Triclinium | Eine Familie am Scheideweg

  • Es war eine düstere Zeit und Marcellus knabberte lustlos an einer Olive herum, während er wie so oft in letzter Zeit seinen Gedanken nachhing. In den letzten Wochen war vieles passiert. Nun, eigentlich war nur eines passiert. Herius Claudius Menecrates war gestorben. Er war ein Vater gewesen und ein Großvater, aber er war gleichzeitig noch so vieles mehr gewesen. Er war das Oberhaupt der Familie gewesen, der Fels in der Brandung, das Leuchtfeuer an dem sich alle orientiert hatten. Menecrates war das Sinnbild römischer Ideale und Tugenden gewesen. Als Praefectus Urbi und angesehener Senator war er einer der wichtigsten Männer Roms gewesen. Sein Wort hatte Gewicht gehabt und nun, nun war er fort.


    Und was blieb? Es blieb eine Gens Claudia ohne nennenswerte politische Persönlichkeiten, ja fast komplett ohne Persönlichkeiten. Da war Claudia Romana, welche Marcellus gerade gegenübersaß. Sie war eine Tochter von Menecrates und somit seine Tante. Als Vestalin war sie eine ehrbare Persönlichkeit, aber sie würde natürlich die Lücke niemals ausfüllen können, welche Menecrates ließ. Dann waren da Marcellus und seine Schwester, sowie noch einige entferntere Verwandte, welche sich auf Landgütern ein ruhiges Leben machten und Rom den rücken gekehrt hatten. Niemand würde Menecrates ersetzen können. Nicht einmal ansatzweise. Marcellus Vater, Galeo Claudius Gallus, war seit einiger Zeit verschollen. Er war von einer längeren Reise nie zurückgekehrt und Marcellus hatte es aufgegeben auf diese Rückkehr zu warten.


    Also blieb er selber. Er hatte Ambitionen, oh und was für Ambitionen er hatte. Doch im Vergleich zu Menecrates war er ein Niemand und er hatte auf dem Weg zu einem erfolgreichen Staatsmann erst die ersten kleinen Schritte getan. Als sein Großvater noch lebte, da hatte er sich ausgemalt wie er sich Stück für Stück seiner Karriere hingeben wollte. Alles unter der Anleitung seines großen Vorbilds. Aber nun... nun fühlte er sich wie ins kalte Wasser geworfen.


    Sein Blick ging zu Romana hin und ihm wurde bewusst, dass er kein guter Gesprächspartner war. Zu still. Er suchte nach einem Thema, doch dann kam Proculus herein und meldete jemanden an. Marcellus stutzte. "Sabinus, Sabinus... diesen Namen habe ich doch schon einmal gehört. Romana, lebt der nicht in Alexandria?" die Familie war nicht so groß, dass man sich nicht mehr untereinander kannte. Und auch wenn Marcellus kein Gesicht zu dem Namen im Kopf hatte so wusste er doch, dass Sabinus ein Sohn von Menecrates jüngerem, inzwischen verstorbenen Bruder war. Und er wusste, dass dieser Verwandte im weit entfernten Alexandria seine Heimat gefunden hatte. Nun war er hier. Ohne ein Wort von sich hören zu lassen, kurios.


    Doch Familie war Familie und so erhob sich Marcellus und verließ das Triclinium, vermutlich mit Romana im Schlepptau. Mit geöffneten Armen trat er in das Peristyl hinaus und sah dort einen wahrlich... beleibten Mann stehen. "Sabinus?" fragte er und man mochte seiner Stimme die Skepsis heraushören. Sein Blick ging zu Romana hin, bei der er hoffte sie möge entscheiden ob dies nun ein Schwindler war oder nicht. Eine Idee kam ihm allerdings noch. "Unser entfernter Verwandter aus Antiochia. Wie schön, dass es dich nach Rom verschlagen hat!" es war kein Versprecher, der ihm da unterlaufen war. Wenn er einen Schwindler vor sich hatte, dann würde dieser die Sache mit Antiochia nicht richtig stellen. Wenn es der richtige Sabinus war, dann war dieser Fehler für Marcellus höchstens ein bisschen peinlich.

