• Hadamar ächzte. Ein Tag Straßenbau, und er fühlte sich, als hätte er drei Gewaltmärsche hinter sich. Am Ende der zwei Wochen, für die er seine Centurie gemeldet hatte, würde sein Kreuz wahrscheinlich halb auseinanderbrechen, vermutete er. Er müsste nicht selbst mit Hand anlegen, schon gar nicht so sehr, das wusste er, aber er war nicht die Art von Centurio. Jeder hatte seine eigene Art, sich Respekt zu verschaffen bei seinen Männern – oder sie das Fürchten zu lehren, je nachdem –, und Hadamar hatte im Prinzip all die Jahre die beibehalten, mit der er als Optio schließlich erfolgreich gewesen war.


    Respekt. Das war etwas gewesen, was ihm anfangs nicht natürlich zu geflogen war. Er war blutjung gewesen damals, als er zum Optio befördert worden war, noch dazu direkt in die Prima der ganzen Legion hinein. Natürlich hatten die Jungs der ersten Centurie der ersten Cohorte keinen Respekt vor dem jungen Hänfling gehabt, der er damals gewesen war. Aber es waren Offiziere gebraucht worden, und der Primus Pilus, frisch befördert vom Centurio der II-IV, der er davor gewesen war und damit Hadamars Ausbilder, der ihn vom ersten Tag an kannte mit all seinen Ausrutschern und Fehltritten, seinem vorlauten Mundwerk, aber eben auch all seinen guten Seiten, hatte etwas in ihm gesehen.


    Er konnte sich noch gut daran erinnern, was er ihm damals gesagt hatte, als er ihn danach gefragt hatte wie er sich Respekt verschaffen könnte. Variante eins, knallharter Einsatz der Vitis. Variante zwei, mühsam erarbeiten. Variante drei – kommt bei dir wohl nicht in Frage. Auf Hadamars Nachfrage hin hatte er es dann doch gesagt: natürliche Ausstrahlung. Und da hatte er dann zustimmen müssen, dass das für ihn nicht in Frage kam. Danach hatte er sich damals nicht im Mindesten gefühlt, er hatte ja daran gezweifelt, ob er überhaupt irgendwie jemals den Respekt dieser Milites bekommen würde, egal wie. Er hatte sich also für Variante zwei entschieden, die einzige, die ihm irgendwie gangbar für ihn selbst erschien – übermäßiger Einsatz der Vitis hätte ihn wahrscheinlich nur verzweifelt aussehen lassen –, und er hatte damals so geackert wie noch nie davor und kaum je danach. Aber er war erfolgreich gewesen damit. Es war nicht wirklich Ehrgeiz gewesen, der ihn angetrieben hatte; der war schon auch da gewesen... aber nicht der treibende Faktor. Es war der Drang gewesen nicht aufzugeben. Und er hatte sich durchgebissen, hatte sich mit Blut und Schweiß und purem Willen den Respekt der Männer damals erarbeitet. Und obwohl die Zeit schon lange hinter ihm lag, obwohl er sich in den Jahren, mit zunehmendem Alter und Erfahrung, auch die dritte Variante angeeignet hatte, und er natürlich auch die Vitis einsetzte, wenn es angebracht war – dem zweiten Weg war er treu geblieben.


    Weshalb er sich schlechterdings kaum rausziehen konnte beim Straßenbau. Der einzige Trost: den Milites ging es noch schlimmer, vor allem den Saufköpfen, dafür hatte er gesorgt.


    Anstatt jetzt abends aber endlich in sein Zelt fallen zu können, wie es seine Leute wahrscheinlich gerade alle taten, hatte er das Castellum nochmal verlassen – nicht ohne sich abzumelden mit der Info, wo er zu finden war –, um nach Tariq zu sehen. Gestern war er nicht dazu gekommen, deswegen musste das heute jetzt sein, zumal es die kommenden zwei Wochen nicht besser werden würde, wie kaputt er sich abends fühlte. Er platzte also reichlich unzeremoniell bei Soufian hinein, einem Kumpel von ihm, bei dem er Tariq damals untergebracht hatte, als er ihn aus Caesarea ziemlich spontan mitgeschleppt hatte. Soufian war... gefühlt konstant fröhlich, und er redete gern und viel. Und er konnte so ziemlich alles besorgen, wonach einem der Sinn stand, so lange es nicht zu teuer oder exotisch war. Damit verdiente er seinen Lebensunterhalt, er fungierte als Zwischenhändler hauptsächlich für die Soldaten hier, die entweder zu faul waren, selbst durch Satala zu laufen auf der Suche nach einem passenden Geschäft – oder die etwas wollten, wofür man beispielsweise nach Caesarea oder so müsste.


    Soufian strahlte, als er sah wer hereinkam. „Bruder! Schön dich wiederzusehen!“ Er umarmte Hadamar, und der klopfte ihm auf den Rücken, während sein Blick schon nach Tariq suchte und ihn fand. Er grinste den Kleinen an, während Soufian schon weiterredete. „Ich muss noch mal weg“, entschuldigte er sich, und Hadamar bemerkte, dass er tatsächlich einen Mantel übergeworfen hatte, „aber du bleibst, ja, ich hab dir viel zu erzählen!“
    „Sicher hast du das“, schmunzelte Hadamar.
    „Lasst mein Haus stehen. Bis später!“ Soufian zwinkerte Tariq zu und winkte, bevor er dann auch schon verschwunden war. Hadamar sah ihm kurz hinterher, dann wandte er sich Tariq zu und begrüßte ihn ebenfalls mit einem Grinsen und einer kurzen Umarmung. „Tut mir leid, dass ich erst heut komm“, fuhr er auf Germanisch fort. „Wir sind gestern erst abends zurückgekommen, und der Bericht hat gedauert, weil wir nen paar Scharmützel hatten diesmal. Danach war’s dann zu spät.“

  • Soufian war schwer in Ordnung, fand Tariq. Vor allem für einen Händler. Für die Straßenkinder oft facettenreich als Feindbild aufgebaut, das Teil der anderen Mannschaft oder gegnerischen Armee war – je nachdem, welchen Vergleich der Sprecher bemühen wollte –, waren Händler eigentlich keine Leute, mit denen jemand wie Tariq sich anfreundete. Aber jemand wie Tariq freundete sich auch nicht mit römischen Soldaten an. Eigentlich. Wie auch immer, Soufian betrieb eine Art von Handel, die Tariq verstehen konnte. Er kaufte und verkaufte eigentlich alles, was nicht niet- und nagelfest war, und das irgendjemand für irgendetwas gebrauchen konnte. Er erlaubte Tariq auch, dabei mitzuhelfen, solange er bei „der Akquise der Neuware“ Münzen springen ließ und sie nicht einfach mitnahm, wie er es früher immer getan hatte, denn: „In Satala weht ein anderer Wind, ein gaaaaanz anderer Wind, mein junger Freund!“ In zahlreichen blumigen Worten hatte er einen Tatbestand wiedergegeben, den Tariq – oder jeder andere Mensch – auch wahrnehmen konnte, wenn er offenen Auges durch die kleine Siedlung spazierte, die seit einiger Zeit seine neue Heimat war: Satala wimmelte nur so von römischen Soldaten. Und wie Tariq aus eigener Erfahrung wusste, war es blöd, in deren Gegenwart klauen zu wollen.


    Also ließ er es bleiben – nicht nur wegen der offensichtlichen Tatsachen oder Soufian, auch wegen Hadamar, der in diesem Moment zur Tür hereinspazierte. Er sah ziemlich müde und staubig aus, was an sich kein ungewöhnlicher Anblick war. Aber Tariq wusste, woran es dieses Mal lag, und konnte sich deshalb ein Grinsen nicht verkneifen. Soufian hatte den Mantel übergeworfen, weil er bei Gewürzhändler Yussuf aus Caesarea, der gerade da war, ein bisschen Nachschub besorgen wollte – je nachdem konnte das dauern, wenn die beiden mal wieder ins Plaudern gerieten. Er winkte ebenfalls zum Abschied und sparte sich eine Antwort, weil ja ohnehin keine erwartet wurde. Stattdessen begrüßte er Hadamar ebenfalls herzlich, hatte er ihn doch eigentlich gestern schon erwartet. Er wollte ihm direkt unter die Nase reiben, was ihm ein mitteilungsfreudiger Soldat erzählt hatte, als er heute im Lager gewesen war. Aber etwas an Hadamars Worten ließ ihn aufhorchen. „Scharmützel?“ wiederholte er, während er seinen Besucher mit der Hand in Richtung Kissen delegierte, die in Soufians Haus als Sitzgelegenheit dienten. „Was denn für Scharmützel?“ Er sprach ebenfalls Germanisch – Hadamar hatte es ihm beigebracht. Und auch, wenn er es nicht ganz so flüssig beherrschte wie Latein oder seine eigene Muttersprache, verstand er doch eigentlich fast alles – also alles, über das Hadamar so redete – und konnte sich auch ganz leidlich ausdrücken. Er machte es sich auf seinem Kissen bequem in Erwartung eines epischen Erlebnisberichts.

