[Imperium Sinarum] Changanum

  • Nachdem wir den Jadepass passiert hatten, reisten wir zwischen zwei Gebirgszügen weiter. Schließlich erreichten wir fruchtbares Kulturland mit Feldern und Obstwiesen. Die Wege wurden auch zunehmend besser, wenngleich wir erst am Ende auf Straßen reisten, die mit den Straßen des Imperiums mithalten konnten.


    Arpan und ich fielen deutlich auf. Arpan hatte sich bereits vor dem Aufstieg nach Kaschgar skythisch eingekleidet. Das schien einigen Leuten hier nicht geheuer zu sein, doch schien es auch nicht extrem ungewöhnlich zu sein. Ich fiel da schon mehr auf. Einerseits wegen meiner Gesichtszüge, die so deutlich anders als die der Serer waren. Andererseits auch wegen meiner Kleidung. Zwar verzichtete ich trotz der sommerlichen Temperaturen darauf, römische Kleidung anzuziehen. Doch waren die Kombination aus skythischen Stiefeln und Hosen und einer einfachen Leinenjacke der Hàn sicher ungewöhnlich.


    Immerhin hatte ich von meinem Freund Jì Dé inzwischen gelernt, mit Stäbchen zu essen und mich angemessen nach Art der Serer zu verbeugen. Beides war hier hoch angesehen. Inzwischen besaß ich sogar ein Paar Essstäbchen aus Jade, die ich in einer Schachtel aus Rosenholz transportierte. Das stieß wohl noch mehr auf Verwunderung, weil es einen Wohlstand zeigte, der nicht zu meiner Kleidung passte. Und dass ich ein zur leichten Unterhaltung geeignetes Serisch beherrschte, traf die meisten auch unvorbereitet. Jì Dé brachten die Reaktionen seiner Volksgenossen hierauf regelmäßig zum Schmunzeln.


    Die Siedlungen wurden immer größer und wohlhabender und oft waren es Städte, die sich mit denen in der römischen Provinz messen konnten. Und dann, der Sommer wurde zum Herbst, näherten wir uns einer wirklich großen Stadt. Die Blätter der Bäume färbten sich langsam bunt. Die Stadt war vielleicht nicht so groß wie mein geliebtes Rom, das ich inzwischen schmerzlich vermisste, aber doch beeindruckend, mit großen Gebäuden und einer Stadtmauer, die sich mit der Mauer Roms messen konnte. Ich hatte das Gefühl, das Ziel meiner Reise zu erreichen. Obwohl ich mir nicht sicher war, ob nicht der Weg das Ziel war.


    Jì Dé lehnte sich von seinem Kamel zu mir herüber. "Willkommen in Cháng'ān, der westlichen Hauptstadt. Das ist meine Heimat. Es gibt größere Städte, aber keine schöneren." Dabei lächelte er und zwinkerte mir zu.


    "Ich erkenne an, dass du hier nicht ganz neutral bist, mein Freund. Aber ich erkenne auch an, dass es eine schöne Stadt zu sein scheint." Nach kurzem Nachdenken musste ich etwas fragen. "Du sagst, es sei die westliche Hauptstadt. Heißt das, ihr habt zwei Hauptstädte?"


    Jì Dé lachte. "Erwischt! Nein, wir haben nur eine, Luòyáng. Aber die ist weiter östlich. Cháng'ān war früher die Hauptstadt. Da war sie wohl auch noch größer, aber das macht nichts. Die Stadt ist immer noch wichtig, du wirst sehen. Willst du hier bleiben? Ich lade dich ein, sei mein Gast."


    Ich verneigte mich leicht. "Ich danke dir für die Ehre, dein Gast sein zu dürfen, und nehme die Einladung mit Freude an."


    Arpan war natürlich auch gemeint, so dass wir beide uns zumindest für die Nacht keine Gedanken um eine Unterkunft machen mussten.


    Vergnügt plaudernd kamen wir beim Stadttor an, wo wir durchsucht wurden und man uns schließlich passieren ließ. Jì Dé schien hier bekannt zu sein und ein wichtiger Kaufmann zu sein. Wir ritten mit unseren Kamelen gemächlich durch die Straßen, vorbei an Garküchen, Geschäften und Tempeln, bis wir schließlich an einem Tor halt machten. Jì Dé öffnete das Tor und wurde kurz darauf herzlich von einer Frau und drei Kindern begrüßt. Auch sein Sohn wurde herzlich empfangen. Er stellte mich und Arpan vor und man begrüßte uns respektvoll mit Verneigungen. Schließlich wies man uns Zimmer zu und ich besprach mit Jì Dé, dass er meine Waren am besten gegen eine Provision verkaufte. Ich versprach mir daraus höhere Erlöse, als wenn ich die Waren und Kamele selbst verkaufen würde.


    Während wir zusammen aßen, klopfte es an das Tor und Soldaten traten ein. Sie erklärten, dass sie der Statthalter von Cháng'ān geschickt hätte, weil er von den Fremden erfahren hätte. Er würde die Fremden gerne kennenlernen und uns zu einer Audienz einladen. Mir war schnell klar, dass es zwar als höfliche Einladung vorgetragen war, sich aber real um einen Befehl handelte. Ich bat nur darum, dass Jì Dé uns begleiten dürfe, um notfalls übersetzen zu können. Der Bitte wurde stattgegeben. Zwar schienen die Soldaten damit gerechnet zu haben, dass wir sofort losziehen würden, doch bestand Jì Dé's Frau darauf, dass wir erst zu Ende essen. Dafür bekamen auch die Soldaten etwas zu essen, was sie wohl dazu brachte, uns die Zeit zu geben.

  • Ohne mich umzuziehen nahm ich mein Schwert und wir begleiteten die Wachen zum alten Kaiserpalast, in dem nun der Statthalter residierte. Von der Stadt, die wir durchquerten, nahm ich nur wenig wahr. Das lag daran, dass ich mir mehr Gedanken darum machte, was für ein Mensch der Statthalter war, aber auch daran, dass es langsam dunkel wurde. Am Haupttor zum Palast wurde ich höflich darum gebeten, mein Schwert abzugeben. Natürlich folgte ich dieser Bitte, kannte ich doch ein ähnliches Vorgehen beim Betreten des Palatins. Wir wurden über einen großen Hof die Stufen hinauf zu einer großen Halle geleitet, wo wir zunächst warten mussten. Jì Dé erklärte uns, wie tief die korrekte Verneigung zu sein hatte und dass wir nur das Wort ergreifen sollten, wenn man uns ansprach. Auch erklärte er uns, dass er selbst noch nie so nah an den Statthalter herankam.


    Schließlich ließ man uns eintreten. Ich ging drei Schritte in die Halleund verneigte mich in der Art, wie es mir Jì Dé gezeigt hatte, so tief, dass mein Oberkörper fast im rechten Winkel zu meinen Beinen war.


    "Statthalter, wir danken für die Ehre Eurer Einladung." Meine Sprache war deutlich und ich hoffte, alles richtig ausgesprochen zu haben. Während ich sprach, verharrte ich in meiner Verbeugung. Es fühlte sich komisch an, sich zu verbeugen, vor allem so tief. Immerhin war ich ein Römer. Aber hier, fernab von Rom und in einer anderen Kultur, erschien es mir dennoch irgendwie richtig.


    "Bitte, tretet vor und erhebt euch." Der Statthalter sprach mit einer tiefen, freundlichen Stimme. Als ich mich wieder aufrichtete, betrachtete ich ihn aufmerksam. Seine dunkle Kleidung schien aus Seide zu sein. Sein Gesicht war schmal und ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen. Sein Bart wurde langsam grau. Seine Haare verbargen sich unter einer dunklen Mütze.


    Nachdem wir ein paar Schritte hervorgetreten waren, stoppten wir drei Schritte vor den Stufen, die zum Thron des Statthalters hinauf führten.


    Der Statthalter betrachtete uns ebenso aufmerksam, wie ich ihn betrachtet hatte. Arpan stand einen Schritt hinter mir, ebenso Jì Dé. Damit war ich dann wohl der Hauptansprechpartner.


    "Gestattet mir, mich vorzustellen, ich bin Liú Jié, ein Verwandter des Sohns des Himmels und der Statthalter dieser Stadt. Ihr dürft mich als 'Prinz Jiénzĭ' ansprechen. Wie darf ich euch nennen?"


    "Es ist mir eine Ehre, Euch kennenzulernen, Prinz Jiénzĭ." Ich verneigte mich noch einmal, nachdem ich diesen Satz gesagt hatte, richtete mich danach aber wieder auf. "Mein Name ist Aulus Iunius Tacitus. Ich bin ein Gelehrter aus Rom, welches ihr Daqín nennt. Zu meiner Rechten seht Ihr meinen Freund Arpan, aus Skythien. Er ist zugleich mein Beschützer. Zu meiner Linken seht Ihr meinen Freund Jì Dé, einen Kaufmann, dem ich auf meiner Reise begegnete. Er war so freundlich, mich zu Euch zu begleiten. Mein Chinesisch ist leider nicht sehr gut. Jì Dé wird deshalb übersetzen, wenn mir die richtigen Wörter nicht einfallen."


