Einsam kauerte der Mann in seinem Bett, starrte die Raumdecke seiner Stube an, die im Gegensatz zu anderen milites, ganz ihm gehörte. Die habitatio eines centurio war nicht üppig aber bot einen bescheidenen Luxus im Gegensatz zu den Mannschaftsunterbringungen. Es war still geworden. Zu still, so dass die Gedanken sich bewegen konnten. Marcus dachte nach. Nicht nur über sich, sondern über seine Zukunft. Es waren bereits Jahre an diesem Ort. Viele Jahre im Dienste seines Roms, welches ihn vergessen hatte. Kein Schreiben des Kaisers. Kein Schreiben aus der ewigen Stadt, dass ihn daran erinnerte, warum er hier war. Noch immer lag das fast vergessene Edikt des mächtigen Imperator in der Schublade seines Arbeitstisches. Es war nicht verborgen aber auch nicht sichbar. Es war die erste und letzte Nachricht gewesen. Der Kaiser wollte ihn hier und hatte ihm klar gemacht, dass er vorerst in der Legion dienen musste, um zu überleben. Manchmal kamen Marcus Zweifel. All die Entbehrungen, die Verluste und dieser monotone Dienst waren mehr Strafe als Sinnerfüllung geworden. Es war nicht seine Entscheidung gewesen. Niemals hatte er hier wirklich etwas selbst entschieden. Der Kaiser hatte von Feinden gesprochen, Christianern und Verrätern. Er hatte ihm einem nächtlichen und geheimen Gespräch zugesichert, ihn zu verstecken und zu beschützen, damit das gute Haus des Tiberius nicht ausstarb. Doch der Kaiser hatte ihm nie darauf geantwortet, was aus seiner Schwester geworden war. Briefe nach Rom an seine Familie waren stets unbeantwortet geblieben. Niemand kannte sie. - Und dem Kaiser wollte er nicht schreiben, da seine Wohltat ein Segen und zugleich Fluch war. Vielleicht sogar ein gerechter Fluch. Marcus dachte an seine Schwester, an seine Mutter und daran, was wohl aus ihnen geworden war. Es hieß, dass auch sie versteckt worden seien. Doch glauben konnte er das nicht. Es gab keine Gefahr für eine Frau, wie Stella und seine wahre Mutter. Doch für ihn selbst war die Gefahr real gewesen, nachdem der Vater verschwunden war und man von seinem Tod ausging. Der Aufstieg der diabolischen Christianer hatte sein Übriges getan. Es war bekannt, dass sich sein Vater im Kampf gegen diese besonders hervorgetan hatte.
Marcus musste also annehmen, dass die Christianer ihn getötet hatten. Immerhin war das geheime Netzwerk der Christianer groß und wahrlich jeder konnte diesem Irrglauben erliegen. Sobald man diesen Glauben annahm, war man automatisch ein Feind Roms und war bereit selbst Familienmitglieder zu verraten, nur um seinem Gott zu dienen, der - so nahm Marcus an - Menschenopfer verlangte. Marcus hatte sein eigenes Weltbild in der Ferne bauen müssen und dies bestand zu großen Teilen aus Vorurteilen und falschen Erzählungen. Seine Wissensquellen an diesem Ort waren nicht üppig. Und von einem centurio wurde viel mehr militärische Führung erwartet, als ein gesundes und gut gebildetes Wesen. Wie sagte sein Ausbilder stets, dass ein guter Offizier stets genügend Bildung besaß, um keine dummen Entscheidungen zu treffen aber gleichzeitig ungebildet genug, um sein eigenes Leben nicht zu hoch zu bewerten. Er vermisste Rom. Nicht den Schmutz und die verteufelten Ränke, sondern seine Familie und zumindest, was davon übrig war. Er konnte noch nicht wissen, dass seine Mutter verstorben war. Auch konnte er nicht wissen, dass seine Schwester allein für die Familie kämpfte. Marcus war isoliert in dieser fernen Einöde, in einem Militärlager, welches vielleicht die östlichste Bastion des Imperiums war. Gedanken spannen sich weiter, während der centurio sanft seine Augen schloss. Einen Moment der Ruhe, bevor er sich wieder dem Alltag widmen musste. Dem traurigen Alltag eines Mannes, dessen Geschäft die Disziplin war. Die Isolation hatte ihn verbittert und auch dieses Schweigen aus der Ferne. Es gab für ihn hier nichts zu gewinnen aber auch wenig zu verlieren. Ein legionarius trat in das Vorzimmer, wagte sich aber nicht weiter, um den gefürchteten centurio Tiberius nicht in seinem Heiligtum zu stören. Der legionarius meldete sich mit einem Räuspern, bevor er sich vorstellte.