  • Hadamar ließ sich von Tariq zu den Kissen ziehen und dann einfach darauf fallen. Selbst nach all den Jahren noch fragte er sich, warum die Leute hier gerne so saßen. Anstatt wenigstens auf Hockern oder so. Aber gut, bequem war es allemal, und bequem fand er gerade ganz angenehm – auch wenn es ihm auf Dauer dann zu weich werden würde. „Von drüben“, erwiderte er und atmete einmal tief durch, als er in den Kissen regelrecht zu versinken schien. „Weiß nicht, ob da einfach nur die jungen Krieger sich mal wieder beweisen wollen, oder sie wirklich auf Ärger aus sind“, wiederholte er das, was er schon dem Optio heute erzählt hatte. „Wir werden’s erleben... Jedenfalls hat’s meine Centurie ein paar Mal erwischt, das letzte Mal direkt vorgestern.“


    Er kannte Tariq zwar jetzt auch schon eine Zeitlang, aber dass der Junge möglicherweise etwas mehr erwartete als nur diese paar Worte, daran dachte Hadamar gerade nicht. Hauptsächlich, weil es nicht so etwas Besonderes war, nicht für ihn jedenfalls. An der Grenze kam es immer mal wieder zu Auseinandersetzungen mit denen, die auf der anderen Seite lebten. Deswegen wurde sie ja von den Legionen gesichert, dafür waren sie hier. Es war jetzt nicht so, dass das komplett Alltag war, aber... es war eben auch nichts allzu Ungewöhnliches. Dass das für Tariq nach wie vor anders war als für ihn, zumal er ihm gerade anfangs, als er ihn gerade hergebracht hatte, so was nicht so frei von der Leber weg erzählt hatte, daran hatte Hadamar sich immer noch nicht gewöhnt. Er hatte sich auch immer noch nicht ganz so daran gewöhnt, wie nahe Tariq ihm mittlerweile eigentlich stand. Wie viel er ihm bedeutete. Fast so... wie ein kleiner Bruder. Was flüchtig den Gedanken an seine Brüder aufkommen ließ, an Iring und Rhaban, die er seit Jahren schon nicht mehr gesehen hatte. Und dann an seine Schwestern. Dagny, die jüngste von ihnen. Und Eldrid... die mitterweile tot war.


    Hadamar verjagte den Gedanken und räusperte sich. „Lief gut, wir konnten sie wunderbar zurückschlagen. Was indirekt der Grund dafür ist, dass ich die nächsten zwei Wochen den Straßenbau vorantreiben darf.“ Er musterte Tariq kurz. Straßenbau. Kleiner Bruder. Familie. Das in Kombination brachte ihn auf eine Idee, wie er sich vor etwas drücken konnte, was er zwar schon eigentlich mal erledigen wollte – aber worauf er so gar keine Lust hatte, weshalb er es bis jetzt vor sich hergeschoben hatte. „Weshalb ich dich um einen Gefallen bitten wollte...“

  • Ähm … Hallo? Da war ja die Erzählung des Alten mit dem Holzbein epischer gewesen, den Tariq letztens in den Straßen von Caesarea getroffen hatte. Der hatte detailliert davon berichtet, wie ein Straßenköter sich in seinem Bein verbissen und nicht lockergelassen hatte – auch nicht, als der Alte einfach Richtung Basar marschiert war und den Hund einige Straßenzüge mitgeschleift hatte. Eine amüsante Geschichte, aber mehr auch nicht. Denn ein alter Gauner mit Holzbein und eine verlauste Töle waren nicht der Stoff, aus dem Heldensagen gewoben werden. Ganz im Gegensatz zu einem Kampf mit den Parthern in den langen, geschwungenen Schluchten der kappadokischen Berge, durch die der Wind pfiff und Staub aufwirbelte, sodass man sein Gegenüber gerade so als geisterhaften Schemen erkennen konnte, ein Kampf, bei dem geschwungene Säbel auf römische Gladii trafen bis … na ja, eben das hatte er in Erfahrung bringen wollen! Aber nachdem Hadamar mit seiner Erzählung geendet hatte, war Tariq nicht viel schlauer als vorher. Gut, er wusste, dass der Gegner zurückgeschlagen worden war, aber mehr auch nicht.


    Sichtbar unzufrieden lehnte er in seinen Kissen – und vergaß ganz, seinen Gastgeberpflichten, die in Soufians Abwesenheit ihm oblagen, nachzukommen und seinem Gast zumindest etwas zu trinken und ein wenig Obst anzubieten. „Ja, aber … wie viele waren es? Und haben sie sich nachts angeschlichen mit einem ...“ Er suchte nach einem passenden germanischen Wort, das er kannte „... Stoff vor dem Gesicht wie die djinni? Oder kamen sie am Tag auf ihren Pferden? Und was passierte dann?“ Er kannte Hadamar nun auch schon ganze eine Weile und hatte auch nicht erwartet, dass er im Stile eines Geschichtenerzählers einer Karawanserei ausholte, aber ein bisschen mehr als das durfte es schon sein. Fand er. Vielleicht lag es daran, dass Hadamar müde war. Er sah ziemlich müde aus. Tariq starrte auf den flachen Tisch zwischen ihnen und bemerkte sein Versäumnis bezüglich der Verpflegung. Er sprang auf. „Oh, willst du eigentlich was trinken?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, lief er in den hinteren Teil des Hauses, warf ein paar Trauben auf einen Teller, griff nach zwei Bechern und einem Krug mit Posca und balancierte alles mehr oder eher weniger elegant wieder zurück.


    Nachdem er alles auf dem Tisch abgeladen hatte, stieg er nahtlos wieder in das Gespräch ein, als wäre er gar nicht weg gewesen. „Sicher, was denn für einen Gefallen?“ Er erledigte öfter mal irgendwelche Sachen für Hadamar, das war nichts Ungewöhnliches. Und da Hadamar ihn stets gut behandelt hatte, – obwohl er eigentlich nicht gemusst hatte, nach allem, was vorgefallen war, damals – auch ohne sich jemals herauswinden zu wollen, wie er es bei Soufian zumindest gelegentlich versuchte. Da Hadamar den Gefallen in einem Atemzug mit dem Straßenbau erwähnte, kam Tariq plötzlich ein äußerst unangenehmer Verdacht. „Muss ich auch mit an der Straße bauen? Ich habe aber nix getrunken, ehrlich ...“ Und verriet damit, dass ihm die Geschichte bereits zu Ohren gekommen war.

  • Die Müdigkeit setzte ein, und so bemerkte Hadamar zuerst nicht die Unzufriedenheit, die sich auf Tariqs Gesicht widerspiegelte. Erst als er nachfragte, mit hörbarer Empörung in der Stimme, ging ihm auf, dass der Kleine mehr erwartet hatte. Hadamar vergaß das immer wieder, dass Tariq auf solche Geschichten brannte. Und er erzählte ja grundsätzlich gern – über seine Heimat hatte er schon einiges zum Besten gegeben. Auch wenn er sicher nicht mithalten konnte mit den Geschichtenerzählern, die es hier in der Region so gab, unterhaltsam die ein oder andere Anekdote oder Sage wiedergeben konnte er schon. Aber ein Scharmützel an der Grenze... gut, er konnte verstehen, dass Tariq das anders sah, aber für ihn war das Alltag genug, dass er nicht weiter darüber nachdachte. Und wenn eines der Gefechte mal tatsächlich so groß wurde, dass es kein Alltag mehr war... dann wollte er gar nicht groß darüber reden, in aller Regel. Nüchterne Berichte, das ja, aber mehr nicht. Er erzählte Tariq lieber von den Fehltritten, die er sich geleistet, als von den Kämpfen, die er erlebt hatte – die so viel dreckiger und glanzloser waren, als sich das insbesondere junge Männer ohne Erfahrung oft vorstellten.


    Trotzdem grinste er jetzt, in diesem Moment, und versuchte wenigstens im Ansatz Tariqs Wissensdurst zu befriedigen – auch wenn er nicht die epische Glanzleistung ablieferte, die der Kleine sich erhoffte. „Zwei Dutzend waren’s, ungefähr, und sie haben uns im Morgengrauen überfallen. Oder haben’s versucht, heißt das. Ich war mit zwei Contubernia auf Patrouille, als sie angegriffen haben.“ Die Sichtverhältnisse waren ziemlich trügerisch gewesen, und das Gelände unwegsam – weshalb die Aufmerksamkeit bei allen hoch gewesen war. Er zuckte leicht die Achseln. „Und dann haben sie gemerkt, dass mit einer römischen Patrouille nicht zu spaßen ist. Sind an unserem Schildwall gescheitert, unterm Strich.“ Wo die Angreifer versucht hatten, von vornherein alles in den Kampf zu werfen, hatte Hadamar das übliche Spiel angeordnet: Formation, tief gestaffelt, und wann immer die vordere Reihe eine Pause brauchte, hatte sie durchgewechselt mit denen dahinter. So hatten sich ihre Gegner immer einem Schildwall gegenüber gesehen, der einfach nicht wanken wollte, während sie selbst immer weniger wurden und immer erschöpfter, bis der Rest schließlich die Flucht ergriffen hatte.


