Nun stand ich also mit meinem ersten Fall zum Eherecht in der Basilica Ulpia. Ich hatte mich mit allem vertraut gemacht, was ich herausfinden konnte. Der Advocatus der Gegenseite sah mich skeptisch an, als ich mit meinem Freund Quintus Betucius Firmus, seinem Bruder Gnaeus Betucius Lepta und dessen Frau Albina Calvia die Basilioca betrat. Auch der Praetor Urbanus sah mich skeptisch an und signalisierte Firmus und mir, dass wir zu seiner Sella Curulis herantreten sollten.
"Was genau soll das?" fragte er.
"Wenn ich das erläutern dürfte," ergriff ich das Wort, "mein Studienfreund Betucius Firmus bat mich, ihn in diesem Fall zu unterstützen. Da es sich um die Ehe von dessen Bruder handelt, ist er emotional betroffen und erhofft sich, so den Prozess professioneller zum Abschluss zu bringen."
Firmus nickte.
"Nun gut, ich erlaube es. Dir ist bewusst, dass es nur noch die Plädoyers gibt, Aule Iuni Tacite?"
"Ja, Praetor."
Der Magistrat signalisierte uns, wieder auf unsere Plätze zurückzukehren. Als wir dort angekommen waren, wurde die heutige Sitzung eröffnet.
"Quirites, wir sind heute hier, um den Fall Gnaeus Betucius Lepta versus Sixtus Albinus Tullus zwecks Aufhebung der durch Sixtus Albinus Tullus für geschieden erklärten Ehe von dessen Tochter Albina Calvia mit Gnaeus Betucius Lepta zu verhandeln. Die Klageseite hat Aulus Iunius Tacitus als weiteren Advocatus hinzugezogen. Darf ich erfahren, welcher der Advocati das Verfahren für die Klageseite zu führen gedenkt?"
"Das Verfahren führt Advocatus Aulus Iunius Tacitus," erklärte Firmus kurz und knapp.
"Dann erteile ich hiermit Aulus Iunius Tacitus das Wort."
Ich trat vor. Natürlich war ich nervös, denn ich hatte faktisch keine Vorbereitungszeit. Ich musste also improvisieren. Die Nervosität ließ ich mir aber nicht anmerken.
"Ehrenwerter Praetor, Quirites, ich danke für die Gelegenheit, sprechen zu dürfen. Beginnen wir mit dem Unstreitigen. Primo. Gnaeus Betucius Lepta und Albina Calvia wurden anerkanntermaßen wirksam verheiratet, und zwar mit Zustimmung von Sixtus Albinus Tullus. Secundo. Sixtus Albinus Tullus hat seine Tochter Albina Calvia weder an Gnaeus Betucius Lepta manzipiert, noch hat er sie auf sonst eine Art aus seiner Patria Potestas entlassen. Tertio. Das Ehepaar ist seit weniger als einem Jahr verheiratet, weshalb eine Usucapio ausscheidet."
Ich ließ eine kurze Pause, damit alle Anwesenden diese Fakten noch einmal verinnerlichen konnten.
"Streitig ist aber die Frage, ob Sixtus Albinus Tullus diese funktionierende Ehe aus Gründen, die ausschließlich in seiner Person liegen, auflösen kann."
"Einspruch!" rief der Advocatus der Gegenseite. "Er stellt meinen Mandant als selbstsüchtig dar!"
"Ist dem so?"
Ich zog eine Augenbraue hoch und ließ eine kurze Pause.
"Das Ehepaar hat unstreitig und unabhängig voneinander bezeugt, dass die Ehe intakt sei und funktioniere. Ein Grund in den Personen der Eheleute fällt folglich aus. Sixtus Albinus Tullus wiederum hat unstreitig ausgesagt, dass er Albina Calvia nur deshalb zurückgeholt hatte, um sie in eine neue Ehe zu vermitteln, von der er sich größere politische Vorteile erhofft als von der bestehenden Verbindung. Folglich liegt der Grund für die Zurückholung seiner Tochter in den persönlichen politischen Ambitionen des Sixtus Albinus Tullus. Das ist dann aber unstreitig ein Grund, der in seiner Person liegt. Und da wir keine weiteren Gründe gehört haben, ist das auch ausschließlich der Fall. Oder irre ich mich?"
"Ich lehne den Einspruch ab," entschied der Praetor Urbanus, "bitte, fahre fort, Aule Iuni Tacite."
"Danke, Praetor. Nun mag Sixtus Albinus Tullus anführen, dass ihm mangels Mancipatio weiterhin die Verfügungsgewalt über seine Tochter zustehen würde. Wenngleich das im Prinzip richtig ist, so sei doch an dieser Stelle angemerkt, dass die Mancipatio unabhängig von dem Rechtsgeschäft der Ehe zu sehen ist. Dies legte ich in meinem in der hiesigen Sammlung vorliegenden Kommentar unstreitig an Hand des Beispiels des Kaufvertrags dar. Folglich hat Sixtus Albinus Tullus zwar die Patria Potestas inne, kann damit aber nicht die Ehe scheiden lassen. Das können nur die Ehepartner. Somit hätte die Ehe weiterhin bestand und eine erneute Verheiratung von Albina Calvia wäre als Adulterium nach Lex Iulia et Papia strafbar. Und damit wären wir auch schon beim Stichwort: Die Lex Iulia et Papia. Diese wurde hier allem Anschein nach noch gar nicht angemessen gewürdigt, weil sich die Parteien viel zu sehr auf die Mancipatio konzentriert haben. Der Kern liegt aber in genau diesem Gesetz."