"Immunes Lentilius Simplex, vierte Kohorte, erste Centurie, macht Meldung." Der Soldat nahm Haltung an. Ein Rumoren drang aus der Schlafstube des centurio, während dieser sich erhob. Marcus griff nach seiner Vitis griff, seinem Standeszeichen, welches er stets bei sich trug. "Lentilius," brummte der Tiberius, während seine Augen zu schmalen Schlitzen zusammengepresst waren. "Centurio," grüßte der Soldat und schluckte, seine aufrechte Haltung nicht verlassend. Er wagte es nicht. "Berichte," sagte Marcus und drehte den Rebstock in seinen Händen. "Legionarius Tullius Secundus ist zur Bestrafung angetreten und wartet ehrenhaft auf dein Erscheinen, centurio." Marcus kratzte sich am Hals, während er zu seinem Arbeitstisch trat, auf dem sein pugio lag. Mit einer gelangweilten Bewegung verstaute er diesen an seinem cingulum militare, welches recht üppig mit einigen Goldplättchen verziert war. Im Gegensatz zur regulären Truppe konnte er sich Gold leisten und trug auf seinem Militärgürtel einen Goldbeschlag, über den üblichen Metallplatten, die wiederum auf festem Leder aufgebracht waren. Schnell warf er noch an einen Blick zum Waffenständer, unmittelbar neben seinem Rüstungsständer. Auf dem Waffenständer lag im Zentrum in einer Halterung das Gladius seines Vaters. Es war ihm übergeben worden. Es trug viele Schrammen aber war stets repariert und saniert worden. Im Zentrum war in feinen Lettern eingraviert: tertium non datur. Am feinen Ebenholzgriff prankte ein eingearbeitetes Wappen seines Hauses und am Knauf selbst war eine Kordel aus Goldfäden angebracht. Mit dieser Kordel konnte man das Gladius bei Bedarf festbinden oder am Handgelenk befestigen, damit es in der Schlacht nicht aus der Hand fiel. Zwar wurde die Waffe vom Gürtel gezogen, doch konnte man sie mit einem geübten Griff, befestigen, um so im Schlachtengetümmel, die Waffe nicht aus der Hand fallen zu lassen. Marcus seufzte, während er einmal mit dem Finger über die Waffe fuhr, die sein Vater wohl im letzten Augenblick seines Leben in der Hand gehalten hatte. Sein Vater hatte die Härte nach Außen gelebt, obwohl Marcus glaubte, dass sein Vater eigentlich ein anderer Mensch war. Doch die Zeit hatte es egal gemacht. Rom hatte es egal gemacht. Und für Marcus war es inzwischen auch hinfällig. Vergiftet waren die Gefühle, die oft nur eine Wüste hinterließen. Marcus wandte sich an den Legionär. "Gut," war die knappe und salzige Antwort des Mannes, dessen Gesicht so schroff, wie das Land um das Kastell, geworden war. "Abtreten," befahl der centurio mit einer eisigen Stimme, während er selbst durch die einfache aber gut gearbeitete Tür seiner habitatio ins Freie trat. Seine schweren caligae schienen hämmernd den Boden bei jedem Schritt zum Beben zu bringen. Nicht weit waren einige Soldaten angetreten. Es handelte sich um die gesamte centurie des Tiberius, welche sich bei einem Pfahl versammelt hatte, an dem an Soldat stand, welcher sich seinen Oberkörper frei gemacht hatte. Zwei Legionäre, in typischen Tuniken der Legion, mit den erkennbaren Tätowierungen des Schriftzuges SPQR am linken Oberarm, standen unmittelbar neben dem Soldaten, welcher ein angespanntes Gesicht zeigte. Marcus blieb mit wogender Vitis in seinen Händen vor dem Mann stehen, bevor er zu den angetretenen Soldaten blickte.