    Als Tariq ihm etwas anbot, blieb ihm keine Gelegenheit zur Antwort mehr, weil er bereits aufsprang – und als er zurückkam, griff Hadamar sich gleich mal einen Becher Posca. Und schnappte sich auch ein paar Trauben. Man musste ausnutzen, wenn man etwas Abwechslung zum Legionärsfraß bekam. Als Centurio hatte er das freilich öfter als der normale Miles, trotzdem war ihm das irgendwie eingebrannt. Er war gerade dabei, mit sichtbarem Genuss die Trauben zu verspeisen, als Tariq kundtat, dass er nicht nur vom Straßenbau schon wusste, sondern auch warum das so gekommen war. Er zog leicht eine Augenbraue hoch. „Quellen in der Castra, hu? Wie viele davon hast du eigentlich? Und wer hat getratscht?“ Es war kein Wunder, dass so was die Runde machte. Das tat es immer, erst recht wenn eine ganze Centurie dann dran glauben musste bei der Strafe. Bei so was war eine Legio nicht anders als ein germanischer Weiler – manchmal hatte er den Eindruck, dass Legionäre schlimmer waren als jedes Waschweib. „Hatte ich nicht vor, dich mitarbeiten zu lassen, aber jetzt wo du’s sagst: wir könnten Hilfe gebrauchen...“ ließ er Tariq mit undurchsichtiger Miene für einen Moment zappeln, dann grinste er. „Schmarrn. Ich muss mich endlich mal wieder bei meinen Verwandten melden, und diesmal was mehr schicken, ein paar Geschenke, bisschen was Edleres. Da ist das Angebot hier etwas mau, und ich möcht ungern Soufian aufhalsen, dass er zig verschiedene Sachen zur Auswahl herschafft, von denen er den Rest dann im Zweifel nicht loskriegt. Könntst du nach Caesarea reiten und die für mich besorgen?“

  • Nun erzählte Hadamar endlich – und das mit zumindest so vielen Details angereichert, dass Bilder vor Tariqs geistigem Auge entstehen konnten. Im Morgengrauen. Vermutlich schlechte Sicht, schemenhafte Gestalten der Angreifer, die das Gelände besser kannten und aus einem Hinterhalt zuschlagen wollten. Nur, um dann doch am römischen Schildwall zu zerschellen, der so undurchdringlich sein konnte wie ein tatsächlicher Wall, der eine Stadt umschloss. Da Tariq hin und wieder auch in der Castra war, hatte er Übungen mit den großen Schilden beobachten können – und war fasziniert, wie effektiv das Ganze war. Nicht so grandios vielleicht, wie zwei Schwertkämpfer, die gegeneinander antraten, denn eigentlich bewegte sich der Wall kaum. Außer, wenn Teile oder besser gesagt Teilnehmer ausgewechselt wurden, in einer erstaunlich gleichförmigen Bewegung, die den Wall wie ein einzelnes Wesen wirken ließ. Tariq hätte gerne mitgemacht, aber er wusste, dass solche wie er nicht zur Legio konnten. Gerade, wenn Hadamar von Auseinandersetzungen an der Grenze berichtete oder Tariq die Übungen in der Castra sah, ging sein Geist auf Reisen und er stelle sich die epischen Schlachten dieser weltberühmten Armee vor … und war traurig, kein Teil davon sein zu können. Wie so viele vor ihm, die nie in einer tatsächlichen Schlacht gefochten hatten, ahnte er nicht, dass die Realität ganz anders und weit weniger grandios war, als er es sich ausmalte.


    Da er dies aber nicht ahnte, sondern ein junger Mann war, der mit Vorstellungskraft mangelnde Erfahrung auszugleichen suchte, lächelte er nun zufrieden. Zwar hätte er sich noch mehr Details gewünscht, aber er hatte genug gehört, um diese mit eigener Fantasie ergänzen zu können. „Und jetzt haben sie genug und kommen nicht wieder?“ wollte er nur noch wissen. Er war sich nicht sicher, ob er das gut finden oder enttäuscht sein sollte.


    Als Hadamar ihn schließlich auf seine Quellen in der Castra ansprach, grinste er nur. „Man verrät seine Quellen nicht, sagt Soufian. Schlecht fürs Geschäft.“ Er bezweifelte zwar, dass Hadamar dem mitteilungsfreudigen Soldaten Schwierigkeiten machen würde, aber er wollte ja, dass der ihm irgendwann später nochmal was erzählte. „Außerdem, wenn der's nicht erzählte hätte, hätt's wer anders gemacht. Die Geschichte hat sich rumgesprochen.“ Tariq warf eine Traube in die Luft und fing sie mit Mund auf. Nur, um sich kurze Zeit später fast dran zu verschlucken. Er hustete kurz und schaute dann finster, während er an seinem Becher nippte. Er wollte zwar immer mit, wenn Hadamars Zenturie irgendwo hinging und durfte nie. Aber doch nicht, um irgendwo in der Sonne Steine zu schleppen und weiß der Geier noch was!


    Hadamar grinste und Tariq fiel der Stein, den er sich schon hatte schleppen sehen, vom Herzen. „Ach so!“ meinte er und grinste ebenfalls. Nach Caesarea ritt er gern, mittlerweile konnte er sich wieder dort blicken lassen – und die Abwechslung war durchaus verlockend. „Ja klar, kann ich machen. Was genau soll ich denn kaufen?“

  • Hadamar zog ein bisschen die Augenbrauen hoch bei der Frage, die Tariq noch nachschob. „Für den Moment schon“, brummte er, bevor er sich ein paar Trauben in den Mund schob. Er unterdrückte einen Laut der Zufriedenheit, als er sie zwischen seinen Zähnen platzen ließ und der süße Fruchtsaft über seine Zunge lief. Der Kontrast zu Posca könnte kaum größer sein, aber genau das mochte er. „Aber die kommen immer wieder... sonst bräuchten wir ja die Grenzwache net“, ergänzte er noch, kaum dass er geschluckt hatte.


    Da grinste der Kerl einfach nur, als er ihn nach seinen Quellen fragte. Frech noch dazu. Und rieb ihm einen von Soufians Sprüchen unter die Nase. Hadamar bemühte sich einen Augenblick lang, ernst drein zu schauen, aber es gelang ihm nicht wirklich, also gab er es auf. Stattdessen neigte er sich weit genug aus den Kissen, in denen er gefühlt halb versunken war, dass er Tariq erreichen und ihm eine spielerische Kopfnuss geben konnte. „Du musst dir nicht alles von Soufian abschauen. Und was für ein Geschäft hast du mit der Legio?“ Sein Grinsen verrutschte allerdings ein bisschen, als Tariq bestätigte, was ihm ohnehin schon klar gewesen war: es hatte sich rumgesprochen. Das war klar gewesen, aber trotzdem: gefallen musste es ihm nicht. Das würde ihnen noch länger nachhängen, das wusste er, und das wiederum fand er unangemessen. Es gab eine Strafe, die wurde ausgeführt, danach war das Thema erledigt, so sah er das. Tratschten andere darüber, war das aber nicht so.


    Aber wenn er seiner ganzen Centurie Straßenarbeit aufbrummte und dafür noch dazu eine andere ablöste, die eigentlich eingeteilt gewesen war, dann war zu erwarten, dass das die Runde machte. Er wusste wie das war mit Legionären und Tratsch, er hatte früher selbst oft davon profitiert, weil er seine Ohren gespitzt und auf die Art vieles mitbekommen hatte – und er sah zu, dass er auch heute immer ein oder zwei Milites hatte, denen er vertraute, die für ihn die Ohren offenhielten, seit er als Centurio ein bisschen... nun ja, eingeschränkt war, weil ihm keiner mehr was erzählte.

    Tariqs finsteres Gesicht entschädigte ihn dann aber komplett. Er glaubte tatsächlich, dass er mitmachen musste... aber nur einen Moment, dann ließ Hadamar ihn vom Haken. Nur um einen Augenblick selbst daran zu zappeln, weil er mit der Frage nicht gerechnet hatte – und auch keine Antwort parat. „Eh. Ehm“, machte er und kratzte sich am Kopf. „Was Frauen halt so mögen. Ich brauch eins für meine kleine Schwester, eins für meine Tante, eins für meine Schwägerin...“ Grundsätzlich wusste Tariq, von wem er sprach, er hatte ihm schon öfter von seiner Familie erzählt – wobei er Dagny mit Sicherheit am besten kannte aus den Geschichten von früher. „Sollten alle drei geschmackvoll sein, nichts zu Buntes, Schrilles, ich weiß nicht wie sehr sie noch an Witjons Tod zu knabbern haben... Du machst das schon, lass dich beraten und such dann einfach was Schönes aus. Ich vertrau dir da.“ So. Haken erfolgreich an Tariq zurückgegeben.