    "Aulù Yún Yiù…" Prinz Liú zuckte leicht mit den Schultern. "Ich darf Euch Yún Yiù nennen?"


    Ich lächte höflich. "Gerne."


    Der Prinz nickte kurz. "Euer Freund, Er Pá. Und der Kaufmann Jì Dé, sehr schön, von ihm habe ich bereits gehört. Nun, Yún Yiù, was treibt einen Gelehrten nach Cháng'ān?"


    "Neugier?" Fragte ich, was der Prinz mit einem leichten Grinsen quittierte. "Ganz ehrlich, über die Länder, die Alexander der Große erobert hatte, ist viel bekannt. Aber die enden noch vor Shūlè. Alles, was östlich davon liegt, kennen wir nicht. Wir wissen, dass die Seide von hier kommt. Wir wissen auch, dass manche Gewürze und Aromen von hier kommen. Aber sonst wissen wir nichts, nicht einmal, wie die Menschen hier aussehen. Das musste ich ändern. Wenigstens ich wollte es wissen."


    Der Prinz hörte aufmerksam zu. "Und warum gerade Ihr? Hat Euch Euer Kaiser geschickt? Die Reise ist sicher nicht einfach gewesen. Unser Feldherr Bān Chāo hatte vor einer Generation eine Gesandtschaft nach Westen geschickt, doch kamen sie nur bis in die Nähe der östlichen Küste des Meeres, das sich bis Daqín erstreckt. Sie kehrten um, weil der Weg über das Meer zu lang und zu gefährlich gewesen wäre und die Reise schon sehr lange gedauert hatte."


    "Die Reise hat lange gedauert. Ich war fast ein Jahr lang unterwegs. Es war schwierig, oft gefährlich und sehr anstrengend," bestätigte ich die Vermutung des Prinzen, "doch bin ich kein offizieller Gesandter und nur deshalb unterwegs, weil ich selbst neugierig bin. Ich will mein Wissen aber mit dem Museion in Alexandria teilen. Dort wird dem Gott Apollon und der Musen gedacht und dort habe ich einst einen großen Teil meines Wissens erworben."


    Der Prinz nickte und ich konnte ihm ansehen, dass er mich verstand. "Ihr wollt Eure Lehrer und Eure Götter ehren. Gut, das kann ich befürworten. Habt Ihr bereits von unseren Gelehrten gehört?"


    "Nein, Prinz Jiénzĭ."


    "Das werde ich ändern." Der Prinz winkte einen anderen dunkel gekleideten Mann heran und besprach etwas mit ihm im Flüsterton, so dass ich nichts verstehen konnte. Die Besprechung dauerte länger, als eine einfache Anweisung. Schließlich wandte er sich wieder an mich. "Yún Yiù, Ihr hattet ein Schwert dabei. Dürfte ich es sehen?"


    "Gerne, Prinz Jiénzĭ."


    Er gab ein kaum merkliches Zeichen und man hörte im Hintergrund schnelle Schritte die Halle verlassen. Nach einem Moment kamen wieder schnelle Schritte herein und eine Wache brachte meine Spatha zum Prinzen. Dabei blieb der Soldat so auf den Stufen stehen, dass er das Schwert mit einer Verneigung mit beiden Händen überreichen konnte. Der Prinz nahm es an sich und begutachtete die Scheide und den Griff. Dann sah er mich fragend an, während er den Griff mit seiner Rechten umschloss. Ich nickte ihm zu, woraufhin er meine Spatha zog und die Klinge genau betrachtete. "Eine gute Klinge, möchte ich meinen. Einhändig geführt, von einem einzelnen Krieger. Vielleicht vom Pferd aus. Schade, dass ich an eine Klinge genau dieser Machart hier nicht herankomme. Sie würde sich gut in meiner Sammlung machen. Ihr werdet sie aber auf Euren Reisen benötigen." Er steckte die Spatha zurück in die Scheide und winkte seine Wache wieder herbei.


    Obwohl ich nicht gefragt wurde, ergriff ich das Wort. "Prinz Jiénzĭ, wenn Ihr gestattet, würde ich Euch mein Schwert gerne schenken. Es hat mir gute Dienste geleistet, doch gibt es hier bessere Klingen. Wenn es Euch erfreut und in Eure Sammlung passt, würde ich mich freuen, Euch ein Geschenk machen zu dürfen. Ich werde mir hier eine neue Klinge kaufen."


    Der Prinz sah mich an, während er seiner Wache das Schwert übergab. Schließlich lächelte er kaum merklich. "Ich erlaube Euch, mir dieses Geschenk zu machen und danke Euch. Ich werde mich bei Gelegenheit erkenntlich zeigen."


    Lächelnd verneigte ich mich.


    "Wir hatten ein sehr gutes Gespräch, Yún Yiù. Vielleicht können wir das in Zukunft wiederholen. Seid willkommen in meiner Stadt und studiert gerne, weshalb Ihr herkamt. Wo kann ich Euch finden, wenn ich nach Euch suche?"


    "Er wohnt bei mir," sagte Jì Dé, bevor ich etwas sagen konnte.


    Der Prinz erhob sich von seinem Thron. "Ich danke Euch für Euren Besuch." Dann verließ er den Saal.


    Wir hatten uns wieder verbeugt, als er sich vom Thron erhoben hatte. Nun verließen wir ebenfalls die Halle und den Palast, um zu Jì Dé’s Haus zurückzukehren. Er sah sehr stolz aus.


    "Yún Yiù, hmm?" meinte Jì Dé schließlich. "Mich lässt du mühsam deinen unaussprechlichen Daqín-Namen aussprechen, aber ihm erlaubst du es, dir einen Namen zu geben, den man auch aussprechen kann. Ein schöner Freund bist du!" Dann lachte er herzlich. "Du weißt aber, dass du eben einen mächtigen Freund gewonnen hast, oder? Das Schwert hat ihn sehr gefreut. Er hat es nicht gezeigt, aber ich bin davon überzeugt Er sammelt exotische Waffen und ein Schwert aus Daqín hatte er sicher noch nicht. Wenn ich dir einen Tipp geben darf, kaufe dir kein neues Schwert."


    "Warum?" fragte ich instinktiv.


    "Hast du nicht zugehört? Er will sich bei Gelegenheit erkenntlich zeigen. Das heißt, dass er ein Schwert für dich in Auftrag geben wird."


    "Meinst du?" Ein Blick in das Gesicht meines Freundes zeigte mir aber, dass ich das nicht hinterfragen sollte. Gut, es war seine Kultur, hier kannte er sich aus.


    Im Haus von Jì Dé unterhielten wir uns noch bis spät in die Nacht, bevor ich mich zufrieden zu Bett begab. Mein Freund hatte wirklich gute Betten und ich schlief zum ersten Mal seit meinem Aufbruch richtig gut und bequem.

  • Die nächsten Wochen waren für mich ohne Verpflichtungen, so dass ich mir die Stadt ansehen konnte. Die Stadtmauer war für eine größere Stadt angelegt, doch sorgte der zusätzliche Platz dafür, dass kleinere Parks angelegt werden konnten. Es gab verschiedene Stadtviertel, die zum Teil mit eigenen Mauern eingefasst waren. Diese Mauern waren aber nicht so mächtig wie die Stadtmauern. In der Stadt gab es ein Castrum, in dem sowohl Fußtruppen, als auch Berittene untergebracht waren. Tempel waren oft nur dadurch von größeren Verwaltungsgebäuden zu unterscheiden, weil man entweder durch ein Tor und einen kleinen Garten zu ihnen kam, oder weil man die Bezeichnung lesen konnte - wenn man denn der serischen Schrift mächtig war. Immerhin konnte ich täglich mehr Schriftzeichen lesen und auch mehr Wörter sprechen.


    Es gab auch einen neuen Tempel, der so aussah, als wären mehrere Gebäude aufeinander gestapelt. Dabei war das jeweils höhere Gebäude ein wenig kleiner, als das drunter liegende. Dieser Tempel wurde von den Anhängern des Buddha genutzt. Sie nannten ihn Stupa, was wohl aus der indischen Sprache kam. Die Einheimischen hatten verschiedene Bezeichnungen, doch bei den meisten war es einfach nur 'Tempel' oder 'Tempelturm'. Mein Freund Arpan verbrachte dort viel Zeit, während ich mich vor allem in den Gasthäusern aufhielt, um bei einigen Tassen Tee den Gesprächen der Anwesenden zu lauschen oder mich selbst mit Fremden zu unterhalten. So lernte ich die Sprache. Jì Dé kümmerte sich vor allem um seine geschäfte, so dass er mich nur selten begleitete.