  • Schweigsam stand Eldrid in gemessenem Abstand zu den Klinen, auf denen Marcellus und Romana Platz genommen hatten. Die Stimmung war seit einigen Wochen gedrückt, hier im vermeintlich nobelsten Hause der großen Stadt und Eldrid konnte das ziemlich gut verstehen, ganz gleich, ob sie nun noch eigene Sorgen hatte, welchen sie nachhing und die für sie wesentlich schlimmer wogen. Besonders nahe an sich heran ließ sie die Trauer der Familie nicht, der sie noch immer starken Groll entgegen brachte, aber auf eine objektive (und auch ein wenig subjektive) Weise verstand sie, was die Gens Claudia an dem Senator verloren hatte, der vor einigen Wochen verstorben war. Sie war weit davon entfernt gewesen, Herius Claudius Menecrates zu kennen, aber sie hatte von den Sklaven in der Villa viel Gutes gehört und auch sie hatte ihn als ruhig und gerecht wahrgenommen. Anders, als seine Enkel. Oder seine Tochter. Eldrid war mit Romana selbst noch nicht aneinander gerasselt, aber die Sklaven redeten eben miteinander. Sie selbst hörte eher zu als dass sie sprach, denn Tratsch lag ihr fern und sie sah sich noch gar nicht als ein Teil des Haushaltes. Sie wollte sich nicht einfügen, noch immer nicht. Sie blieb freundlich, aber einsam und dankenswerter Weise schienen die meisten Sklaven dafür Verständnis zu haben und malträtierten sie deswegen nicht. Es war wie Marcellus versprochen hatte: es ging ihr nicht schlecht.

    Sie sehnte sich trotzdem nach der Heimat. Es lag nicht an der Arbeit, die in der anfänglichen Zeit sehr hart gewesen war und ein eindeutiges Zeichen dafür, dass Marcellus ihr eine Lektion erteilen wollte, ohne sie zu schlagen. Sie hatte seine Intentionen schon verstanden. Eldrid war sich nicht zu schade für harte Arbeit. Ganz im Gegenteil hatte die sie sogar einigermaßen vom Grübeln abgehalten. Nun wurde sie wieder bevorzugt und die Grübelei erhielt wieder mehr Raum. Nein, es waren weder die Sklaven, noch war es die Arbeit. Es war einfach Heimweh. Sie fühlte sich entwurzelt, betrogen und verraten. Sie hatte sich ihr Leben nicht so vorgestellt, dass sie in einer fremden Stadt unter fremden Menschen leben musste, fremde Sprache und fremde Bräuche erlernen musste und ihre Liebsten nie wieder sehen würde. Sich damit zu arrangieren fiel ihr nach wie vor unglaublich schwer. Ihr fehlten die schweren Eichen, das unwegsame Gelände, die einfachen Häuser und die familiäre Liebe. Sie vermisste ihren Bruder.


    Was war sie hier, in Rom? Sie hatte keine Identität, sie war einfach nur lebendes Inventar. Marcellus hatte einen Narren an ihr gefressen, aber sollte sie dafür dankbar sein? Wohl eher nicht. Es war eher so, dass genau das ihr Problem war; hätte er sie weniger gemocht, hätte er sie hier nicht eingesperrt. Sie mied ihn, so gut sie es konnte. Nur konnte sie es nicht gut, denn er wollte sie nicht meiden. Ständig musste sie ihm irgendetwas hinterher tragen, seine Wünsche erfüllen und in seiner Nähe sein. Gesprächigkeit und Zuneigung konnte er glücklicherweise nicht erzwingen.