  • Tariq rieb sich die Stirn, auch wenn die Kopfnuss nicht wirklich weh getan hatte. „Das ist unfairer Straßenkampf“, kommentierte er gespielt vorwurfsvoll. „Oder macht man sowas jetzt im Schildwall?“ Nur, um dann noch ein leicht defensives: „Ich schau mir nicht alles ab.“ hinterher zu schieben. Das stimmte allerdings nur bedingt. Fakt war, er lernte ziemlich viel von Soufian. Erstens teilte dieser gern sein Wissen und zweitens fand Tariq, dass so ein Leben wie Soufians nicht das schlechteste war. Er hatte sich etwas aufgebaut. Er hatte ein Dach über dem Kopf, genug klingende Münzen für alles, was er selbst brauchte und einen gewissen Ruf, anderen alles beschaffen zu können, was diese so brauchten. Und bei alldem streifte er maximal die düsteren Abgründe jenseits des Gesetzes. Realistisch betrachtet wäre das das Leben, das Tariq selbst vielleicht irgendwann mal führen würde. Er wäre zwar lieber ein Soldat wie Hadamar, aber na ja … selbst während die Bilder davon in seinem Kopf zum Leben erwachten, wusste ein Teil von ihm stets, dass daraus vermutlich nichts werden würde. „Aber Soufian weiß ne ganze Menge.“


    Bei der nächsten Frage grinste er wieder. „Informationen“, erwiderte er dann so bedeutungsschwer, als wäre er der Kopf des kaiserlichen Geheimdienstes in Rom. „Die wollen wissen, was draußen passiert und ich, was drinnen passiert.“ Außerdem beschaffte er den Milites und Tirones, die nicht so oft oder teilweise gar nicht rauskamen aus der Castra, gelegentlich die eine oder andere Sache. Darauf ging er jedoch lieber nicht so genau ein, Hadamar war sein Freund, aber er war auch ein Centurio. Er wollte ihm den moralischen Interessenskonflikt lieber ersparen, dazu waren Freunde schließlich auch da! Als er erzählte, dass sich die Geschichte mit dem Straßenbau bereits herumgesprochen hatte, schien Hadamar kurzzeitig weniger amüsiert. Deshalb verkniff es sich Tariq auch, hier irgendwie nachzuhaken, was er eigentlich vorgehabt hatte.


    Beim nächsten Thema starrte er Hadamar hingegen ungläubig an. „Was Frauen halt so mögen“, wiederholte er dann langsam. Woher sollte er das denn wissen?! War er eine Frau? Nein. Kannte er die Frauen, von denen die Rede war? Ebenfalls nein. Hadamar hatte von ihnen erzählt – aber diese Erzählungen waren keine Grundlage, um zu wissen, was man denen schenken sollte. Es war eine Hadamar-Erzählung, bei allen Göttern, da kamen Kleidung und Haarfarben nicht drin vor! Außer von der kleinen Schwester, aber die war jetzt sicher auch nicht mehr das vorlaute Mädchen, das sein Freund ihm beschrieben hatte. Und Tariqs persönliche Erfahrungen mit der holden Weiblichkeit waren in seinem Alter naturgemäß noch ziemlich eingeschränkt. Er bezweifelte außerdem, dass er die Frauen, die er bisher kennengelernt hatte, mit den römisch-germanischen Damen aus Hadamars Verwandtschaft vergleichen konnte.


    Andererseits hatte er sich jetzt schon darauf gefreut, nach Caesarea zu reiten. In letzter Zeit waren die Gelegenheiten dazu wenige gewesen, Soufian war im Gegenteil immer selbst aufgebrochen und hatte ihn, Tariq, hier zurückgelassen. So aber, mit einem direkten Auftrag von Hadamar, würde er nicht nur selbst reiten dürfen, sondern konnte sich möglicherweise ein wenig Zeit lassen. Er hatte auch schon eine Idee, wohin er gehen würde: Caeasareas dufter Viri – ein relativ neuer Laden des gehobenen Sortiments. Tariq war bisher noch nicht drin gewesen, aber nach allem, was er gehört hatte, würde sich dort für Römerinnen, oder Germaninnen, oder … Frauen halt, was finden lassen. Er nickte schließlich langsam. „Ich … werde sehen, was ich tun kann. Dann musst du mich nur mit einem entsprechend gut gefüllten Geldbeutel ausstatten, wenn's was Geschmackvolles sein soll.“ Er grinste wieder. „Und … hast du irgendwelche Vorgaben, Haarfarben oder so ...“ Das konnte ja heiter werden! Aber man wuchs bekanntlich mit seinen Aufgaben.

  • Hadamar grinste breit. „Was glaubst du wo ich mich rumgetrieben hab, als ich in deinem Alter war?“ Das hieß, als er in Tariqs Alter gewesen war, hatte er sich zur Legio gemeldet – aber davor hatte er sich liebend gern vor Arbeit und Aufgaben und Unterricht gedrückt und sich stattdessen, wann immer es ging, mit seinen Freunden irgendwo rumgetrieben. Was, naja, nicht allzu oft ging, so viel Verantwortungsgefühl hatte er dann doch auch damals schon gehabt, dass er seinen Spaß auf die Freizeit geschoben und sich zähneknirschend um seine Pflichten gekümmert hatte. Mehr oder weniger zuverlässig. „Und bei dem ein oder anderen renitenten jungen Kerl... in meiner Einheit... schadet das auch nix.“ Er lehnte sich wieder zurück, nachdem er sich noch mehr Trauben geschnappt hatte, und nickte dann besänftigend, als Tariq dann etwas zurückhaltend klang. „Das tut er definitiv. Nur...“ Er zögerte einen Moment lang, unschlüssig, ob und wie er weitersprechen sollte. Eigentlich war das ja als Witz gemeint gewesen, aber Tariq hatte es etwas ernster aufgefasst, und wenn Hadamar ehrlich war, dann war zumindest ein bisschen Ernst auch bei ihm dabei. „Soufian ist ein Schlitzohr. Er zieht auch gerne mal Leute über den Tisch.“


    Und das war einer von zwei Gründen, die es so schwierig machten für Hadamar darüber zu reden. Er war ja gar nicht so anders. Sicher, er riss sich zusammen, er dachte weit mehr nach als früher, er setzte das mittlerweile sehr gezielt ein – als Centurio konnte er gar nicht anders. Aber unterm Strich war er selbst ein Schlitzohr, immer schon gewesen. Vielleicht nicht ganz so sehr wie Soufian, aber das lag wohl eher an ihrer unterschiedlichen Berufswahl denn an ihrem Wesen. Der andere Grund saß vor ihm. Tariq mitzunehmen damals, ihn vor dem Carcer oder sonst was zu bewahren und ihm Zeit zu schenken war goldrichtig gewesen. Er wollte nicht, dass der Junge dachte, dass er immer noch kein Vertrauen in ihn hatte. Aber er war immer dann am besten gefahren, wenn er einfach ehrlich gewesen war, also entschied er sich auch diesmal dafür. „Das muss nix schlechtes sein, das tu ich auch ab und zu. Aber es kann halt für Ärger sorgen, wenn man nicht aufpasst. Grad im Umgang mit der Legio. Also... sei einfach vorsichtig.“ Da war noch ein dritter Grund, bemerkte er, warum das schwierig war: weil er sich wirklich, wirklich komisch dabei vorkam, in so etwas wie einem familiären Umfeld plötzlich in der Rolle dessen zu sein, der so was sagte – und nicht von dem, der es gesagt bekam.


    „Was Frauen halt so mögen“, bestätigte Hadamar, und diesmal hatte er den Anstand, wenigstens zu versuchen das Grinsen zu unterdrücken – was ihm nur halbwegs gelang, weil er ziemlich genau ahnte, was in Tariqs Kopf jetzt vorging. „Das ist kein Problem, ich bring die Tage was vorbei.“ Als Centurio war sein Sold nicht schlecht, und er brauchte fast nichts davon. Und wenn sich die Gelegenheit ergab, lieh sich Soufian hin und wieder Geld von ihm – und wenn er es zurückzahlte, war fast immer mehr draus geworden. „Mh...“ machte er. „Also, Dagny weißt du ja, rote Haare... was Grünes vielleicht? Dagmar und Octavena haben beide braune Haare...“ Er zuckte die Achseln, jetzt doch wieder weniger amüsiert und mehr hilflos. „Ich weiß auch nicht, ich hab sie seit Jahren nicht mehr gesehen. Dagny ist mittlerweile auch erwachsen, also auf jeden Fall nix besorgen für nen Kind, sonst reißt sie mir den Kopf ab.“

  • Tariq hob überrascht eine Braue. „Du hast dich auf der Straße rumgetrieben? Ich dachte, du kommst aus einer reichen Familie?“ Gut, das eine schloss das andere nicht zwangsläufig aus. Tariq hatte in Caesarea schon Söhne aus offensichtlich gutem Haus gesehen, die … na ja, aus welchen Gründen auch immer die 'Nähe zum einfachen Volk suchten'. Meist war zu viel Alkohol im Spiel oder irgendwelche Mutproben. Tariq bezweifelte allerdings, dass Hadamar zu der Sorte gehörte – vermutlich war in Germanien die Situation einfach eine andere; zumindest den Erzählungen nach, die er bisher gehört hatte, schien das Gefälle nicht ganz so steil zu sein wie in Kappadokien, zwischen der Oberschicht und dem Rest. Bei der Vorstellung, wie Hadamar Kopfnüsse an seine Legionäre verteilte, musste er hingegen grinsen. „Gibt's viele von denen, die das brauchen?“