    Inzwischen fiel ich, zumindest, was die Kleidung anbetraf, nicht mehr auf. Jì Dé hatte mich zu einem Schneider gebracht, der mir Kleidung herstellen sollte, die eines Gelehrten würdig war. Anscheinend waren Gelehrte hier hoch angesehen und in der Regel in gut bezahlten Positionen. Das erkannte ich an der Kleidung, die ich erhalten hatte. Zwei Sätze Unterkleidung aus ungefärbter Seide. Jeder Satz bestand aus einer langen Hose mit weiten Beinen, die man oben mit angenähten Bändern festziehen konnte, und einer Jacke mir eng anliegenden Ärmeln. Die Jacke überlappte vorne und wurde zunächst innen mit zwei Bändern fixiert und dann noch einmal außen. Darüber trug ich ein bodenlanges Gewand aus heller Seide mit floralen Stickereien aus blauer Seide. Die Ränder waren blau mit hellen Mustern. Die Ärmel waren weit und ohne entsprechende Ränder. Dieses Gewand wurde ähnlich wie die Jacke fixiert. Hinzu kam aber noch ein handbreiter Gürtel aus recht dickem Stoff, der mit blauer Seide überzogen war, der am Rücken mit Bändern zusammengebunden würde und ebenfalls mit Stickereien, vor allem vorne, verziert war. Dazu kam noch ein zweites Gewand, das ähnlich geschnitten war, aber aus dunkelblauer Seide ohne Verzierungen bestand und mit einem ebenso wenig verzierten Gürtel. Außerdem hatte ich eine Kopfbedeckung aus schwarzer Seide erhalten, die im Prinzip nur eine einfache Kappe war. Komplettiert wurde alles durch drei paar Schuhe aus Seide mit dicken Ledersohlen. Das erste paar war weiß, das zweite dunkelblau und das dritte aus ungefärbter Seide. Dafür war das dritte paar aber zusätzlich mit dickerem Stoff gefüttert. Außerdem hatte ich noch eine weitere, eng anliegende, Hose aus feinem Stoff, der aber keine Seide war, eine entsprechende Jacke als Unterkleidung und ein weiteres Gewand aus dem gleichen Stoff, das aber nicht ganz so lang war, wie die Übergewänder. Diese Kleidungsstücke, die nicht aus Seide waren, sollten im Winter als zusätzliche Kleidungsschichten Wärme spenden.


    Momentan war es aber noch angenehm mild und deshalb keine Winterkleidung nötig. So war ich meistens in der hellen Kleidung unterwegs. Da es doch die am häufigsten von mir getragene Kleidung war, hatte ich die gleiche Kleidung noch einmal bei dem Schneider bestellt, inklusive einem weiteren paar Schuhe.


    Man merkte, dass die Tage und Nächte kühler wurden, doch noch war es angenehm. Stärker bemerkte man den Herbstbeginn durch häufige Regenfälle, die auch mal stärker sein konnten. Hier waren die ausladenden Dächer ziemlich praktisch und wahrscheinlich auch notwendig. Irgendwie gefiel mir die Stadt, zumal Höflichkeit hier sehr wichtig war und alle nicht nur mit mir, sondern auch miteinander, stets sehr respektvoll umgingen. Das war in Rom nicht immer so. Andererseits hatte ich mich hier bisher auch noch nicht in die wirklich schlechten Viertel verirrt. Das wollte ich als komplett in Seide gekleideter Mann aber auch nicht. Seide war hier zwar deutlich günstiger, als in Rom. Dennoch konnten sich auch hier nur Kaufleute, wohlhabendere Handwerker, Beamte und Adlige Seide leisten. Bei den Beamten war ich aber nicht sicher, ob diese ihre Amtskleidung selber bezahlen mussten.


    Da es wieder einmal regnete, suchte ich in einer Taberna Unterschlupf und trank eine Tasse Tee. Als der Regen weniger wurde, kam ein junger Mann auf mich zu und verneigte sich.


    "Ehrenwerter Yún Yiù, mein Meister, Cáo Qiáng, lädt Euch ein, mit ihm über Philosophie zu diskutieren," sprach der junge Mann.


    Da ich inzwischen etwas über die hiesigen Sitten, vor allem der Oberschicht, gelernt hatte, wusste ich, wie ich mich zu verhalten hatte und erwiderte eine leichte Verneigung. "Der ehrenwerte Cáo Qiáng ist sicher ein bedeutender und hochgelehrter Mann. Ich hingegen bin nur ein einfacher Mann, deshalb bitte ich um Verzeihung, doch ich bin der Einladung deines Meisters unwürdig."


    Der junge Mann verneigte sich erneut. "Ehrenwerter Yún Yiù, Ihr seid weit gereist und habt viel von der Welt gesehen. Allein das macht Euch zu einem gefragten Gesprächspartner. Mein Meister wäre hocherfreut, Euch zu sehen."


    Wieder verneigte ich mich leicht. "Junger Herr, weit gereist sind auch viele Händler. Das allein ist kein Verdienst, mit dem es sich geziemte, sich zu schmücken. Euer Meister würde nur seine Zeit mit mir verschwenden."


    Noch einmal verneigte sich der junge Mann. "Eure Bescheidenheit ehrt Euch, Yún Yiù, doch hat mein Meister vernommen, dass Ihr nicht als Händler, sondern als Gelehrter hierher gereist seid. Er wäre geehrt, wenn Ihr Euch mit ihm austauschen würdet. Ich muss Euch deshalb bitten, die Einladung meines Meisters anzunehmen."


    Nun erhob ich mich aus meinem Stuhl und richtete meine Kleidung. "Da ich Euch nicht überzeugen konnte, Eures Meisters unwürdig zu sein und ich weder Euch, noch Euren Meister, beschämen möchte, werde ich seiner Einladung folgen."


    Der junge Mann verneigte sich noch einmal und deutete mir, ihn zu begleiten. Nachdem ich meinen Tee bezahlt hatte, verließen wir zusammen die Taberna.

  • Schließlich erreichten wir das Haus des Cáo Qiáng. Es war bunt bemalt und hatte zur Straße einen Empfangsraum, der größer war als die Wohnung der einfachen Menschen in mancher Insula in Rom. In dem Empfangsraum saß eine bewaffnete Wache hinter einem Schreibtisch, die ein echter Soldat zu sein schien. Über einen Innenhof, der als Garten mit Bäumen und Blumen gestaltet war, gelangten wir schließlich in die eigentliche Empfangshalle. Dort saß ein Mann in seinen Vierzigern an einem Tisch und schien Texte zu verfassen, während mehrere Jugendliche davor auf dem Boden saßen und Texte studierten.


    Der Schüler, der mich begleitete, verneigte sich und ging dann zu dem Mann am Schreibtisch. Dort wartete er, bis dieser das Wort an ihn richtete. Dann flüsterte er kurz etwas und winkte mir dann zu. Ich ging bis kurz vor den Schreibtisch und verneigte mich.


    "Der ehrenwerte Yún Yiù. Danke, dass Ihr meine Einladung angenommen habt. Bitte, setzt Euch."


    Der Schüler brachte schnell ein Kissen, auf dem ich mich niederließ.


    "Ihr seid dann der ehrenwerte Cáo Qiáng, nehme ich an? Es freut mich, Euch kennenzulernen."


    Der Mann hinter dem Schreibtisch verneigte sich. In der Zwischenzeit brachte ein Schüler eine Kanne mit einem Getränk, das ich in Rom schon einmal gekostet hatte. Tee. Dann servierte er auch zwei Tassen aus heller, dünner Keramik und goss in beide Tassen Tee. Zuerst bei seinem Meister, dann bei mir.


    "Prinz Jiénzĭ hat mich über Eure Anwesenheit informiert. Er sagte mir auch, dass Ihr ein Gelehrter seid und hier Euer Wissen erweitern wollt. Ich muss sagen, dass es mich erstaunt, dass Ihr den weiten Weg von Daqín bis hierher auf Euch genommen habt, nur um zu lernen." Cáo Qiáng lächelte dabei höflich, doch merkte ich, dass seine Augen nicht mitlächelten. Er schien mir nicht zu trauen.


    "Nun, wenn Ihr gestattet, mich zu erklären: Ich bin nicht wie alle anderen Menschen. In meiner Familie sind eher außergewöhnliche Menschen. Dort, wo andere das Risiko scheuen, ergreifen wir die Chance, etwas von Bedeutung zu leisten." Während ich sprach, beobachtete ich ihn genau. "Das geht nicht immer gut, aber so ist es eben mit dem Schicksal. Manche warten ein Leben lang darauf, dass ihnen das Schicksal zeigt, was sie zu tun haben. Und andere, so wie ich, ergreifen die Initiative im Vertrauen darauf, dass jede ihrer Handlungen genau die ist, die das Schicksal für sie vorgesehen hat."