"Dieser Mann hat gestohlen. Er hat aus einem Dorf gestohlen. Es ist unerheblich, was er gestohlen hat. Es ist einem miles verboten, zu stehlen," sagte Marcus. "Er hat seine centurie entehrt aber sich zumindest reumütig gestellt. Ihm drohte die unehrenhafte Entlassung und die Entfernung eines Fingers als Zeichen dafür, dass er unehrenhaft ist. Er war ein Dieb und er muss lernen. Eine solche Handlung ist nicht ohne Sühne zu entschuldigen. Strafe folgt auf Vergehen und Verbrechen, legionarii!" Die anwesenden Soldaten schluckten, da sie wussten, was den Armen nun erwarten würde. Der Tiberius hatte sich unter den Soldaten einen Spitznamen erarbeitet, der auf den ersten Klang harmlos wirkte aber unter den Soldaten für Furcht sorgte. Man nannte ihn "Noch eine!", da er die Angewohnheit hatte, seine Vites zu zerbrechen, indem er sie auf seine Soldaten schlug, wenn diese versagten oder gegen Anweisungen verstießen. Dann forderte er schlicht einen Soldaten auf, ihm eine weitere Vites zu bringen, um weitere Schläge und Strafen verteilen zu können. Im Gegensatz dazu stand jedoch sein Pflichtbewusstsein und seine Bereitschaft stets in vorderster Reihe zu führen, keinen Mann zurück zu lassen und sich durch die selben Qualen zu begeben, wie er sie von seinen Soldaten verlangte. Viele, die sich an das harte Regiment gewöhnt hatten, dienten gerne unter Tiberius, da er stets verlässlich war, nicht korrupt und immer alle Soldaten gerecht behandelte. Niemals war eine Strafe unverdient, wenn auch mal recht hart vollzogen. Viele andere Offiziere waren oft korrupt und ließen es zu, dass man sich von Diensten freikaufen konnte. Das gab es bei "Noch eine!" nicht. Warum Marcus so geworden war? Isolation, Einsamkeit und die Erfahrungen an diesem Ort hatten ihn mehr geprägt, als sein kurzes aber schönes Leben in Rom. Er musste sich an seine neuen Lebensumstände anpassen und musste in dieser Hinsicht von seinem Vater lernen, der ähnlich hart war. Nur Härte verschaffte Disziplin und Disziplin sicherte das eigene Überleben. Überleben aber wozu? Die Frage konnte Marcus nie beantworten und machte stets so weiter, wie es ihm beigebracht worden war. Wenigstens darin war er gut. Seine centurie war straff geführt, agierte stets mit nahezu voller römischer Perfektion und war immer gefechtsbereit, während andere Centurien nachgelassen hatten und sich eher dem Lagerdienst mit Unwollen hingaben. Marcus glaubte an seine Männer. Und genau deshalb zeigte er diese Härte, um sie sicher durch alle Situationen zu führen. Im Grunde versteckte sich dahinter die Überzeugung, dass er sie auf alles vorbereiten musste, was der orcus ausspucken konnte und gegen sie warf.
Wenn sie erst ihn hassten, vereinigte sie das; wenn sie lernten, dass in der Disziplin eine Ordnung lag und sie damit besser überleben konnten, lernten sie auch, dass sie alle Probleme und Situationen gemeinsam meistern konnten. Marcus nahm dies auf sich und war sich aber gleichzeitig klar, dass er dadurch noch mehr isoliert war. Er war nicht der gute Freund und große Bruder, sondern nur der centurio, der eindeutige Befehle gab. Mehr sollte er auch nicht sein. Umso mehr verwunderte es ihn, dass niemand seine centurie verließ oder ein Versetzungsgesuch stellte. Aus Gesprächen wusste er, dass viele Soldaten gerne unter ihm dienten, da sie zu jedem Zeitpunkt wussten, wen sie vor sich hatten und sie immer gerecht behandelt wurden. Gerechtigkeit war ein großes Wort für Marcus, dem er stets gerecht werden wollte. Sie war das einzige, was für ihn greifbar war, so unmittelbar greifbar, wie seine Vitis, die in dieser Situation auch Richtwerkzeug war.