    Als die Sprache auf Soufian kam, zuckte Tariq bei Hadamars Feststellung, dass der Händler gerne mal Leute über den Tisch zog, mit den Schultern. Er verstand nicht, was daran erwähnenswert sein sollte, denn in Tariqs Welt war das die Normalität. Er kannte kaum Menschen – und erst recht keine Händler – die nicht jeden Kniff ausnutzen, um möglichst viele Vorteile aus einer Situation zu ziehen. Aber Hadamar wollte offensichtlich auf etwas hinaus, er klang … irgendwie besorgt. Tariq legte den Kopf schief und runzelte leicht die Stirn. Sein erster Reflex in einer solchen Situation war eigentlich, alles abzustreiten und jegliche Verantwortung für die Produktion von Ärger von sich zu weisen. Aber in dem Moment wurde ihm klar, wirklich klar, dass Hadamar einer der wenigen Menschen war, die etwas für ihn persönlich getan hatten, ohne dafür eine Gegenleistung zu verlangen. Nüchtern betrachtet hatte er nichts davon, dass Tariq hier war. Er hatte ihm einfach helfen wollen, damals, ohne Hintergedanken auf einen möglichen Vorteil. Zumindest gab es keinen, den Tariq erkennen konnte. „Ich … werd' vorsichtig sein“, versprach er deshalb. Er verstand nur halbwegs, was er jetzt konkret anders machen sollte, aber eines wusste er mit Sicherheit: Er wollte Hadamar nicht enttäuschen. Das war ihm wichtiger als alles andere. „Ich will keinen Ärger mit der Legio. Ich dachte nur …“ Ja, was eigentlich? „… ich dachte, dass das eine Möglichkeit für mich wär', weißt du? Wenn ich von Soufian was lerne, kann ich vielleicht irgendwann mal … bei ihm mit einsteigen, oder ein eigenes Geschäft aufziehen, oder so. Irgendwas muss ich ja machen. Ich kann ja schlecht zur Legio gehen.“ So. Jetzt war es ausgesprochen. Er hatte selbst nicht gewusst, wie sehr ihn das Thema eigentlich beschäftigte, bis zu diesem Moment, in dem er darüber redete.


    Und er würde wohl die Möglichkeit erhalten, das, was er bei Soufian gelernt hatte, direkt bei der Mission ‚Geschenkekauf‘ umzusetzen. „Ich schau mal, was ich find'.“ Er kratzte sich gespielt nachdenklich am Kinn. „Vielleicht sollte ich eine Puppe kaufen, ich möchte echt mal sehen, wie dir deine Schwester den Kopf abreißt. Vielleicht kommt sie ja extra dafür hierher.“ Er grinste. Diesen Seitenhieb hatte sich Hadamar einfach verdient, fand er. Denn eigentlich sollte er die Geschenke na ja, vielleicht nicht selbst kaufen, aber doch zumindest aussuchen.

  • Hadamar verging das Grinsen ein kleines bisschen, als ihm klar wurde, dass er mal wieder in ein Fettnäpfchen getreten war. Er hatte einfach nur rumgeblödelt und nicht darüber nachgedacht, dass sein „sich auf der Straße rumtreiben“ und das, was Tariq darunter verstand, sehr weit auseinander lag. Er räusperte sich. „So gut es ging. Für mich war das...“ Ein wenig verlegen zuckte er die Achseln und kratzte sich am Hinterkopf. Was sollte er denn sagen? Dass es lustiger gewesen war für ihn? Das war komplett richtig, aber das konnte er Tariq kaum unter die Nase binden, wie sehr sich ihre Jugend voneinander unterschied. Und das nur, weil seine Familie Glück gehabt hatte, weil sie einen neuen Platz zum Leben gefunden hatten, nachdem ihr Stamm fast ausgerottet und sie vertrieben worden waren – ein Platz, an dem sich ihre Mühe etwas aufzubauen auch ausgezahlt hatte. „Abwechslung“, sagte er schließlich. Das war auch richtig, und es war vielleicht nicht viel besser, aber immerhin ein bisschen. Hoffte er. „Ach, einige“, grinste er dann zurück. „Und die sind froh, dass es nur das war, und beschweren sich nicht auch noch darüber.“


    Hadamar versuchte in Tariqs Gesicht zu lesen, versuchte zu sagen, was er wohl dachte – konnte aber ziemlich schlecht einschätzen, was wohl in dem Jungen vorging. Er schien nicht unbedingt begeistert zu sein... aber er versprach dann, immerhin, dass er vorsichtig sein würde. Hadamar hoffte, dass er das auch ernst meinte. Soufian war erfahren, der wusste genau, wen er über den Tisch ziehen konnte und bei wem er das besser ließ – aber Tariq halt nicht, im Zweifel. Und obwohl Hadamar ihn aus jedem Ärger rausboxen würde und, zumindest im Fall der Legio, wohl auch konnte, war es ihm lieber, wenn es erst gar nicht so weit kam. Er nickte, zumindest für den Augenblick zufrieden – und auch ein bisschen erleichtert, dass das so leicht gegangen und so schnell vorbei war, dieser Moment, in dem er plötzlich das Bedürfnis hatte vernünftige Ratschläge geben zu müssen –, da sprach Tariq weiter. „Eine Möglichkeit?“ fragte er nach. Seit wann war Ärger mit der Legio kriegen eine Möglichkeit für irgendwas? Im nächsten Moment begriff er. Und es zeigte ihm erneut, wie anders Tariqs Start ins Leben war als seiner. Irgendwas musst du machen, er konnte diese Worte noch so gut hören, die ihm seine Mutter und gefühlt jeder andere aus seiner Familie damals vorgehalten hatte, bei jeder Gelegenheit. Er hatte nichts machen wollen, obwohl ihm, da musste er seiner Mutter zumindest heute Recht geben, sehr vieles offen gestanden hätte. Tariq dagegen... er wollte, aber seine Chancen waren deutlich begrenzter. Trotzdem gab es einen Punkt, an dem Hadamar meinte einhaken zu können, und es war genau das, was er sich damals gewünscht hatte: dass sich irgendjemand dafür interessierte, was er selbst denn eigentlich wollte. Nicht als entnervte Frage hingeschmissen, weil er nur immer zu allem sagte, dass er eben nicht wollte, sondern aufrichtig gemeint. „Was willst du denn machen? Willst du bei Soufian mit einsteigen?“ Er versuchte seinen Blick zu halten, nur für den Fall, dass Tariq wegsehen wollte. „Oder was meinst du mit der Legio? Willst du das?“


    Beim Thema Geschenke war Hadamar erleichtert. Tariq würde nach Caesarea reiten und sich drum kümmern, das war doch hervorragend. Irgendwas würde er sicher finden... „Oh nein.“ Hadamar schüttelte den Kopf, halb grinsend, halb gespielt erschrocken. „Ganz sicher nicht. Sonst sag ich ihr, dass die Idee auf deinem Mist gewachsen ist, und dann bist du genauso dran wie ich.“

  • Tariq lächelte unverbindlich auf Hadamars Worte hin. „Ja, die Straße kann dir Dinge beibringen, die du sonst nirgendwo lernst“, erwiderte er mit mehr Leichtigkeit, als er tatsächlich verspürte. Er konnte und wollte Hadamar keinen Vorwurf machen, denn es war ja nicht seine Schuld, dass er in einer reichen Familie aufgewachsen war. Und, dass er demzufolge offensichtlich keine Ahnung hatte, was ‚auf der Straße herumtreiben‘ wirklich hieß. Woher sollte er es auch wissen? Eigentlich konnte jeder, der auf dem Gebiet keine tiefgehende persönliche Historie vorzuweisen hatte, froh darüber sein. Dennoch versetzten die Worte Tariq einen leichten Stich, weil sie wieder vorführten, wie sehr sich ihre Leben voneinander unterschieden. Es gab Momente, in denen Tariq diese Tatsache vergessen konnte. Und im Grunde störte es ihn auch nicht, wenn sich ein anderer Lebensweg (vermeintlich oder tatsächlich) leichter gehen ließ als sein eigener. Er gehörte nicht zu den Menschen, die andere um ihr Leben beneideten, er konzentrierte sich lieber auf die Optionen, die ihm selbst offenstanden. Und gerade Hadamar gönnte er ohnehin alles Glück der Welt. Allerdings hatte er, ohne es selbst wirklich zu merken, Hadamar in den letzten Jahren ein wenig als Vorbild genommen. So, wie man es bei einem älteren Bruder tut. Wenn Hadamar jedoch so Dinge sagte wie eben, wurde Tariq wieder bewusst, dass er sie beide schlecht miteinander vergleichen konnte.


    Als Hadamar ihn also fragte, was er denn tun wollte, wusste er deshalb nicht so recht, wie er das Knäuel in seinem Inneren entwirren sollte. Er hob zunächst nur die Schultern, aber da Hadamar aufrichtig interessiert wirkte, meinte er ehrlich: „Ich würde gerne dasselbe machen wie du, aber es geht halt nicht. Das hat mir einer der Milites schon gesagt.“ Wieder ein Schulterzucken. „Deshalb dachte ich, dass das mit Soufian eine gute Idee wär‘. Er mag mich und würd‘ mich bestimmt da behalten, wenn ich mich anstreng‘.“


    Hadamars 'Drohung', dass er ihn in Bezug auf seine Schwester mit in die Bredouille bringen würde, quitterte Tariq hingegen mit einem Grinsen. „Ich wette, ich bin schneller als sie ...“

  • Tariq reagierte leichthin, und obwohl Hadamar sich nicht völlig sicher war, ob er auch so empfand – er war zu erleichtert, dass er halbwegs glimpflich aus diesem Fettnäpfchen wieder herausgekommen war, um da jetzt groß nachzustochern. Ganz davon abgesehen, dass er es kaum besser gemacht hätte, wenn er da jetzt weiter darüber geredet hätte, davon war er überzeugt. Also war er einfach froh und ließ es auf sich beruhen.