    "Aber ist es nicht so, dass man sich seinen Platz nicht selbst erkämpfen soll? Sollte der Edle nicht danach streben, bescheiden zu sein und es anderen zu überlassen, seine Eignung zu erkennen, anstatt die Initiative zu ergreifen?"


    Ich dachte über das Gesagte nach. "Sich selbst in den Vordergrund spielen, ist nicht das, was ein Philosoph anstreben sollte. Doch sich selbst stetig verbessern und immerzu lernen, das ist die wichtigste Eigenschaft des Philosophen. Wenn sein Wissen ohne sein Zutun bekannt wird und seine Dienste von anderen begehrt werden, dann soll das nicht auf seiner Initiative beruhen."


    "Ihr kennt die Schriften von Meister Kǒng?"


    "Nein," sagte ich lächelnd, "aber wenn das eine seiner Aussagen ist, dann scheinen die Lehrer der Stoa und er zum gleichen Ergebnis gekommen zu sein."


    Cáo Qiáng machte sich eine Notiz. "Und was haltet Ihr davon?"


    "Ich denke, dass es natürlich erstrebenswert ist, so viel von der Welt zu verstehen, dass einem automatisch die Aufmerksamkeit der Menschen zuteil wird. Doch manchmal ist es für die Menschen nützlicher, wenn man sich selbst in eine Position bringt, in der Mächtigere auf einen aufmerksam werden und die Fähigkeiten, die man hat, zum Wohle der Menschen einsetzt." Ich pausierte nur kurz, um meinen nächsten Satz zu formulieren. "Doch soll man sich nicht aufdrängen. Wahrgenommen werden bedeutet, sich ins Sichtfeld zu bewegen. Gesehen und erkannt werden muss man von anderen. Das soll man nicht erzwingen."


    Meister Cáo trank einen Schluck Tee und deutete mir, ebenfalls einen Schluck zu nehmen, doch winkte ich höflich ab.


    "Ihr meint also, wenn der Edle sich abseits der Menschen bewegt, so dass sie ihn nicht finden können, ist sein Talent verschwendet?"


    "Nun... nein." Die Frage war schwierig, zumal mein Serisch noch nicht so sattelfest war, dass ich ohne nachzudenken antworten konnte. "Verschwendet ist das falsche Wort. Nicht genutzt ist ein besserer Begriff."


    Cáo deutete wieder an, dass ich von meinem Tee trinken sollte, und ich winkte wieder höflich ab.


    "Ist nicht nutzen denn keine Verschwendung?"


    Während ich nachdachte, wurde meine Mimik zwangsläufig kühl und rational, so dass mein Lächeln verschwand. Meister Cáo schien das zu bemerken, aber mir nicht übel zu nehmen. Und er ließ mir die Zeit, meine Gedanken zu ordnen und die richtigen Worte zu finden. "Wenn ich ein Schwert an die Wand hänge und nicht damit kämpfe, dann nutze ich es nicht. Es ist aber keine Verschwendung. Es gibt eine Zeit der Übung und eine Zeit des Kampfes. Aber es gibt auch eine Zeit, in der man nichts von beidem tut. Das ist aber keine Verschwendung."


    Cáo nickte. "Ich glaube, Euch zu verstehen, Yún Yiù. Verschwendung ist es also nur dann, wenn die rechte Zeit zur Verwendung gekommen wäre, man es dann aber nicht verwendet. So also auch der Edle. Wenn es an der Zeit ist, ihn zu verwenden, soll er zur Verfügung stehen. Doch zu anderer Zeit kann er sich anderen Dingen widmen. Ist es so?"


    Das war jetzt in einem Serisch formuliert, dem ich erstmal folgen können musste. So dauerte es ein wenig, bis ich die Worte erfasste. "Ja, so sehe ich das."


    Cáo Qiáng lächelte. Diesmal war es ein ehrliches Lächeln. Das Eis schien gebrochen. "Ihr seid wahrlich ein Gelehrter. Und was meint Ihr, ist es nicht der rechte Zeitpunkt, einen Tee zu trinken, wenn man beisammen sitzt und über Philosophie diskutiert?"


    Beinahe hätte ich gelacht, doch ich konnte es bei einem Lächeln belassen. So hatte man mir auch noch kein Getränk angeboten. "Dem kann ich nicht widersprechen."


    So hoben wir beide unsere Tassen und jeder trank einen Schluck Tee. Er war bitter und doch aromatisch. Anders als der Tee, den ich in Rom getrunken hatte. Meiner Meinung nach war der Tee hier besser.


    "Über unsere Sitten werden wir wohl nicht reden müssen. Immerhin wisst Ihr genau, dass man am Anfang ablehnt, aber auch nicht zu oft ablehnen soll. Ist das in Eurer Kultur auch üblich?"


    "Nein. Jedenfalls nicht so, wie hier."


    "Erzählt mir von Eurer Kultur. Sie interessiert mich."


    Also erzählte ich ihm von römischer Kultur und Lebensweise. Von Straßen, Theatern, Thermen und Aquädukten. Auch vom Amphitheatern, die ihm jedoch sehr barbarisch erschienen, obwohl ich ihm erklärte, dass Gladiatoren uns die Tugenden von Mut, Kampfkraft und Tapferkeit bis in den Tod vor Augen führten. Dazu erzählte ich ihm von unseren Göttern und wie wir ihnen im Alltag begegneten. Das wurde dann zu einer Diskussion, in der wir die Unterschiede und Gemeinsamkeiten unserer Kulturen herausarbeiteten. Schließlich wurde es so spät, dass ich noch zum Essen eingeladen wurde und wir bei der gemeinsamen Speise weiterdiskutierten, bis es schließlich so spät war, dass Meister Cáo mir ein Gästezimmer anbot, damit ich hier übernachten konnte.


    Am nächsten Morgen diskutierten wir bei einem Frühstück weiter, das hier eine bedeutende Mahlzeit war. Ganz anders, als in Rom. Auch darüber diskutierten wir. Schließlich wurde ich von einem von seinen Schülern zum Haus von Jì Dé gebracht, der bereits am Abend über meine Übernachtung bei Meister Cáo informiert worden war. Zuvor jedoch vereinbarten wir, uns mindestens einmal in der Woche zu treffen, um weiter Wissen auszutauschen.

  • In den nächsten Wochen traf ich mich häufiger mit Cáo Qiáng. Wir diskutierten die Philosophie der Stoa und die Philosophie des Kǒng Fūzǐ. Es gab Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede. Jedoch merkte ich, dass sich hierdurch mein philosophisches Weltbild schärfte. Dinge, die mir bei Kǒng Fūzǐ sinnvoll erschienen, nahm ich in meine Philosophie auf, so dass ich sicher eine recht einmalige Interpretation des Stoizismus annahm. Doch war ja auch das ein Sinn des Reisens. Die Synthese unterschiedlicher Philosophien zu etwas Neuem.


    Neben unseren Diskussionen hatte Meister Cáo einen seiner Schüler damit beauftragt, mir die Kunst des serischen Schwertkampfs beizubringen. Einerseits, weil ich gesagt hatte, dass ich mir hier ein neues Schwert holen würde und er der Meinung war, dass ich damit nicht angemessen umgehen könnte. Andererseits, weil der Umgang nicht nur beim Reisen nützlich wäre, sondern auch, weil nach Cáo Qiángs Meinung die tägliche Übung im Schwertkampf den Geist schulte. Es sollte mir helfen, mich zu konzentrieren und über Dinge nachzudenken, während ich gleichzeitig etwas Nützliches machte. Die Idee war gar nicht dumm und ich merkte bei den Übungen schnell, dass die serischen Schwerter vor allem zum Schneiden und Stechen genutzt wurden und Hiebe nicht wirklich zu dem Kampfstil der Serer passten. Das hölzerne Übungsschwert war recht schwer geraten, hatte aber einen sehr komfortablen Schwerpunkt nah am Heft. So konnte man die Waffe sehr kontrolliert führen. Mich überraschte auch die Eleganz und Sparsamkeit der Bewegungen, die vor allem darauf abzielten, die Klinge des Gegner mit minimalem Aufwand abzulenken und dann schnell und präzise einen Gegenangriff zu führen, so lange der Gegner verwundbar war. Ich würde noch viel üben müssen, aber ich hatte einen guten Lehrer.


    So übte ich jeden Tag bis zum Mittag den Schwertkampf, während ich Nachmittags mein Serisch verbesserte und die Schriften studierte, die mir Cáo Qiáng zur Verfügung stellte. Zunächst war eine Buchreihe mit dem Namen Lǐjì das Ziel meiner Studien. Hier ging es um Riten, Verhaltensweisen und Hofzeremonien. Ein paar der Riten kannte ich bereits, andere waren mir neu. Ich lernte aber auch sehr viel darüber, stets das rechte Maß zu wahren. Das schien überhaupt bei den Serern sehr wichtig zu sein: Weder zu viel, noch zu wenig. Stets das Maß der Mitte finden. Durch diese Regeln sollte Ordnung in der Gesellschaft erhalten werden. Aus der Ordnung sollte eine gute Gesinnung entstehen und aus der guten Gesinnung ein guter Staat. Die Idee war durchaus logisch nachvollziehbar. Zumal auch die Staatsführung den Regeln unterworfen war und sich ebenfalls daran halten sollte. Führung durch Vorbild. Danach erhielt ich ein Buch mit dem Namen Lún Yǔ, welches Gespräche des Kǒng Fūzǐ mit seinen Schülern enthielt. Auch dieses studierte ich eifrig.