    So stand sie auch heute hier, angetan in gar nicht so günstige Stoffe, die aber dennoch einen einfachen, einer Sklavin angemessenen Schnitt besaßen. Das lange, blonde Haar fiel ihr offen über die Schultern und war nur leicht aus dem Gesicht frisiert. Sie schwieg, wie es von ihr erwartet wurde und wie es ihr auch am liebsten war, darauf achtend, ob jemand einen Wunsch an sie hatte dem sie nachgehen musste, wenn sie nicht bestraft werden wollte. Die Schwester von Marcellus, Livineia, schien Eldrid zu hassen. Glücklicherweise war sie heute aus. So musste Eldrid nur noch darauf Acht geben, es Romana Recht zu machen.


    Als der Besuch kam, blieb sie an Ort und Stelle stehen und sah Marcellus lediglich hinterher. Was sollte sie auch mit ihm gehen? Sie war für die Bewirtung zuständig und neugierig war sie so gar nicht. Es konnte nichts passieren, das in irgendeiner Weise gut für sie war. Nichts.

  • Was genau Romana heute in die Villa, in der sie aufgewachsen war, verschlagen hatte, würde sie vielleicht selber nicht so richtig beantworten können. Ihr Zuhause, das war das Atrium Vestae; sie hatte zwar noch immer ihr Zimmer in der Villa – warum denn nicht, stand sie doch weitestgehend leer – doch wenn sie hier war, war sie nicht daheim. Sie war ein Gast. Wenn sie mit sich ehrlich war, war sie hier aus keinem besseren Grund, als dass sie hier die Nähe ihres Vaters verspürte.


    Romana hatte ihren Vater abgöttisch geliebt, und die Nachricht über seinen Tod, und die Art seines Todes gleich gar, hatte sie am Boden zerstört. Ihr Vater war ihr ein und alles gewesen, die Quelle ihrer Stärke, der Beste aller Römer. Und jetzt… jetzt war er tot. Natürlich hatte Romana schon immer gewusst, dass er eines Tages sterben würde, doch selbst diese Gewissheit hatte sie nicht darauf vorbereitet. Mit Ungemach in ihrem Bauch erinnerte sie sich daran, welche absurden Gedanken sich in ihrem Hirn getollt hatten, als sie damals in die Villa gekommen war, um den Leichnam ihres Vaters zu sehen; sie hatte noch insgeheim erhofft, man hätte ihr einen Streich gespielt, und ihr Vater würde sie mit einer seiner typischen kräftigen Umarmungen empfangen. Natürlich war das Unsinn. Menecrates war ein ernsthafter aber gütiger Mensch gewesen, ein wahrer Römer, der sich nie für solche Scherze einspannen lassen hätte. Nein, das einzige, was dieser Tag gebracht hatte, war Entsetzen, Tränen, und, ja, Wut.


    Er war tot, und Romana fühlte sich so allein wie noch nie vorher in ihrem Leben. Daran änderte auch die Präsenz ihres Neffen Marcellus nicht, der Sohn von Galeo. Galeo, auch der Gedanke an ihn jagte ihr einen Stich durch den Herzen. Niemand wusste, wo ihr älterer Bruder war. Vielleicht lag ja ein Fluch auf der Gens Claudia, auch wenn Romana nicht wusste, was genau die Ursache sein könnte. Hatten die Claudier nicht immer gemäß der Mos Maiorum gehandelt, hatten sie nicht fromm die Götter respektiert? Die Antwort darauf zu wissen wäre eigentlich das Metier einer Vestalin, aber sie stand auf dem Schlauch.


    Und so saß sie hier, Marcellus gegenüber, und sie schwiegen sich an, um Worte ringend. Marcellus sah so aus, als ob er gerade etwas sagen wollte, da wurde die Ankunft eines Claudiers gemeldet. Sabinus? Romana runzelte ihre Stirn auf Marcellus‘ Frage. Ein inneres Bild erschien vor ihr, das eines kleinen kugelrunden Dreikäsehochs, damals vor fast 30 Jahren, als sie selber bloß ein Kind gewesen war. „Du hast recht, Marcellus. Das ist der Sohn von Onkel Constantius“, konstatierte sie. „Und ja, er lebt… oder lebte… in Aegyptus.“ Was genau ein Römer in jenem Land verloren hatte, entzog sich ihrer Kenntnis. Natürlich, Legionen mussten dort sein, um die Einheimischen zu unterjochen, aber Romana würde sich nie an einer Absenz aus ihrer italienischen Heimat erfreuen können. Soweit sie wusste, war Sabinus bloß nach Alexandria emigriert, um dort auf Juhe zu gehen. Er war also wieder hier, in Rom?