    Bei Tariqs nächsten Worten wusste Hadamar für einen Moment nicht, was da plötzlich für ein Gefühl in ihm aufstieg. Erst einen Augenblick später realisierte er, dass es Freude war. Und Stolz. Der Junge wollte ihm nacheifern? Ihm? Das war... eine neue Erfahrung für Hadamar. Gut, als Centurio wollte und musste er schon auch Vorbild sein für seine Leute, und er wusste, dass er das zumindest für einige war – und hoffentlich noch für viele mehr, von denen er es nicht wusste. Aber da gehörte das dazu, und keiner von den Milites bedeutete ihm auch nur ansatzweise so viel wie Tariq. Tariq war Familie, und in Bezug auf seine Familie war Hadamars Denkweise im Grunde immer noch die gleiche wie vor zehn, zwanzig Jahren: dass er eher das schwarze Schaf war. Der Katastrophen-Duccier, wie Witjon irgendwann mal gesagt hatte. Der nichts Vernünftiges tat, der sich nicht belehren lassen wollte, der zu allem nein sagte und keinen Bock hatte, und der sich am Ende von jetzt auf gleich auf dem Marktplatz für die Legio hatte anwerben lassen, ohne jemandem Bescheid zu geben. Der damit dann erst mal verschwunden war, weil die Anwerbung eine sofortige Sache gewesen war, und der erst einen Tag – oder waren es mehrere gewesen? – später eine mühsam gekrakelte Nachricht an seine Familie geschickt hatte. Was hatte er noch geschrieben? Kaine Sorge. Bin bei Legio. H., oder so ähnlich, viel mehr war das nicht gewesen, sonderlich gut schreiben hatte er noch nicht können damals. Hadamar hatte das ganze damals freilich anders gesehen, und das tat er bis heute – nicht alles war seine Schuld gewesen, und es war auch nicht so gewesen, dass er sich für seine Familie gar nicht interessiert hätte. Dass er sich beispielsweise, um diesen Brief möglich zu machen, bei einem Miles eine Woche lang Rüstung polieren eingehandelt hatte, damit der die Botschaft zu seiner Familie brachte, weil er selbst weder das Lager verlassen durfte noch Münzen hatte – das zeigte, wie viel Wert er darauf gelegt hatte, gemessen daran, dass er sich gerade um solche Arbeiten eigentlich gern gedrückt hatte. Aber: heute konnte er im Rückblick auch verstehen, dass es für seine Familie nicht einfach gewesen war mit ihm.


    So oder so: das war so eingebrannt in ihm, dass es bis heute sein Bild von sich in Bezug auf seine Familie prägte. Und dass ausgerechnet Tariq, der für ihn inzwischen zur Familie gehörte, jetzt kundtat, er wollte am liebsten tun was er tat... geschmeichelt war noch gar kein Ausdruck dafür, wie Hadamar sich damit fühlte. Es kam nur noch selten vor, dass er spüren konnte wie seine Ohren die Farbe seiner Haare annahm, aber jetzt war es mal wieder so weit, und noch viel seltener war der Grund: nicht peinliche, sondern freudige Verlegenheit. „Legio geht nicht, das stimmt, aber hat der Kerl dann wenigstens auch was von den Auxiliaren erzählt?“ fragte Hadamar nach. „Also. Ich glaub als Händler hättst du ganz sicher Erfolg, du bringst dafür alles mit. Kannst Sachen und Leute einschätzen, kannst gut reden. Soufian weiß das auch, der nimmt dich sicher. Er wär blöd wenn er’s nicht täte.“ Genauer gesagt war es besser, dass Soufian offenbar noch nicht wusste, dass Tariq in diese Richtung dachte – sonst hätte er ihn wahrscheinlich schon längst so fest eingebunden, dass der Junge nur noch schwer rauskommen würde. Hadamar vermutete, der einzige Grund, warum Soufian Tariq nicht schon längst mehr in Beschlag genommen hatte, war er – sein Kumpel wusste, dass Tariq zu Hadamar gehörte und nicht zu ihm, und dass er deshalb besser abwartete, bis von Hadamar ein Signal kam. Oder von Tariq selbst. „Aber wenn du wirklich in den Exercitus willst... die Auxiliareinheiten sind explizit für Peregrini. Ist nicht genau das was ich mach, aber sie gehören zum römischen Heer wie die Legionen auch. Sind halt spezialisierte Einheiten – die Reiterei, die Bogenschützen, ein paar andere noch, je nach Provinz. Oder du kannst zur Classis. Kannst dir damit auch das Bürgerrecht verdienen, es dauert halt nur, weil du’s erst nach der Dienstzeit kriegst.“


    Bei Tariqs Grinsen und seinem Kommentar, er sei schneller als seine Schwester, winkte Hadamar nur mit einem ebensolchen Grinsen ab. Sollte Tariq je seine Schwester kennenlernen, würde er schon sehen, was Dagny drauf hatte. Wenn die Kleine sich nicht komplett geändert hatte, dann konnte sie wahrscheinlich sie beide gleichzeitig in die Tasche stecken, und das lag gleichermaßen daran, wie schlau sie war, wie daran, dass man sie unterschätzte, weil sie lieb aussah und große Kulleraugen machen konnte.

  • Hadamar wirkte tatsächlich … war es erfreut? … als Tariq sagte, dass er in die Legio wollte. Ja doch, er war erfreut. Hieß das, er könnte sich tatsächlich vorstellen, dass Tariq auch ein Soldat wäre wie er? Als Hadamar die Auxiliareinheiten erwähnte, bildete sich eine steile Falte auf Tariqs Stirn und er schüttelte den Kopf. „Nein, hat er nicht.“ Auf die Idee, dass der Miles ein wenig hatte angeben wollen mit einem Karriereweg, der ihm offenstand und seinem jungen kappadokischen Gegenüber eben nicht, kam Tariq nicht. Potentieller Ärger über besagtes Verschweigen schwand auch rasch, als der nur teilweise auskunftsfreudige Miles von Visionen einer Zukunft verdrängt wurde, die Tariq bisher nicht für möglich gehalten hätte. Seine Augen begannen zu leuchten. „Ich kann wirklich zum römischen Heer?“ Bisher war es eine reine Träumerei gewesen. Und auch, wenn Tariq mit einer guten Portion Fantasie ausgestattet und die Bilder in seinem Kopf sehr lebensecht waren, war das Leben trotz seiner Jugend stets ein harscher Lehrmeister gewesen – und es hatte ihn nie vergessen lassen, was jemand wie er sich maximal erhoffen konnte.


    „Reiten kann ich und Bogenschießen … habe ich noch nie probiert, aber ich kann zumindest gut zielen.“ Er war bei Duroks Bande derjenige gewesen, der mit gut gezielten Steinen wahlweise für Ablenkung sorgen oder Aufmerksamkeit erregen konnte. Sogar eine selbstgebaute Schleuder hatte er einst besessen, die er irgendwann vortrefflich einzusetzen verstand. Gut, es war nicht dasselbe wie ein Bogen, aber … na ja, irgendwie doch schon dicht dran, oder? „Was ist die Classis? Und wie lange geht die Dienstzeit? Kann ich dann echt römischer Bürger werden, so wie du?“ Diese Option hatte bisher nicht existiert für ihn, er hatte nie darüber nachgedacht. Die zweite Option, die er bisher für seine einzige gehalten hatte, verpuffte in seinem Kopf wie eine Staubwolke, die der Wind auseinandertreibt. Er mochte Soufian und hätte sich ein Leben als sein Mitarbeiter und potentieller Nachfolger durchaus vorstellen können. Aber Tariq war eben ein Sechzehnjähriger, dem sich plötzlich und unerwartet die Möglichkeit offenbarte, nicht nur in die Fußstapfen des großen Bruders zu treten, den er niemals gehabt hatte, sondern auch Dinge zu erleben, von denen er bisher nur geträumt hatte.


    „Was muss ich denn dafür machen?“

  • „Du kannst wirklich zum römischen Heer.“ Hadamar grinste, als er das Leuchten sah, dass erst in Tariqs Augen zu strahlen begann und sich dann von da auf das ganze Gesicht ausbreitete. Er sah ein bisschen aus wie ein Kind, das einen Herzenswunsch erfüllt bekam. Und zu Hadamars Freude darüber, so was wie ein Vorbild zu sein, womit er nie gerechnet hatte, nicht auf diese Art, nicht innerhalb der Familie, kam die Freude hinzu, dass Tariq so glücklich darüber war. Es wurde mit jedem Moment, den der Junge mehr realisierte, dass er doch das machen konnte, was er machen wollte, obwohl er es offenbar für sich bereits abgehakt gehabt hatte, deutlicher. Und Hadamar freute sich einfach für ihn und mit ihm.