    Durch das Studium der Schriften erkannte ich, dass diese Philosophie auf fünf Grundtugenden basierte: Menschlichkeit, Gerechtigkeit, Sittlichkeit, Weisheit und Aufrichtigkeit. Ich erkannte hierin die Tugenden der Humantitas, Iustitia, Pietas, Honestas und teilweise Industria und Providentia wieder. Aus diesen Tugenden wurden drei Pflichten abgeleitet: Loyalität, vor allem gegenüber Höhergestellten, Folgsamkeit und Respekt gegenüber den Eltern, sowie die Wahrung von Anstand und Sitte. Dieses Moralgebilde sollte dann von unten nach oben wirken. Wenn sich jeder einzelne moralisch verhielt, wäre die Familie in Harmonie. Aus harmonischen Familien folgten harmonische Gemeinden, aus harmonischen Gemeinden harmonische Provinzen, aus harmonischen Provinzen ein harmonisches Reich, aus harmonischen Reichen eine harmonische Welt. Dieses Ganze sollte der Mensch stets erkennen und deshalb in all seinem Handeln das Wohl der ganzen Welt im Auge behalten. Das war nicht gerade wenig, was hier gefordert wurde, doch entsprach es dem, was mich der Stoizismus gelehrt hatte. Nur die Grundlagen unterschieden sich, doch die Konsequenzen waren sehr ähnlich. Teilweise erschienen mir die Konsequenzen hier auch radikaler, als im Stoizismus.


    Während ich mich den Studien widmete und mindestens so viel Zeit bei Cáo Qiáng verbrachte, wie bei Jì Dé, verbrachte Arpan nun die meiste Zeit im Tempel der Buddhisten. Es schien ihm einen inneren Frieden zu geben, den er anscheinend gesucht hatte, seit er die Arena als befreiter Gladiator verlassen hatte. Vielleicht hatte das Töten bei ihm Spuren hinterlassen, die er nun zu korrigieren strebte. Ich freute mich für ihn, wenn es ihn zu einem zufriedeneren Menschen machte.

  • Inzwischen war der Winter eingebrochen. Es gab kaum noch Niederschläge, doch wehte hin und wieder ein eisiger Wind. Obwohl die Temperaturen gar nicht so kalt waren, schienen sie durch den Wind deutlich kälter. Leichten Frost gab es dennoch. Und hin und wieder fielen ein paar Schneeflocken. Inzwischen sprach ich ein recht gutes Serisch und beherrschte auch die lokalen Sitten. Wäre nicht mein römisches Gesicht, würde ich wohl von den meisten hier als einer aus dem Reich Hán akzeptiert.


    Cáo Qiáng ließ mir auch Buch um Buch bringen, damit ich studieren konnte. Und ich las die Bücher nicht nur, sondern schrieb sie auch ab. So, wie die Originale, waren auch meine Abschriften auf Bambusstreifen geschrieben, die zusammengebunden wurden. Meine persönlichen Notizen aber schrieb ich auf etwas, das ich erst hierkennengelernt hatte. Es war ein Material, das eine seltsam weiche Haptik hatte, dem Pergament ähnlich, und doch anders. Es war weich und leicht gelblich. Das Material wurde aus Pflanzenfasern und wohl auch oft mit zusätzlichen Seidenfasern hergestellt und der Legende nach sollte es dem Material nachempfunden worden sein, aus dem Wespen ihre Nester bauten. Das Verfahren zur Herstellung hatte wohl ein Gelehrter den Wespen abgeschaut und verbessert. Man nannte dieses Material Zhōngguózhǐ, doch in meinen lateinischen Aufzeichnungen nannte ich es 'Papyrus sericus'.


    Die lokalen Speisen gefielen mir sehr gut, doch hielt ich mich zurück. Ich war ganz froh, dass ich auf der Reise abgenommen hatte und nun eher drahtig war. Das sah deutlich besser aus als mein leicht fülliges Selbst vor der Abreise. Die hiesige Kleidung gefiel mir auch zunehmend besser, da ich mich inzwischen daran gewöhnt hatte. Was ich wirklich vermisste, waren die Thermen. Natürlich badete man hier auch, aber zu Hause, im Privaten. Die Geselligkeit der Thermen mit den unzähligen Möglichkeiten, Kontakte zu knüpfen, fehlte hier. Zwar konnte man auch in den Tabernae neue Menschen treffen, aber man nahm hier eben nicht so einfach Kontakte auf, wie in der ungezwungenen Atmosphäre der Thermen. Auch Theateraufführungen gab es nicht, so dass ich mich mit den Diskussionsrunden mit meinen Freunden zufriedengeben musste. Eine Ausnahme bestand in der Musik, die auf mir fremden Instrumenten gespielt wurde und in den Tabernae zur Unterhaltung beitrug. Das war nun anders, als in Rom, aber dennoch eine erfreuliche Bereicherung des Alltags. Meine Hauptbeschäftigung war aber weiterhin das Studieren der Texte, direkt gefolgt von den Übungen mit dem Schwert.

  • Der Winter neigte sich langsam seinem Ende. Die Tage wurden wärmer und einige Nächte waren ohne Frost. An den ersten Pflanzen bildeten sich auch langsam Knospen. Ich selbst saß wieder bei Meister Cáo und diskutierte mit ihm und seinen Schülern über Philosophie. Die Diskussion wurde aber jäh unterbrochen, als Soldaten den Raum betraten und ein Spalier an der Tür bildeten. Wir standen alle auf und wendeten uns der Tür zu. Schließlich betrat ein schwarz gekleideter Mann den Raum. Die Attribute seiner Kleidung zeigten, dass er ein Beamter mittleren Ranges war. Er rief mit klarer Stimme, dass wir uns vor dem ehrenwerten Statthalter zu verneigen hätten. Ohne zu zögern verneigten wir uns alle in Richtung Tür, inklusive mir selbst.


    Ich die Schritte einiger Personen, die den Raum betraten, und schließlich die Stimme von Prinz Jiénzĭ. "Ich danke für Eure Ehrerbietung, bitte erhebt Euch."


    Nachdem wir alle aufrecht standen, sah ich, dass der Prinz von Soldaten begleitet wurde. Einer der Soldaten hielt ein serisches Schwert in beiden Händen, welches ihm nicht zu gehören schien. Auf ein Zeichen des Prinzen ging er auf mich zu und verneigte sich zwei Armlängen von mir entfernt, wobei er seine Arme leicht ausstreckte, so dass er mir das Schwert präsentierte. Während er das tat, sprach Prinz Jiénzĭ. "Yún Yiù, Ihr habt mir mit Eurem Schwert eine große Freude gemacht. Bitte gestattet mir, Euch mit diesem bescheidenen Erzeugnis unserer Schmiedekunst ebenfalls eine Freude zu machen."


    Ich verneigte mich kurz und betrachtete die Waffe in den Händen des Soldaten, der starr wie eine Statue dastand. Griff und Scheide waren aus Rosenholz gefertigt. Knauf und Heft waren aus Bronze. Der Knauf war schlicht gehalten, während das Heft zwar eher klein war und die Hand nicht schützen konnte, aber ein Relief hatte, welches auf jeder Seite einen Tiger zeigte. Die Tiger hatten Augen aus Smaragden. Die Scheide war direkt am Heft mit einem bronzenen Relief, welches dein Rautenmuster zeigte, versehen und einmal ganz die Scheide umschloss. Ich vermutete, dass es dazu diente, das Holz zu schonen. Das nächste umlaufende Relief aus Bronze war etwa zweieinhalb palmi weiter und zeigte ebenfalls ein Rautenmuster. An ihrer Spitze war die Scheide komplett mit glatter Bronze verkleidet. Es war, bis auf die Tiger, eine schlichte, aber elegante Arbeit. Erneut verneigte ich mich und sprach. "Prinz Jiénzĭ, ich danke für die Ehre, doch lag es nicht in meiner Absicht, Euch zu einem Gegengeschenk zu nötigen. Das wäre zu viel, um es anzunehmen."


    "Yún Yiù, Ihr habt mich zu nichts veranlasst. Ich beschenke Euch, weil es mir so gefällt. Außerdem habt Ihr noch nicht alles gesehen und vielleicht ist es ja gar kein so gutes Geschenk."