    Sie erhob sich, und folgte Marcellus ins Peristyl, wo der Ankömmling stand. Sie versuchte in ihn den rundlichen Knaben von damals wieder zu erblicken, doch viel zu viele Jahre waren ins Land gegangen. „Salve, Sabinus“, machte sie mit einem freundlichen Lächeln, das ihre Augen nicht gänzlich erreichte, und schaute auf Marcellus, der davon begann, von Antiochia zu reden. Sie benötigte eine Sekunde, um zu erkennen, dass das ein kleiner Test von Marcellus war. Über alle Zweifel würde das Bestehen dieser Prüfung den Mann vor ihnen nicht erheben, aber Romana hielt in ihrem Hirn bereits schon die Namen aller Kinder ihres Onkels Constantius parat. Darunter befanden sich, wiederum, Leute, die Romana gerne hier in Rom hätte; geschätzte Cousins und Cousinen, mit denen Romana hierin dieser Villa aufgewachsen war.


    Aus den Augenwinkeln bemerkte sie eine blonde Sklavin. Eld-irgendwas. Sie war Marcellus‘ kleines Spielzeug, wenn sie die Lage recht verstanden hatte. Sie konnte nur hoffen, dass sie ihren Neffen nicht davon abhielt, eine ordentliche Römerin zu heiraten. Und auch, dass sie nicht beschloss, durch irgendeine unfassbare Barbarei den Namen der Gens Claudia der Lächerlichkeit preis zu geben. Denn diese Germanen waren unberechenbar und, anders als tugendhafte Römer, geleitet von ihren Instinkten. Und für Germaninnen mochte das vermutlich gleich im erhöhten Maße gelten.

  • Nach kurzem Zögern verbeugte sich der Sklave und führte Sabinus in das Atrium. Hier bot ihm ein junger Sklave einen Trunk, am Getränk nippend blickte Sabinus um sich, alles war so vertraut und gleichzeitig fremd, wie viele Familienmitglieder leben noch in der Villa, was erwartet ihn. Gedanken, so viele Gedanken, prompt überkamen ihn die Erinnerungen, seine Kindheit in der Villa, sein strenger Vater und seine zu hohen Erwartungen, egal was er tat, es war immer zu wenig. Ja, er war schon etwas kräftiger gebaut, war nicht so begabt wie seine Brüder, jedoch war er klug genug, um die zwei so zu manipulieren, dass die dann miteinander rauften und sich blutige Nasen holten. Ah wie sehr er sich dabei amüsiert hat, er war an dem Tag so glücklich wie noch nie, beim Gedanken daran hoben sich seine Mundwinkel zu einem Lächeln.


    Die fürsorgliche Mutter und liebevolle Schwester, glichen die strenge des Vaters aus. Ja, die liebe Catilina, sie tröstete ihn jedes Mal, wenn der Vater wieder zu streng war, indem sie ihm was Süßes gab, im Nachhinein war es sie, die für seinen übertriebenen Appetit verantwortlich war.


    Auch seinen Vetter Gallus behielt er in guter Erinnerung, da war noch Gallus Schwester: „Hm, wie hieß sie nur, ah ja Romana", groß war sie, mehr gab die verblasste Erinnerung nicht her. Ob die zwei noch hier sind. Und da war noch deren Vater Menecrates, Stolz der Familie, einer der einflussreichsten Männer Roms, er konnte sich nur an eine Begegnung mit seinem Onkel erinnern, er spielte mit seinen Brüdern und die zwei liefen ihm wie immer davon, er versuchte noch die beiden einzuholen, doch stolperte, fiel hin und weinte bitterlich, sein Onkel half ihm auf, sprach nur einen Satz: Dolor hic tibi proderit olim!“, und ging. Erst später begriff Sabinus, was sein Onkel damit sagen wollte.


