldete sie es irgendwie ihrem Bruder. Sie empfand für ihre Familie immer schon tiefe Loyalität und Marcellus würde das wohl von ihr erwarten. Abgesehen von der Loyalität empfand sie zusätzlich eben diese zehrende Langeweile und immerhin würde sie das hier für ein paar Minuten unmittelbar beschäftigen und ihr für die nächsten Stunden auch noch ein bisschen was zu denken geben. Sie war schon ziemlich verzweifelt... Livineia, zwar zuweilen phlegmatisch, verwöhnt und arrogant war bei aller Dekadenz trotzdem nicht doof. Sie schob sich auf ihrer Cline ein wenig zurecht. Wäre es nicht Laevinus, würde sie ihn wohl insgesamt anders empfangen, aber von früher her kannte sie ihn recht gut und konnte ihm auf recht freundschaftlicher Ebene begegnen. Außerdem hatte sie keine Lust, sich für ihn irgendwie... anzustrengen.
Sie drapierte ihre Kissen so, dass sie ein wenig aufrechter auf der Cline liegen konnte, beinahe schon sitzend. Anschließend zupfte sie ihre Kleidung etwas ordentlicher zurecht, kniff sich einmal in die Wangen und angelte sich noch einmal ein paar Trauben, um den Geist ein wenig zu wecken. Da sah sie ihn in der Ferne auch schon näher kommen. Gut sah er aus.
"Salve, Aurelius." grüßte sie ihn mit höflicher Distanz und lud ihn mit einer Geste ein, sich doch ebenfalls niederzulassen.