    Das wagte ich zwar zu bezweifeln, aber ich erkannte den Hinweis. So ergriff ich mit einer leichten Verneigung mit beiden Händen das Schwert. Daraufhin ließ der Soldat los und ging ein paar Schritte zurück. Mich wieder aufrichtend betrachtete ich das Schwert genau. Mit der Spitze auf den Boden gestellt würde der Knauf etwas oberhalb meines Bauchnabels sein. Die Länge war perfekt. Ich zog die Waffe. Sie lag sehr gut in der Hand, der Schwerpunkt war nah am Heft. Trotz der eher schmalen Klinge war das Gewicht insgesamt mit einer Spatha vergleichbar. Allerdings lag das Schwert, das ich nun hielt, viel besser in den Händen. Mit Ausnahme der Schneiden, die etwa einen Viertel digitus breit waren, war mit feinem Golddraht ein Rautenmuster eingelassen. Zu wenig, um die Stabilität der Klinge zu beeinflussen, aber erkennbar genug, um die Klinge sehr ästhetisch aussehen zu lassen. Es war ein Kunstwerk, das zugleich auch kampftauglich zu sein schien. Ich verneigte mich erneut. "Ich kann das unmöglich annehmen. Diese Arbeit ist viel zu wertvoll für einen einfachen Gelehrten, wie ich es bin."


    Nun sprach Prinz Jiénzĭ mit strenger Stimme. "Da Ihr mir keine andere Wahl lasst, befehle ich Euch, mein Geschenk anzunehmen."


    Kurz sah ich auf, um mich dann tief zu verneigen. "Es ist mir eine Freude, Eurem Befehl zu folgen. Ich danke Euch, Prinz Jiénzĭ." Tatsächlich hatte ich hier noch nicht erlebt, dass man die Annahme eines Geschenks befahl. Aber vielleicht wollte er sicher gehen, dass ich kein gutes Argument der Ablehnung finden konnte. Während ich weiter verneigt dastand, hörte ich wieder Schritte, die nun den Raum verließen. Als ich mich erhob, war der Prinz mit seinem Gefolge gegangen.


    Meister Cáo kam auf mich zu. "Das ist eine bemerkenswerte Klinge. Ich schlage vor, dass Ihr künftig nur noch damit übt, mein Freund. Es wird Euch bei Zeremonien schmücken und bei Euren Reisen beschützen." Dabei lächelte er freundlich.


    "Das denke ich auch."


    "Nun gut, nachdem der Meister Jién gegangen ist, können wir uns wieder unserer Diskussion widmen. Wo waren wir stehengeblieben?"


    Ein Schüler fasste den Diskussionsstand zusammen und wir kamen schließlich ein ganzes Stück weiter auf dem Weg der Wahrheitsfindung. Als ich mich schließlich abends zurück zum Haus von Jì Dé begab, fiel ihm sofort die Waffe in meinem Gürtel auf. Ich musste sie ihm natürlich sofort zeigen und er wies mich darauf hin, dass er mir ja nach der Audienz gesagt hatte, dass mir der Prinz ein Schwert schmieden lassen würde. Zur Feier des Tages lud ich meinen Freund und seine Familie zum Essen in eines der besten Gasthäuser ein. Genug Erlöse aus meinen Waren hatte ich dabei. Auch Arpan wurde mit eingeladen, ebenso wie Cáo Qiáng. Cáo lehnte erwartungsgemäß ab, da er noch eine Empfehlung für den Prinzen verfassen musste. So war ich mit meinen engsten Freunden essen und hatte einen guten Ausklang für den Tag.

  • Wenige Wochen später hatte ich ein Einladung von Prinz Jiénzĭ erhalten. Sie führte explizit auf, dass ich zum Tee in den Winterpavillon eingeladen sei. Nachdem ich mich bei Meister Cáo erkundet hatte, was man dazu anziehen sollte, kleidete ich mich in hellen Gewändern. Die Einladung war wohl privat gemeint. Meister Cáo war ebenfalls eingeladen. Ein Schwert nahm ich nicht mit, wohl aber ein kleines Geschenk. Ich hatte eine kurze Zusammenfassung der Politiká des Aristoteles in serischer Sprache verfasst. Das war einerseits eine gute Übung in dieser Sprache, andererseits hoffte ich, ihm so etwas für ihn Neues zu schenken.


    Nach der üblichen Durchsuchung wurde ich in einen 'Garten' geführt. Das Wort war eine Untertreibung. Es war ein Park mit einem kleinen Bachlauf und einigen Teichen. An einem dieser Teiche stand ein Pavillon, zu dem ich geführt wurde. Als ich diesen betrat, erblickte ich Meister Cáo und verneigte mich, was dieser erwiderte. Kurz darauf betrat auch Prinz Jiénzĭ den Pavillon. Wir verneigten uns ordnungsgemäß und überreichten unsere Geschenke, dann deutete der Prinz uns, dass wir uns auf den Seidenkissen setzen könnten. Er selbst ignorierte den kleinen Thron und setzte sich ebenfalls auf ein Seidenkissen.

    "Cáozĭ, Yúnzĭ, ich danke Euch für die Ehre, dass Ihr meiner Einladung gefolgt seid. Ich habe etwas Zeit und wünsche deshalb, mit Euch über Philosophie zu diskutieren. Ich wünsche keine Titel, sondern ein Gespräch zwischen Meistern, in dem jeder ehrlich und unverstellt seine Meinung nennt."


    Während er sprach, brachten Diener Tassen und schenkten uns Tee ein.


    Für mich war das sehr ungewöhnlich. Nachdem ich diese streng geordnete Gesellschaft immer besser verstand, überraschte mich der Prinz jetzt. Während ich noch grübelte, entrollte der Prinz mein Geschenk und überflog es. "Ah, Staatstheorie. Wollen wir hierüber diskutieren?"


    "Warum nicht?" sagte Cáozĭ.


    Auch ich hatte nichts dagegen einzuwenden. So sprach wieder Jiénzĭ. "Nun, dann schlage ich folgendes Thema vor: Was macht einen guten Herrscher aus?"


    "Wenn Ihr gestattet, würde ich hier direkt mit einer Frage einhaken: Einen guten Herrscher welcher Staatsform?"


    Nun sahen mich beide fragend an. "Könnt Ihr das erläutern, Yúnzĭ?" fragte Cáozĭ.


    Es war ungewohnt und ehrte mich, dass beide mich als Meister ansprachen. So musste ich mich zusammenreißen, nicht fröhlich lächelnd hier zu sitzen, sondern lediglich höflich und sanft zu lächeln. "Gerne, Cáozĭ. Nach meiner Kenntnis gibt es sechs reine Staatsformen, die aber in dieser Reinheit nur selten auftreten. Es gibt zwei Staatsformen, in denen ein einzelner Herrscher alleine entscheidet. Diese sind die Monarchie und die Tyrannei. Dann gibt es..."


    "Entschuldigt, mein Freund, aber wie unterscheiden sich diese? Warum zwei Staatsformen, die doch letztlich das Gleiche beschreiben: Die Herrschaft eines einzelnen?"


    "Weil sie nicht gleich sind." Ich lächelte höflich und erklärte. "Bei der Monarchie herrscht der einzelne zum Wohle der Allgemeinheit. Bei der Tyrannei herrscht der einzelne nur zum eigenen Wohle."


    "Dann ist die Tyrannei eine schlechte Staatsform," sagte nun Jiénzĭ, "denn sie stört die Harmonie und die Ordnung. Der Herrscher muss das Mandat des Himmels innehaben. Das erhält er aber nur, indem er mit Tugend und Sittlichkeit herrscht. Herrscht er aber mit Tugend und Sittlichkeit, stellt er sich selbst hintenan und nützt dem Volk. Der Herrscher muss deshalb menschlich und gerecht sein, oder er wird das Mandat des Himmels verlieren. Ohne Mandat des Himmels aber darf er vom Volk gestürzt werden und das Volk darf sich einen besseren Herrscher suchen."


    Diese Einstellung zur Herrschaft erstaunte mich, doch das zustimmende Nicken von Cáozĭ zeigte mir, dass es wohl eine konsensfähige Einstellung war. Während ich nachdachte, erkannte ich, dass es sich hier um einen Kern der Lehren des Meisters Kǒng handelte. Ich hatte es bisher nicht erkannt, doch nun wurde es mir klar. Die Ordnung wächst von unten nach oben, und der Höchste hat die meiste Verantwortung, die gesamte Ordnung aufrecht zu erhalten, damit alle eine vollkommenes Leben erreichen können.


    "Yúnzĭ? Könnt Ihr Jiénzĭ folgen?" fragte Cáozĭ.


    "Ja, ja, das kann ich. Mir ist nur gerade etwas Wichtiges klar geworden."


    "Und das wäre?"


    "Was Ihr gerade beschrieben habt, ist die perfekte Monarchie."