    Das Magenknurren holte ihn in die Realität zurück, seine letzte üppige Mahlzeit hatte er bei der Ankunft in Ostia. Der Magen gab wieder einen laut, wie gerne würde er jetzt eines der leckeren Pastetchen, welche sein Koch in Alexandria zauberte, essen und die süßen Datteln. Der Magen knurrte wieder: „Oh Götter, erbarmt euch meiner“. Er schaute sich nach dem jungen Sklaven um, doch der war nicht mehr da: "diese Sklaven, nie sind die zur Stelle, wenn man sie braucht". Muss er hier noch lange warten? Genau in dem Moment erblickte Sabinus einen jungen Mann, der von einer Frau begleitet wurde, die Frau kam ihn bekannt vor, sicher war er sich natürlich nicht, wie auch, nach Jahren der Abwesenheit. Der junge Mann unterbrach jedoch Sabinus Überlegungen und fragte, mit einer gewissen Skepsis in der Stimme, ob er ein entfernter Verwandter aus Antiochia sei, bitte was, Antiochia, er betrachtete den Mann etwas genauer, dieser war gutgebaut und hatte sehr anmutige Gesichtszüge, wahrlich, die Götter sind dem Hause Claudia wohlgesonnen, Sabinus der wegen seiner Körperfülle wohl kaum ein sehr attraktiver, von Natur jedoch ein sehr eitler Mann war, hasste jeden der nur halbwegs besser aussah. So entwickelte er momentan eine starke Abneigung dem jungen Mann gegenüber, verbarg es hinter der Maske der übertriebenen Freundlichkeit, setzte sein breitestes Lächeln auf und sprach sanft: „In der Tat, mein Guter, ich bin Titus Claudius Sabinus, ein Verwandter aus Alexandria, mein lieber, nicht Antiochia, dein Irrtum ist verständlich, bei all den Verwandten, wer kann da noch den Überblick behalten, die letzten Worte, betonte Sabunis besonders um den Mann darauf zu verweisen sich besser mit dem Stammbaum der Claudier zu beschäftigen. „Dürfte ich nun auch deinen Namen erfahren


    Nun grüßte ihn auch die Frau, sofort schenkte er ihr seine ganze Aufmerksamkeit. Jetzt betrachtete Sabinus die Frau etwas genauer, was sofort auffiel, war ihre Größe, in seinem Leben hat er nur einmal solch eine große Frau gesehen, auf Anhieb war alles klar, es konnte nur sie sein:Salve Romana. Liebste Cousine, wie glücklich ich bin dich zu sehen. Es ist wahrlich sehr lange her“.


    Romana war aber kurz abgelenkt, er folgte ihrem Blick und sah eine blonde Sklavin. Sabinus, der, wie er selbst sehr oft behauptete, ein großer Kenner der weiblichen Schönheit war, musste sich eingestehen, die Sklavin hatte was. Doch der würde er sich später widmen, zuerst kam die Familie.