    „Die Ala würde sich anbieten, nachdem du schon reiten kannst, aber grundsätzlich werden Rekruten ausgebildet, da hängt ja noch mehr dahinter als nur reiten können oder mit Waffen umgehen.“ Sein Grinsen wurde noch ein bisschen breiter, als er an seine eigene Zeit als Tiro dachte. Oh ja, Tariq würde Spaß haben. Und er würde fluchen. Was Hadamar vermutlich Spaß machen würde. Der Drill in der Ausbildung, die Anforderungen, der Schliff, der einem da schließlich verpasst wurde, aber auch die Gemeinschaft mit den anderen Rekruten und den übrigen Soldaten der eigenen Einheit, die Tatsache, dass man mit nichts davon wirklich allein war... er war sich ziemlich sicher, dass Tariq das genauso taugen würde wie ihm damals. Wie ihm bis heute, nur dass er jetzt der war, der schliff. „Die Classis ist die Marine. Da sollte man halt nicht seekrank werden...“ Was bei Hadamar bei seinen bisherigen Seereisen mit schöner Regelmäßigkeit der Fall gewesen war, was erklärte, warum er nicht ganz so freudig klang, als er über die Classis sprach. „Dienstzeit bei Ala und Classis ist 25 Jahre, danach kriegst du definitiv das Bürgerrecht.“


    Er schnappte sich noch mal ein paar Trauben, als Tariqs nächste Frage kam. „Nicht viel“, grinste er zurück. „Einfach im Rekrutierungsbüro melden.“ Er warf sich eine Traube in den Mund und fügte dann noch hinzu: „Ein paar Voraussetzungen gibt’s, aber die erfüllst du alle. Größe passt, bist jung und gesund, was will man mehr.“

  • Tariq schwebte auf Wolke Sieben. Denn es wirkte fast so, als würde sich ihm dieses Mal kein Hindernis in den Weg zu stellen beziehungsweise im letzten Moment eine Tür vor der Nase zugeschlagen werden. Je mehr Hadamar redete und erklärte, desto mehr begann Tariq zu realisieren, dass die Dinge, über die sie sprachen, eine echte Möglichkeit waren. Für ihn. Er stimmte Hadamar zu, dass vermutlich die Ala am ehesten etwas für ihn war. Er hatte keine Ahnung, ob er seekrank wurde, denn er war bisher noch auf keinem Schiff gewesen. Aber er konnte nicht schwimmen, also war die Classis wohl nicht ganz optimal.


    Die Warnung, dass es mit Reiten und Waffentraining nicht getan war, ignorierte er gekonnt beziehungsweise im Moment waren ihm mögliche Nachteile und Schattenseiten seiner in den hellsten Farben gezeichneten Zukunft völlig schnuppe. Dass er länger als seine bisherige Lebensdauer brauchen würde, um das römische Bürgerrecht zu erlangen, interessierte ihn auch herzlich wenig. Eigentlich war die Zeit nach dem Militär gerade so gar nicht von Interesse für ihn, eher die Zeit, die er dort verbringen würde.


    „Das klingt ja recht einfach“, erwiderte er mit einem Grinsen, das er wohl den ganzen Tag nicht mehr aus dem Gesicht bekommen würde. Er ließ sich auch ein paar Trauben schmecken und löcherte Hadamar noch zu einigen Details …


    … ehe sie sich unvermutet ein paar Tage später wiedertrafen, um das Thema in einer konkreteren Form wieder aufzunehmen, als sie beide zu dem Zeitpunkt ahnen sollten.

  • Eigentlich gab es mehr als genug zu tun gerade. Die Organisation seiner Centurie allem voran, denn einen direkten Nachfolger gab es zumindest noch nicht, dem er sie hätte übergeben können – also musste erst mal Optio Matius ran. Der war zum Glück nicht nur recht erfahren, sondern spekulierte darauf, dass er befördert werden würde – wofür Hadamar ihn empfehlen würde, verdient hätte er es. Die Übergabe jedenfalls wurde dadurch schon mal vereinfacht, war aber trotzdem einfach zu erledigen. Und dann war da noch Packen, Reise vorbereiten, solche Sachen halt, und das in kürzester Zeit, denn der Versetzungsbefehl ließ nicht viel Spielraum zu. Angesichts der Jahreszeit und des Wetters, das sie spätestens in Germania erwarten würde, war er sogar reichlich knapp bemessen. Hadamar hatte sich für einen Augenblick sogar gefragt, ob das nicht eine kleine Stichelei des Tribuns war... Hadamar kam ganz gut mit ihm klar in der Regel, weil er einfach seine Arbeit machte und sich weder auf unnötige Gefechte mit seinem Vorgesetzten einließ noch sich anmerken ließ, was er über ihn dachte. Aber er wusste wohl, wie der Mann sein konnte, was er tat, und was man sich darüber hinaus noch über ihn erzählte. Und solche kleinen Triezereien wie ein arg knapp kalkulierter Reisezeitraum zur Versetzung waren nicht nur bei ihm gang und gäbe. Aber es machte wenig Sinn, dass es diesmal der Tuccius war, weil er selbst zur XXII ging, also kam die Vorgabe des Termins wahrscheinlich eher von noch weiter oben.


    Viel zu tun also. Trotzdem nahm sich Hadamar am Abend einfach die Zeit, zu Tariq und Soufian zu schauen. Beide mussten Bescheid wissen, und insbesondere Tariq eher früher als später. Es war jetzt schon verdammt wenig Zeit, der Junge musste sich im Prinzip eigentlich innerhalb von ein, maximal zwei Tagen entscheiden, ob er mitkam – was Hadamar von Herzen hoffte.


    Als er das Haus betreten hatte, kam er nach der Begrüßung ohne große Umschweife zur Sache. Er war niemand, der gern um den heißen Brei herumredete, und er hatte auch keine Ahnung, wie er das vielleicht sachter verpacken, angenehmer herüberbringen könnte. Also fiel er mit der Tür ins Haus, wie eigentlich immer, wenn er wichtige Nachrichten hatte. „Ich werde versetzt“, begann er, auf Latein, weil Soufian im Gegensatz zu Tariq in all den Jahren nicht mehr als höchstens den ein oder anderen Brocken Germanisch aufgeschnappt hatte. Vor allem Flüche und Beleidigungen. „Nach Germania. Zur XXII in Mogontiacum, um genau zu sein.“ Beide wussten, dass das seine Heimat war. Dass er sich darüber freute. Aber das war im Grunde nur Nebensache, denn es spielte keine Rolle, wohin er versetzt wurde, dem Befehl hatte er Folge zu leisten, ob er sich freute oder nicht.


    Wie Soufian auf die Neuigkeit reagierte, blendete Hadamar für den Moment völlig aus. Der Händler war im Lauf der Jahre ein guter Freund geworden, und Hadamar war definitiv traurig, sich von ihm verabschieden zu müssen, ihn wahrscheinlich nie wieder zu sehen. Wirklich wichtig aber war Tariq. Und daher lag seine Aufmerksamkeit lag auf ihm.


    „Hör zu, Tariq...“ Mist. Er wusste nicht, wie er das jetzt anpacken sollte. Für einen Moment überlegte er, suchte nach Worten, aber er hatte den ganzen Tag über schon immer mal wieder nach Worten, nach einer Formulierung gesucht, ohne dass ihm was eingefallen wäre. „Ach, verdammte Axt“, fluchte er, und fiel wie gerade einfach mit der Tür ins Haus: „Ich will, dass du mitkommst. Ich weiß, dass das ne große Sache ist. Mogontiacum liegt am anderen Ende des Reichs, und du würdest alles hinter dir lassen, was du kennst. Aber ich will, dass du mit mir mitkommst.“ Es klang furchtbar egoistisch, wie er das sagte, und das war es auch, denn obwohl er das auch für Tariq selbst wollte, weil er überzeugt war, dass es für ihn das Beste wäre, wenn er einfach bei ihm bliebe – er wollte es auch für sich selbst. Weil er ihn liebte wie eins seiner Geschwister inzwischen, vielleicht sogar mehr, weil er sich um Tariq mehr gekümmert, mehr gesorgt hatte als um seine Geschwister. Er war flegelhaft gewesen und rebellisch und hatte sich vor jeder Pflicht gedrückt – natürlich hatte er auch innerhalb der Familie keine Verantwortung übernommen, auch nicht die als ältester Bruder. Auch dann nicht, als ihr Vater gestorben war und es spätestens dann seine Pflicht gewesen wäre, genau das zu tun. Es war zu jung gewesen damals, es war ihm alles viel zu viel, und er war auch lieber einfacher Bruder gewesen, der mit seinen Geschwistern Spaß hatte, als wie Eldrid immer dazwischen zu funken und darauf hinzuweisen, was sie lieber nicht tun sollten. Und es hatte ja auch genug gegeben bei den Wolfrikssöhnen, die das hatten auffangen können, allem voran Witjon, weshalb es für Hadamar einigermaßen leicht gewesen war, sich auch in den Jahren danach, als er älter geworden war, weiter zu drücken vor der Verantwortung.