    Jiénzĭ verneigte sich leicht, bevor ich weiter dozierte. "Doch gibt es nicht nur diese Staatsformen. Es gibt auch die Aristokratie, bei der eine Gruppe von Menschen, die von den anderen Menschen dadurch hervorgehoben werden, dass sie in mindestens einer Eigenschaft besser sind. Es können Adlige sein, weil sie eine bessere Geburt hatten. Es können aber auch reiche Menschen sein, weil sie bessere Kaufleute sind."


    Jiénzĭ beugte sich vor und lächelte. "Oder Gelehrte, weil sie eine höhere Bildung haben?"


    Nun verneigte ich mich kurz. "Ganz genau. Tatsächlich hat Plátōn den idealen Staat als ein Gebilde gesehen, das von Gelehrten regiert wird. Dabei ist aber nicht ganz klar, ob es sich um eine Gruppe oder einen einzelnen handeln soll."


    "Der einzelne hat den Vorteil der schnelleren Entscheidung, doch die Gruppe hat den Vorteil der Diskussion einer Entscheidung."


    "Doch kann eine Diskussion auch zu einem nachteiligen Ergebnis führen, wenn sich jemand durchsetzt, der auf einem Irrweg ist."


    "Das kann aber auch bei einem einzelnen passieren."


    "Wohl wahr. Nun, Yúnzĭ, und wie sorgen die Herrscher in einer Aristokratie für das Allgemeinwohl?"


    Da war ich also wieder gefragt. "Danke für die Frage, Cáozĭ." Der Angesprochene verneigte sich kurz, dann sprach ich weiter. "Es ist doch so, dass sie ihre herausgehobene Stellung nutzen, um das, was sie auszeichnet, zum Vorteil der Menschen zu nutzen und die Menschen zu motivieren, ihnen nachzueifern. Ein Gelehrter wird dafür sorgen, dass gerechte Gesetze entstehen und den Menschen Bildung ermöglicht wird, ein reicher Kaufmann wird dafür sorgen, dass unternehmerischer Mut ausgezeichnet wird und alle gut bezahlt werden, der Adlige wird dafür sorgen, dass alle ein gutes Einkommen aus dem Land erhalten und die Menschen bei entsprechender Leistung selbst in den Adelsstand aufsteigen können."


    Cáozĭ lächelte. "Ich danke für Eure Erläuterungen, mein Freund, und stimme Euch zu. Und wie nennt Ihr den Staat, in dem die Elite nur an sich selbst denkt?"


    "Oligarchie."


    Nun meldete sich Jiénzĭ wieder zu Wort. "Ich glaube, eine Systematik zu erkennen. Zuerst ein einzelner, dann eine Gruppe, als letzte Ebene muss dann die Gesamtheit folgen, also das ganze Volk."


    Ich lächelte und verneigte mich kurz. "Korrekt. Doch gibt es auch hier zwei Formen. Es gibt die Demokratie, bei der schon wegen seiner Menge der ungebildete Pöbel die Herrschaft ausübt. Das führt aber dazu, dass den Leistungsträgern genommen wird und unter den Besitzlosen aller Besitz verteilt wird, ohne dass es zu einer Verbesserung der Gesellschaft kommt. Und dann gibt es die Politie. Diese schafft einen gerechten Ausgleich zwischen den Besitzenden und den Besitzlosen, zwischen den Eliten und dem einfachen Volk. Sie funktioniert, indem die Ämter der Herrschaft von denen besetzt werden, die in der Mitte der Gesellschaft sind. Weder reich, noch arm. Weder extrem gebildet, noch extrem ungebildet. Denn wer Maß und Mitte in allem hält, der ist ausgeglichen, gerecht, menschlich und tugendhaft. Die Ämter werden nur auf Zeit besetzt und vom ganzen Volk gewählt. Gesetze werden von den Amtsinhabern vorgeschlagen und durch das ganze Volk bestätigt, wobei die Eliten genauso viele Stimmen haben sollten, wie der Rest."


    "Das hört sich für mich sehr kompliziert an," gab Cáozĭ zu bedenken.


    "Es ist auch kompliziert. Dennoch hat Aristotélēs diese Staatsform als die beste angesehen."


    Jiénzĭ sah nicht überzeugt aus. "Yúnzĭ, ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass so eine Staatsform geeignet ist, um ein großes Reich zu regieren."


    Da hatte er einen validen Punkt. "Nun, die Lehre der sechs Staatsformen wurde für Stadtstaaten entwickelt. Und selbst dort wird man oft Mischformen antreffen."


    "Und welche Staatsform hat Dàqín?"


    Das war gar nicht so einfach zu beantworten. "Naja... ursprünglich war es eine Mischform aus Politie und Aristokratie. Jetzt hingegen ist es eher eine Mischform aus Monarchie und Aristokratie, obwohl die ursprüngliche Verfassung sich offiziell nicht geändert hat."


    "Die ursprüngliche Form verstehe ich ja, aber wie soll die jetzige Form aussehen? Ich kann mir das nicht vorstellen."


    Ich versuchte, es zu erklären. "Wir haben zusätzlich zur ursprünglichen Form einen einzelnen Herrscher hinzugefügt. Der kann auch ohne die Amtsträger Gesetze erlassen, für Ordnung sorgen und schlechte Entscheidungen der Amtsträger zurücknehmen. Dafür haben wir die Volksabstimmungen schon ewig nicht mehr durchgeführt. Trotzdem ist die Herrschaft zum Nutzen des Volkes."


    "Ah, jetzt verstehe ich," sagte Cáozĭ.


    "Und die Aristokraten werden vom, sagen wir, Kaiser, ernannt?"


    "Ja und nein. Ernannt ja, aber zuvor werden sie von den anderen Amtsträgern gewählt. Und sie müssen auch beim Volk zustimmungsfähig sein."


    "Ihr habt also ein sehr kompliziertes System vereinfacht, indem es immer noch kompliziert ist, aber notfalls ein Einzelherrscher dafür sorgen kann, dass irgendwann eine Entscheidung getroffen wird und alle Interessen gewahrt werden?" Jiénzĭ lachte.


    Das hatte er recht gut auf den Punkt gebracht. "Im Prinzip ja. Und wie ist die Regierung in Hàn aufgebaut?"


    "Sehr einfach. Der Sohn des Himmels herrscht."


    "Das ist so nicht ganz richtig, Jiénzĭ," sprach Cáozĭ. "Der Sohn des Himmels steht dem Staat vor und sorgt dafür, dass Tugend und Gerechtigkeit herrschen. Aber er herrscht nicht allein. Er ernennt Gelehrte zu Beamten, die sich um die Regierungsgeschäfte kümmern. Dazu wählt er die höchsten Beamten aus, die zugleich auch die fähigsten Beamten sein sollen. Die wiederum wählen die nächsthöchsten Beamten aus und so weiter. Es mögen zwar häufig auch Adlige Beamte werden, aber das liegt darin, dass Adlige sich es öfter leisten können, zu lernen anstatt zu arbeiten."


    "Ihr habt also einen Beamtenstaat mit einem Kaiser als Oberhaupt?"


    "Ja, aber der Kaiser erbt die Herrschaft."


    Nun sprach wieder der Prinz. "Er kann sie aber auch für sich und seine Nachkommen verlieren, wenn er das Mandat des Himmels verliert."


    "Indem er ein Tyrann ist und kein Monarch?"


    "Ja. Indem er unmenschlich ist, ohne Tugend und ohne Gerechtigkeit."


    Ich trank meinen Tee. Das war doch eine sehr fordernde Diskussion gewesen. Mein Serisch war zwar ziemlich gut geworden, aber auf dem Niveau musste ich viel überlegen, um die Worte zu verstehen und selbst zu formulieren.


    "Ist Euch eigentlich aufgefallen, dass wir über Staatsformen diskutiert haben und dabei zugleich festgestellt haben, was gute Herrscher ausmacht?" Cáozĭ trank nun auch seinen Tee, während Jiénzĭ und ich ihm zustimmten.


    Mir war noch etwas aufgefallen. "Was ich besonders interessant finde, ist, dass sowohl hier als auch in meiner Heimat, die tausende Meilen entfernt ist, Philosophen auf sehr ähnliche Eigenschaften eines guten Herrschers gekommen sind."


    "Das scheint mir das natürliche Ergebnis zu sein. Wenn die Natur eines guten Herrschers so zu sein hat, dann wird sie überall so sein. Wie im Osten, so im Westen."


    Auf einen Wink von Jiénzĭ betraten Diener den Raum und brachten jedem einen Glasbecher, der nur zu einem kleinen Teil mit einer scharf nach Alkohol riechenden Flüssigkeit gefüllt war. Ich betrachtete den Becher neugierig. Das sah doch aus wie...


    "Becher aus Dàqín," sagte Jiénzĭ und hob seinen Becher, was wir ihm gleichtaten. "Ich dachte mir, Ihr freut Euch, etwas aus Eurer Heimat zu sehen, Yúnzĭ."


    Ich hätte nicht gedacht, dass Glas so weit gehandelt wurde. Und im Nachhinein hätte ich vielleicht auch eine Ladung Glas mitnehmen sollen. Das war hier sicher teuer.