  • Beim hinausgehen hatte Marcellus auch noch einmal zu Eldrid hin gesehen und seine Empfindungen ihr gegenüber sorgten nicht gerade für Ruhe in seinem aufgewühlten Seelenleben. Natürlich hatte er weit wichtigeres, was ihm im Kopf herum ging und er beschäftigte sich nicht pausenlos gedanklich mit dem germanischen Mädchen. Trotzdem bereitete sie ihm oft genug Kopfzerbrechen. Manches Mal war er versucht sie einfach nach Germanien zurück gehen zu lassen, denn selbst ihm war klar, dass er sie unter eher zweifelhaften Bedingungen hier behielt. Ja er könnte nun, da sein Großvater tot war, sogar für eine Eskorte sorgen ohne dass er sich jemandem gegenüber rechtfertigen müsste. Manchmal dachte er über diese Möglichkeit nach. Dann aber, ja dann dachte er weiter. Alleine sie anzusehen bereitete ihm Freude. Er hatte sie mögen gelernt, seitdem sie gemeinsam vor diesen Banditen in den Alpen geflohen waren. Und wenn er sie nun gehen lassen würde, dann wäre sie weg und würde im kalten Germanien vor sich hin darben. Und schließlich, so rechtfertigte er sich, war sie eine Sklavin gewesen, als er sie gefunden hatte. Marcellus Reisegesellschaft war auf der Straße von Banditen überfallen und er selbst als Geisel genommen und gegen Lösegeld gehalten worden. Sie hingegen war von den Räubern in Germanien geraubt worden und sollte als Sklavin verkauft werden. Warum sollte er sie also gehen lassen? Nicht er hatte sie in die Sklaverei gepresst, im Gegenteil. Er hatte sie vor einem schlimmeren Schicksal bewahrt. Kaum ein Mensch lebte besser als ein Sklave im Haushalt der Claudia! Nun, abgesehen von den letzten Wochen vielleicht. Doch von den Unruhen im Haus war Eldrid verschont geblieben.


    Meistens endeten seine Gedanken also an dem Punkt, dass er sie einfach nicht gehen lassen wollte. Sie war sein Eigentum und er war nicht mit dem Bewusstsein aufgewachsen, dass die Sklaverei etwas unnatürliches war. Eldrid würde ihr neues Leben noch zu schätzen lernen, immerhin war er kein grausamer Herr!


    Vor dem Neuankömmling stehend, blickte Marcellus noch einmal zu Romana hin, ehe er beschloss diesem Fremden erst einmal Glauben zu schenken. Immerhin erkannte er Romana. Misstrauisch würde Marcellus dennoch bleiben. Der Name der Gens Claudia alleine war viel wert und niemand wusste genau was im fernen Aegyptus alles passiert sein mochte. Es konnte gut sein, dass dieser Mann dort nicht Sabinus war, sondern ein Betrüger der sich im Vorfeld gut informiert hatte.


    "Mein Name ist Marcus Claudius Marcellus, Sohn des Galeo Claudius Gallus." Marcellus zögerte kurz, denn ganz und gar hatte er noch nicht gelernt seine neue Rolle anzunehmen. Dann aber strafte er sich. "Du erreichst uns in dunklen Zeiten, die von Trauer überschattet werden. Vor wenigen Wochen hat mein verehrter Großvater diese Welt verlassen. Menecrates starb nach einem langen und ehrenvollen Leben und mein Vater kehrte bereits vor einem Jahr von einer Reise nicht heim. Somit bin ich das Oberhaupt der Gens Claudia und der Herr dieses Anwesens. Ich heiße dich willkommen, Sabinus. Komm, speise mit uns und berichte uns von deiner Reise, die gewiss beschwerlich war." Marcellus machte eine einladende Geste zum Triclinium hin, wo er und Romana bis eben verweilt waren. Dort war kein Festmahl aufgetafelt worden, aber einige kleinere und größere Knabbereien hatten sie sich bringen lassen. Wein, Brot, Oliven, Obst... es war unnötig zu sagen, dass von dem was dort auf dem Tisch zwischen den Klinen stand, eine ganze Familie einen Tag lang gesättigt werden könnte.

  • Was die Römer miteinander sprachen, verstand Eldrid nur bedingt. Das lag weniger an ihren Sprachkenntnissen, als viel eher an der Distanz und dem Umstand, dass keiner der drei brüllte wie ein Schwerhöriger. Trotzdem versuchte sie, etwas zu verstehen. Gut möglich, dass ein Pärchen spielender Eichhörnchen ihre Aufmerksamkeit von den dreien abgelenkt hatte, aber es war hier dermaßen aufgeräumt, dass sie die Tiere lediglich aus ihrer Erinnerung her zurückrufen könnte. In diesen Hallen schien es kein Leben zu geben. Alles war aus Stein und Marmor, es glänzte und sie würde lügend, wenn sie es nicht beeindruckend finden würde. Es war durchaus auch schön. Solche Bauten kannten und hatten die Mattiaker nicht. Heimelig war es aber trotz allem Pomp nicht. Sie sehnte sich nach dem, was sie immer schon gekannt hatte und was ihr ein Gefühl von Vertrautheit vermittelte. Selbst die Luft roch hier anders, auch wenn sie sich zumindest daran mittlerweile gewöhnt hatte. An vieles hatte sie sich gewöhnen können. So sehr, dass sie fürchtete, sie könnte ihre Erinnerungen verlieren.