    Aber bei Tariq hatte er nun die Rolle eingenommen, die er für seine Geschwister schon vor knapp 20 Jahren hätte einnehmen müssen. Er fühlte sich verantwortlich. Er wollte ihn nicht hier alleine lassen, schon gar nicht jetzt, wo er überlegte was er mit seinem Leben machten sollte, und wo er immer noch jung genug war, dass er ihn brauchte. Und: er wollte ihn einfach bei sich haben. Hadamar räusperte sich. Ihm brannte die Frage auf der Zunge: kommst du mit?, aber er verkniff sie sich. Es war unfair genug, dass er so eine Entscheidung überhaupt treffen musste, da musste Hadamar sie nicht jetzt sofort einfordern. Tariq sollte wenigstens Gelegenheit haben eine Nacht darüber zu schlafen, auch wenn er sich nicht viel mehr Zeit nehmen konnte als das. Was der Junge auch noch wissen musste, fiel Hadamar dabei ein, und so war es statt der Frage, ob er mitkam, stattdessen das, was er noch anfügte: „Du hast leider nicht viel Zeit, dich zu entscheiden. Die Versetzung ist arg knapp gekommen, wir müssen in ein paar Tagen schon abreisen, um ne Chance zu haben rechtzeitig in Mogontiacum zu sein bei der Jahreszeit.“

  • Die Stimmung im Haus des Soufian war … nun ja, vielleicht nicht frostig, aber doch nicht so ausgelassen wie sonst. Der Inhaber des Domizils sprach bei weitem nicht so viel wie er sonst zu tun pflegte, und Tariq hatte auch nicht den Drang, Witze zu reißen oder etwas zu erzählen. Der Händler hatte die Ankündigung des Jungen, dass er zum Militär gehen wollte, nicht mit derselben Begeisterung aufgenommen wie Hadamar … und es war deutlich geworden, dass er eine ähnliche Zukunftsvorstellung gehabt hatte wie Tariq selbst ein paar Tage zuvor. Es war ja auch der Weg, der irgendwie vorgezeichnet schien und offensichtlich hatte Soufian nicht damit gerechnet, dass Tariq ernsthaft andere Pläne schmieden könnte. Natürlich legte er ihm keine Steine in den Weg. So war Soufian nicht. Aber getroffen schien er schon irgendwie, auch wenn er sich bemühte, es nicht allzu deutlich zu zeigen. Und Tariq hatte seinerseits wütend reagiert, weil er nun zum ersten Mal die Möglichkeit hätte, das zu tun, was er wollte – und er nun von einem Menschen, der ihm etwas bedeutete, nicht die Reaktion bekam, die er sich erhofft hatte.


    Er war gerade dabei, den Inhalt einige Kisten zu sortieren als Hadamar hereinkam. In Hadamar-typischer Art fiel er direkt mit der Tür ins Haus … Tariq saß da, wie zu einer Salzsäule erstarrt, der Gegenstand, den er gerade noch in der Hand gehalten hatte, fiel auf den Boden. Hadamar wurde nach Germanien versetzt? Hadamar … ging weg? Natürlich war es nicht so, dass Tariq nicht gewusst hatte, dass die Möglichkeit theoretisch bestand. Hadamar war Soldat und hatte da hinzugehen, wo man ihm sagte, dass er hingehen sollte. Es war auch von Anfang an klar gewesen, dass er nicht ewig in Kappadokien bleiben würde. Aber die Ankündigung war trotzdem ein Schock für Tariq, sie zeigte ihm, wie sehr er sich in den letzten Jahren an Hadamar gewöhnt hatte. Für ihn war es so, als habe man ihm gerade einen Arm oder ein Bein ausgerissen – etwas, das da sein musste, das er brauchte, sollte auf einmal fort sein! Er dachte in dem Moment gar nicht daran, dass Hadamar sich vielleicht darüber freute, wieder nach Hause zu dürfen. Er dachte nur an seinen eigenen Verlust, an die leere Stelle, die niemand füllen können würde.


    Hadamar sah ihn auf eine Art an, als wüsste er, was in seinem Kopf vorging. Und dann fragte er ihn etwas, womit Tariq tatsächlich überhaupt nicht gerechnet hatte. Er … sollte mitkommen? Nach Germanien? Er? Für einen Augenblick war er tatsächlich sprachlos. Er wusste, dass Hadamar eine Antwort hören wollte und musste, aber in diesem einen Moment hätte Tariq nicht sprechen können, selbst wenn sein Leben davon abgehangen hätte. Sein Kopf versuchte gerade noch den Schock von eben zu verarbeiten und war mit der Frage nun heillos überfordert. Er sollte mitkommen? Nach Germanien? Er? Natürlich hatte er sich wie jeder Junge gewünscht, die Welt zu sehen. Aber genau wie seine Zukunftspläne betreffend hatte das Leben ihn in einem Alter Realismus gelehrt, in dem andere Kinder noch träumen dürfen. Er hätte einfach nicht damit gerechnet, jemals woanders hinzukommen. Wohin genau, war in diesem Augenblick sogar ziemlich irrelevant. „Ich ...“, setzte er an und verstummte dann wieder hilflos. Sein Blick schweifte durch den Raum, als könne ihm irgendetwas dort helfen, die richtigen Worte zu finden. Er streifte Soufian, dem die Überraschung ebenfalls deutlich anzusehen war, der aber auch nichts sagte, sondern Tariq ansah. Und dann unmerklich nickte. Einfach so. Als habe es ihre vorherige Meinungsverschiedenheit nicht gegeben.


    Er sah wieder Hadamar an. Und dann lächelte er. „Ich … brauche keine Zeit. Ich komm' mit.“

  • Hadamar hatte ja im Prinzip schon vorher gewusst, dass es wahrscheinlich eher ungünstig war, ohne wenigstens ein paar einleitende Worte mit der Neuigkeit herauszuplatzen. Aber spätestens als Tariq das, was er gerade in der Hand gehalten hatte, einfach mit einem kleinen Knall zu Boden fiel, wurde ihm das tatsächlich mal wieder deutlich vor Augen geführt, wie wenig Talent er für so was hatte. Aber naja, wenn man schon keine wohlfeil formulierten Worte fand, dann war es immer noch besser einfach zackig auf den Punkt zu kommen, fand Hadamar, als ewig um den heißen Brei zu reden und sein Gegenüber damit erst recht nervös zu machen. Also ignorierte er das Fallen des Gegenstands, ignorierte Tariqs entsetzen Gesichtsausdruck und ignorierte erst recht Soufians Reaktion, sondern machte einfach weiter.


    Das hieß: Tariqs Entsetzen konnte er dann doch nicht ignorieren. Er spürte, wie es ihm tief drinnen einen Stich versetzte, den Jungen so zu sehen, wie weh es tat, ihm das antun zu müssen. Er hatte ihn von der Straße geholt, hatte ihn gefördert und gefordert, und jetzt ließ er ihn im Stich. Es spielte keine Rolle, dass er keine Wahl hatte – er ließ ihn im Stich. Die einzige Alternative war, dass er mit ihm mitkam, und Hadamar könnte sogar verstehen, wenn Tariq davor zurückscheuen würde. Trotzdem war es genau das, was er als nächstes sagte, und entgegen seiner ursprünglichen Intention bot er es ihm nicht einfach nur an, fragte im Grunde noch nicht mal wirklich, sondern präsentierte es fast schon als halben Befehl. Ich will, dass du mitkommst. Ließ er ihm damit denn überhaupt eine Wahl? Hadamar begann an seiner eigenen Wortwahl zu zweifeln, als er sah, wie Tariq darauf reagierte, die Verwirrung auf seinem Gesicht, die Hilflosigkeit, die da plötzlich war, und dann fing sein Blick auch noch an, Hadamars Augen auszuweichen und durch den Raum zu irren. Je länger der Junge schwieg, desto mehr zweifelte er und wünschte sich, er hätte doch ein bisschen mehr nachgedacht vorher, wenigstens minimal etwas anders formuliert. Mehr als Frage. Mehr als Angebot. Mehr...


    Und dann begegnete Tariqs Blick dem seinen wieder. In seinen Augen war das Lächeln zuerst da, noch bevor es seine Lippen berührte – und jetzt war es Hadamar, der erst mal sprachlos war. Tariq kam mit. Er brauchte keine Zeit, er nahm sich keine Zeit, er sagte einfach zu.


    Tariq kam mit.


    Hadamar machte zwei schnelle Schritte auf den Jungen zu und schloss ihn fest in die Arme. Der Stein, der in diesem Moment von seinem Herzen fiel, war noch größer als er davor gedacht hätte. „Großartig“, murmelte er leise. „Du glaubst nicht, wie sehr mich das freut.“


    Mit einem Räuspern löste er sich dann von Tariq, und damit lösten sich auch die letzten Reste seiner Anspannung. Der größte Brocken, der seiner Freude über seine Heimkehr im Weg gestanden hatte, war aus dem Weg geräumt. Blieb noch Soufian, aber das ließ sich nicht klären, durch diesen Abschied mussten sie alle drei einfach durch. Kontakt würden sie halten – eine lose Verbindung zur Freya Mercurioque hatte Soufian schon jetzt über Hadamar, das würde sich sicherlich ausbauen lassen, aber auch darüber hinaus würden sie sich freilich schreiben. Nur ein Wiedersehen... das war wohl eher unwahrscheinlich, das wussten sie alle. Und so verbrachten sie den restlichen Abend genau damit: Abschied zu nehmen. Soufian tischte das Beste auf, was seine Küche so spontan hergeben konnte, und sie schwelgten in alten Geschichten und lustigen Anekdoten, die sie in den letzten Jahren zusammen erlebt hatten.

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