"Lege age," murmelte Marcus halblaut. Der diebische Soldat wandte sich zum Pfahl, legte die Hände auf diesen und wandte somit seinen Rücken dem centurio zu. Die beiden Soldaten neben ihm, hielten ihn nun fest. Man gab ihm jedoch noch ein Beißholz. Es war vorher in ein Opiumöl getränkt worden, um den Schmerz ein wenig zu benebeln. Marcus war kein vollständiger Unmensch, der einem Soldaten bei einer Strafe das Beißholz vorenthielt. Das machten nur Sadisten. Marcus selbst hatte keine Freude daran aber war leider überzeugt, dass nur sichtbare Strafen Wirkung innerhalb einer Truppe entfalten konnten und war mit diesem Glauben sicherlich nicht allein. Die gesamte Legion wurde hart geführt und Leibesstrafen waren durchaus normal. Kurz schloss Marcus die Augen, bevor er weit ausholte und mit der Vitis zuschlug. Er schlug so fest zu, dass diese brach. Der Soldat biss fest auf das Holz.
"Noch eine," forderte Marcus und ein Soldat reichte ihm einen weiteren Rebstock. Jetzt schlug Marcus weniger hart aber in schneller Folge zu, so dass sich die Vitis fast schlingernd in der Luft bewegte. Schließlich stoppte Marcus und blickte den Soldaten an, der inzwischen gebrochen am Pfahl hing und sich mühsam mit seinen Händen festhielt. "Genug," sagte Marcus und ließ das Blut von der Vitis in den Staub des Weges tropfen. "Ruft den capsarius und versorgt den Mann. Ich möchte einen Bericht über seinen Gesundheitszustand in zwei Tagen." Der centurio ging nicht davon aus, dass der Soldat so schnell wieder einsatzbereit war und erwartete es auch nicht. Dann blickte er zu angetretenen Soldaten. "Das Gesetz ist eindeutig. Jeder hat sich daran zu halten. Jeder," forderte er ein, während er in betroffene und teilweise ängstliche Gesichter blickte. Scheinbar war der betroffene Soldat ein guter Kamerad vieler gewesen.
"In zwei Stunden ist Gefechtsübung. Ich möchte, dass ihr alle in voller Montur und Ausrüstung auf dem campus antretet. Optio Mercutius, du hast die Truppe," donnerte er, während er die Vitis anhob, um diese kurz zu betrachten. Er würde sie wegwerfen müssen. Der optio nickte und trat die vor die Reihen. "Ihr habt den centurio Tiberius gehört. Reihen geordnet auflösen und zu den Stuben," befahl der erfahrene Optio, der bald die Truppe verlassen würde. In wenigen Wochen würde sein Dienst enden. Marcus fürchtete sich ein wenig davor, da Mercutius fähig, verlässlich und klug war. Wer sollte ihn ersetzen? Er hielt stets den Rücken von Marcus frei. Es war ein echter Verlust.
Mit einem Blick auf die Truppe, die sich geordnet sowie sehr diszipliniert auflöste und in kleinen Gruppen in ihre Unterkünfte ging, verweilte der Anführer dieser milites; während die beiden stützenden Soldaten, den Bestraften zum capsarius brachten. Es tat ihm leid, so dass sein Blick noch kurz beim Bestraften vorbeihuschte aber sich keine Blöße im Angesicht gebend. Marcus behielt sein salzig-bitteres Gesicht. Schließlich trat Marcus ab, ging auch wieder in seine Stube, legte die blutige Vitis in eine Abfallkiste in seiner Unterkunft und wusch sich die Hände in einem Handbecken aus Messing, danach warf er sich auf sein Bett, um erneut an die Decke zu starren. Wieder waren da diese Gedanken. Er hasste diesen Ort und auch das, was er geworden war.