    Aufmerksam betrachtete sie den Neuankömmling, der ganz offensichtlich zur Familie gehörte. Er wurde von den beiden in den Reihen der Familie mehr oder weniger willkommen geheißen. Was mochte er für ein Mensch sein? Er wirkte auf Eldrid weich und freundlich, was vielleicht auch an seiner Statur liegen mochte. Sie kannte kaum solche beleibten Menschen. Er wirkte bei all seiner Fülle nicht wie ein Krieger und eigentlich wie das krasse Gegenteil von Marcellus. Hübsch war die Fülle in ihren Augen nicht, aber Eldrid verurteilte das auch nicht unbedingt. Es war auch ein Zeichen von Wohlstand und vermutlich in seinem Falle von Friedlichkeit, warum sollte sie davon schlecht denken? Die Römer galten allgemein als ziemlich wohlhabend und jeder machte aus diesem Status etwas anderes. Er hatte es sich offenbar recht gut gehen lassen, sie würde es ihm nicht missgönnen.

    Sie selbst wirkte gegenwärtig eher so, als würde man ihr das Essen vorenthalten. Ihre Arme waren dünner und sehniger als früher und auch sonst wirkte sie eher mager. Sie hatte schon seit der Ankündigung von Marcellus, dass er sie nicht heimgehen lassen und stattdessen als Sklavin hierbehalten würde, begonnen gezielt zu hungern. Ein wenig aus Frust, aus Kummer, aber auch aus der Intention heraus, ihren Unwillen zu demonstrieren. Es hatte Tage gegeben, an denen hatte sie sich nahe des Todes gewähnt - auch wenn sie noch weiter entfernt gewesen war, als sie gedacht hatte. An diesen Tagen war ihr schwindlig geworden und ihr Magen hatte richtig weh getan. Und dann hatte sie doch manchmal gegessen. Heimlich und möglichst unbeobachtet, weil sie ja wollte, dass man ihren Protest wahrnahm. Ihr Wille war nicht stark genug, es bis zum Äußersten zu provozieren.

    So war sie heute also sehr mager, aber noch immer am Leben. Ihr fehlte schlicht und ergreifend die Stärke und der Stolz, anders konnte man es nicht beschreiben.


    Als Eldrid beobachtete, wie Marcellus den Fremden zum Essen einlud, straffte sie ihre Haltung wieder ein wenig, die doch vom vielen Stehen ein wenig eingesunken war. Sie würde sich bereit halten, ihm etwas einzuschenken, wenn er es sich gemütlich gemacht hatte. Oder sie würde ihm Speisen reichen und heranschaffen. Sie wusste, was von ihr erwartet wurde, auch wenn sie sich immer noch schwer damit tat, es zu akzeptieren. Es gab schlimmeres, als Essen aufzutragen. Fast ein wenig starr sah sie zu Marcellus hin, betrachtete sein Profil und presste dabei bitter und kaum sichtbar die Lippen aufeinander.