Wieder ließ ich eine Pause, damit das Gesagte verinnerlicht würde. Das anwesenden Anhänger beider Seiten fingen an, miteinander zu diskutieren. Damit war der erste Punkt schon einmal erreicht. Das Publikum sah den Fall nicht mehr so klar, wie es bis vor wenigen Momenten wohl noch der Fall war.
"Warum liegt der Kern dieses Falles aber in der Lex Iulia et Papia? Zunächst einmal deshalb, weil die Lex Iulia et Papia einen Eheschluss auch gegen den Willen des Pater Familias zulässt. Das ist ganz unstreitig und bedarf keiner Erläuterung. Wenn aber ein Pater Familias eine Ehe nicht verhindern kann, wenn das Paar diesen Eheschluss will, warum sollte er dann die Ehe ohne gewichtigen Grund beenden können? Bei einer funktionierenden Ehe kann so ein Grund nicht vorliegen. Natürlich kann die Verteidigung vorbringen, dass das persönliche politische Vorankommen der Industria eines wahren Römers entspricht. Jedoch wird hiermit zugleich die Honestas und Veritas des Pater Familias beschädigt. Und auch die Clementia gegenüber der eigenen Tochter würde hierunter leiden. So kann man sicher festhalten, dass die persönlichen Gründe nicht gewichtig genug sind, um dem Mos Maiorum zu genügen.
Doch damit nicht genug. Was ist denn der Zweck der Lex Iulia et Papia? Zweck ist es vor allem, dass Kinder mit römischem Bürgerrecht gezeugt werden. Diese sind essentiell für das Funktionieren des Imperium Romanum. Nun ist es aber so, dass aus einer funktionierenden Ehe häufiger Kinder entstehen, als aus einer unglücklichen Ehe. Außerdem, und das ist nicht weniger wichtig, soll die Ehe auch unter den besonderen Schutz des Gesetzes gestellt werden. Der Schutz ist, wie erwähnt, sogar so stark, dass davor die Rechte des Pater Familias davor zurückzutreten haben. Wieso sollte dann aber der Pater Familias auf einmal Rechte erhalten, die Ehe aufzulösen? Wäre es zum Wohle seiner Tochter, die er aus einer nicht funktionierenden Ehe zurückholte, wäre es vertretbar. Das ist hier aber nicht der Fall. Deshalb halte ich im hier verhandelten Fall ein Recht des Pater Familias, die Scheidung zu erzwingen, als der Lex Iulia et Papia widersprechend und deshalb nicht gegeben.
Natürlich kann sich Sixtus Albinus Tullus darauf berufen, dass er immer noch aus der Patria Potestas das Recht habe, seine Tochter nach Hause zu holen. Doch sollte erwähnt werden, dass er hiermit seine Tochter ihrem Ehemann entziehen würde. Das wiederum wäre erneut ein Verstoß gegen die Lex Iulia et Papia und den Mos Maiorum, der meinen Mandanten zum Schadensersatz berechtigen würde. Ebenso würde eine erzwungene Scheidung meinen Mandanten zum Schadensersatz berechtigen, weil seine Interessen, auch im Sinne der Lex Iulia et Papia, ernsthaft verletzt würden.
Deshalb ersuche ich den Praetor Urbanus, den Bestand der Ehe zu erklären und anzuordnen, dass Albina Calvia unverzüglich wieder bei ihrem Ehemann Gnaeus Betucius Lepta einzuziehen hat. Sollte der ehrenwerte Praetor doch der Patria Potestas den Vorzug vor der Lex Iulia et Papia geben, so ersuche ich ihn in diesem Fall, den Sixtus Albinus Tullus zur Zahlung eines Schadensersatzes in Höhe von eintausend Aurei an Gnaeus Betucius Lepta zu verurteilen. Durch diesen Schadensersatz soll der Vertrauensschaden, der durch den Wortbruch des Sixtus Albinus Tullus durch den Rückzug seines Eheeinverständnisses verursacht wurde, sowie die Risiken, die Gnaeus Betucius Lepta aus dem hieraus resultierenden widerrechtlichen Unverheiratetsein entstehen, kompensiert werden. Sollte der Schadensersatz dem Praetor zu hoch erscheinen, möge er diesen anpassen."
Das Publikum auf unserer Seite applaudierte, während das Publikum der Gegenseite weiter diskutierte. Auch der Advocatus der Gegenseite diskutierte mit seinem Mandanten. Vermutlich fragten sie, ob sie das Risiko des Schadensersatzes eingehen wollten, selbst wenn dieser reduziert würde. Nun hatte die Gegenseite das Wort und anschließend würde der Praetor Urbanus entscheiden. Wenngleich es nicht mein bestes Plädoyer war, hatte die Gegenseite nur noch die Patria Potestas als Argument, die sie aber gegen meine Angriffe in diesem konkreten Einzelfall verteidigen musste.