  • Sabinus – wenn das Sabinus war; Marcellus hatte mit seinem Misstrauen Romana etwas angesteckt – hatte, seit er ein Kind war, ordentlich zugelegt. Es war ein Zeichen von Genusssucht, welches einem Römer nicht gut zu Gesichte stand. Ein wahrer Sohn der besten Stadt der Welt hatte gewisse Kriterien zu erfüllen in Romanas Augen; sie mochten unerfüllbar sein von allen Männern außer ihrem Vater, und gerade deshalb war sie froh, dass es ihr als Vestalin verboten war, zu heiraten. Wäre sie nicht ins Atrium Vestae gekommen, so hätte ihr Vater sie an einem Mann verheiratet, den sie ziemlich sicher als ihrer nicht würdig befunden hätte. Denn ja, Romana war insofern typische Claudierin insofern als dass sie durchaus eingebildet war. So wie der Römer über den Barbaren stand, stand der Claudier über dem typischen Römer. Nun, dies galt nun auch für Sabinus, der sich nun Marcellus gegenüber vorstellte, und seinen Fehler berichtigte. Nicht aus Antiochia war er, sondern aus Alexandria, nicht dass Romana es für vorstellbar befand dass zwischen diesen zwei Orten sonderlich viel Unterschied bestand, beides griechische Außenposten in einem götterverlassenen Land im Osten.


    Sabinus wandte sich an sie, und er nannte ihren Namen. Natürlich war das kein Beweis – immerhin war sie als Vestalin so etwas wie eine öffentliche Figur - aber etwas in der Art und Weise, wie er sie ansprach, zerstreute ihre Bedenken darüber, dass der Mann nicht ihr Cousin war. Irgendwie erinnerte er Romana an Tante Macerina. Vielleicht seine Augenbrauen und sein Mund, vielleicht seine patrizische Art, sein so offensichtlich teurer Geschmack. Ihrem weiblichen Auge entging nicht, was Marcellus vielleicht nicht unbedingt auffiel; die besonders exquisite Qualität des Gürtels, eine besonders raffinierte Falte in den Gewändern, der Hang dazu mit fortlaufendem Alter in die Breite zu gehen. Romanas Lächeln wurde etwas ehrlicher als vorher. „Cousin Sabinus. Das letzte Mal, dass ich dich gesehen habe, warst du noch ein Kind. Willkommen zurück zuhause“, machte sie mit ihrer ihr eigenen rauchigen Stimme, die um einiges älter klang als Anfang 30.


    Marcellus übernahm nun das Wort. Er erklärte in kurzen bündigen Worten, was vorgefallen war, und Romana nickte nur grave. Ihren Augen musste der tief sitzende Schmerz über den Tod ihres Vaters anzusehen sein. Sabinus konnte sich vielleicht erinnern, dass Romana schon als kleines Mädchen furchtbar an ihrem Vater gehangen hatte. Wie sehr hatte ihre Liebe zu ihrem Vater ihr Leben gezeichnet! Ihr freiwilliger Eintritt bei den Vestalinnen war nicht bloß ihrer religiösen Überzeugung geschuldet, sondern auch ihrem Willen, ihrem Vater eine Vorzeigetochter zu sein. Eine Tochter, die in öffentlichen Angelegenheiten – wo Frauen üblicherweise kaum brillieren konnten – den Namen der Gens Claudia hochhalten konnte. Der Verlust war so massiv, dass Romana sich nur mit Not davon abhalten konnte, den ganzen Tag darüber nachzudenken.


    Marcellus hatte es freilich nicht leicht, dachte sie sich. Sie wusste zumindest, wo ihr Vater war. Marcellus wusste das nicht. Galeo, dachte sie sich, wo bist du! Sie konnte sich nicht vorstellen, dass ihr unverwüstlicher Bruder tot war. Aber eine andere Möglichkeit lag kaum auf der Hand.


    Ihr Blick wanderte noch einmal kurz zur Barbarin, mit einem misstrauischen Blick – würde die Germanin jählings zur Berserkerin mutieren? – bevor sie wieder zu Sabinus schaute, mit einem bejahenden Blick. „Es tut mir Leid, dass wir dich nicht unteren froheren Umständen begrüßen können“, fügte sie Marcellus‘ Worten hinzu. „Doch dein Besuch verschafft uns Freude in diesen schwierigen Zeiten. Sag, Cousin, was hat dich nach Rom gezogen?“ Wer es das Heimweh? Sie würde es ihm nicht verübeln können, denn in Rom war es am Besten.

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