    Wir leerten unsere Becher in einem Zug, was ziemlich im Rachen brannte.


    "Jiénzĭ, darf ich Euch um einen Gefallen bitten?" fragte ich, während die Diener die Gläser wieder füllten.


    "Wenn es nicht unangemessen ist, gerne," erwiderte der Prinz.


    "Für die Aussprache meines Namens gibt es mehr als eine Schreibweise. Wie würdet Ihr ihn schreiben?"


    Der Prinz hob seinen Becher, woraufhin wir unsere ebenfalls hoben und alle die Gläser leerten. Dann ließ er sich Papier und einen Pinsel bringen und kalligraphierte meinen Namen.


    云玉



    Ich betrachtete die Kalligraphie. "Wolke und Jade?"


    Jiénzĭ lächelte. "Ihr seid wie eine Wolke, über alle Länder von West bis Ost ziehend, und im Versuch, alles zu überblicken. Doch vergesst dabei nicht, im großen Ganzen auch die Details zu sehen. Und Euer Verstand ist kostbar und rein wie Jade. Doch bedenkt stets, dass die Welt und die Menschen nicht immer rein sind und man am Boden auch mit Schmutz rechnen muss. Betrachtet diese Kalligraphie als Geschenk. Sie möge Euch stets darin erinnern, wer und was ihr seid. Glaubt mir, ich habe eine gute Menschenkenntnis."


    Ich nahm die Kalligraphie an mich und verneigte mich tief. "Ich danke Euch, Jiénzĭ."


    Den Rest des Nachmittags verbrachten wir damit, tiefer in die Details der Staatsformen und der idealen Herrscher nach westlicher und östlicher Auffassung zu gehen. Und wir tranken neben Tee auch immer wieder von dem Schnaps, auch wenn der ein echt furchtbares Gebräu war. Der Stimmung tat das keinen Abbruch, doch war ich auch froh, als wir uns abends voneinander verabschiedeten und nach Hause gingen.

  • In den nächsten Wochen nahm der Frühling immer mehr an Intensität zu und überall sprießten gründe Blätter und bunte Blüten. Man sah den Gärten und Parks an, dass sie harmonisch gestaltet wurden, so dass die Pflanzen zu jeder Jahreszeit ein harmonisches Gesamtbild ergaben. Ich kannte zwar nur den Winter und jetzt auch den Frühling, aber ich war mir sicher, dass ich im Rest des Jahres die Vermutung bestätigt finden würde.


    So, wie der Frühling die Erscheinung der Welt um mich herum änderte, so hatte das Treffen im Winterpavillon meinen Status geändert. Offensichtlich hatte sich herumgesprochen, dass ich von den beiden Meistern Jiénzĭ und Cáozĭ als einer der ihren anerkannt wurde, den inzwischen verneigte sich fast jeder vor mir, wenn er mich erkannte. Das ehrte mich, machte aber die Wege aufwändiger, weil ich natürlich die Verneigung erwiderte. Allerdings achtete ich darauf, mich weniger stark zu verneigen, als mein Gegenüber es tat. Gegenüber Adligen, Soldaten und Beamten hingegen verneigte ich mich dem Rang entsprechend.


    Jì Dé war zwischenzeitlich damit beschäftigt, von den Handelserlösen bereits schrittweise Waren zu kaufen, die ich auf meiner Rückreise zu Geld machen konnte. Vor allem Rohseide sollte er kaufen, sowie einige Gegenstände aus lackiertem Holz. Davon versprach ich mir die größten Gewinne in Rom und auf dem Weg dorthin.


    Da es ein sonniger Tag war, beschloss ich, diesen in einem Park zu verbringen. So setzte ich mich auf eine steinerne Bank und blickte auf den Teich, in dem sich die Blüten der Blumen und Bäume spiegelten. Ein Reiher stolzierte am Ufer entlang und suchte nach Fischen. In der Luft flogen ein paar mir fremde Singvögel, die sich hin und wieder auf Bäumen niederließen und zwitschernd ihr Revier behaupteten.


    Während ich so da saß, setzte sich jemand neben mich. Es war Cáozĭ. "Ein schöner Anblick, nicht wahr, Yúnzĭ?"


    "Da habt Ihr recht, mein Freund," erwiderte ich mit einem höflichen Lächeln. "Was treibt Euch hierher?"


    "Ein Spaziergang, um meine Gedanken zu ordnen. Hier gibt es zwar mehr als einen großen Garten, doch dieser ist der schönste."


    "Dem kann ich nur zustimmen."


    Wir saßen so eine ganze Weile nebeneinander und erfreuten uns am Anblick der fast perfekten Idylle. Schließlich erhob sich Cáozĭ, was mich dazu veranlasste, mich ebenfalls zu erheben.


    "Ich danke Euch für Eure Gesellschaft, Yúnzĭ," sprach mein Freund und verneigte sich leicht.


    Nun verneigte ich mich ebenfalls. "Der Dank gebührt Euch, Cáozĭ. Eure Anwesenheit hat mir die Zeit kurz und froh gemacht."


    Cáozĭ lächelte. "Unsere Diskussion mit Prinz Jiénzĭ hat Euch ebenfalls erfreut?"


    "Vor allem war sie sehr lehrreich. Und mich erfreut es stets, etwas zu lernen."


    "Dann würdet Ihr für einen weiteren Diskussionsnachmittag zur Verfügung stehen?"


    Ich verneigte mich leicht. "Mit Euch und Jiénzĭ jederzeit."


    Cáozĭ nickte kurz. "Dann werdet Ihr in Kürze eine Einladung erhalten. Ich muss nur noch abklären, wann Prinz Jiénzĭ Zeit findet. Wir werden dann bei mir diskutieren und meine Schüler sollen anwesend sein und lernen."


    "Dann freut es mich, wenn ich hoffentlich etwas zum Erkenntnisgewinn Eurer Schüler beitragen kann."


    "Das könnt Ihr ganz sicher." Cáozĭ verneigte sich noch einmal leicht. "Bis bald, mein Freund."


    "Bis bald," erwiderte ich und verneigte mich ebenfalls. Ich wachte noch einen Moment über ihn, um mich dann kurz umzusehen, um zu entscheiden, in welchen Teil des Parks ich als nächstes gehen würde. Dabei nahm ich die respektvollen Blicke der umgebenden Personen wahr. Ja, ich gehörte nun irgendwie zur Oberschicht. In Rom war ich zwar ein erfolgreicher Jurist, aber letztlich doch nur ein einfacher Plebejer. Hier war ich ein gelehrter Meister, der allein wegen dieser Eigenschaft bereits hoch geachtet war, vergleichbar einem Eques in Rom. Die beiden Reiche waren doch sehr verschieden. Materieller Besitz schien hier weniger Bedeutung zu haben, als in Rom. Dafür war die philosophische Bildung sehr entscheidend für den Aufstieg.

  • Die angekündigte Einladung kam zwei Wochen später. Ich entschied mich erneut für helle Kleidung. Die Schüler von Cáozǐ hatten sich vor mir mit größtem Respekt verneigt und ich plauderte gerade unverbindlich mit meinem Freund, als Jiénzǐ eintraf. Wir alle erwiesen ihm den nötigen Respekt. Er saß zur Rechten von Cáozǐ und ich zur Linken. Hierbei saßen wir an drei Seiten eines niedrigen Tisches mit Tee. Die vierte Seite war dem Raum zugewandt, in dem die Schüler saßen.


    "Als Gastgeber ist es wohl an mir, ein Thema vorzuschlagen. Wären alle damit einverstanden, über den Mensch an sich zu sprechen?" sprach Cáozǐ.


    Jiénzǐ ergriff das Wort. "Werter Freund, das erscheint mir ein sehr weitgefasstes Thema. Wollen wir über den Körper sprechen? Über Medizin? Oder über Gesellschaften, Moral, oder Ähnliches?"


    Nun sprach ich. "Meine geschätzten Freunde, erlaubt mir, das vorgeschlagene Thema einzugrenzen." Beide deuteten mir, fortzufahren. "Widmen wir uns doch dem Thema, wie es den Menschen gelingen kann, ein gutes Leben zu führen. Mit 'gut' meine ich ein Leben, welches zu Glück und Zufriedenheit führt."


    "Mir gefällt diese Konkretisierung. Dann lass mich direkt fragen: Was bedeuten für Euch Glück und Zufriedenheit, Yúnzǐ?"


    Das war klar. Wer etwas vorschlug, musste es auch exakt definieren können. "Glück und Zufriedenheit entstehen, wenn der Mensch keinen Mangel erleidet und ohne Konflikte lebt, die ihn belasten. Dazu muss ich sagen, dass Konflikte nicht zwingend eine Belastung sein müssen. Ein Wettbewerb im Bogenschießen kann ein Konflikt sein, weil man gewinnen will. Dieser Konflikt belastet aber nicht, weil man hieran wächst und sich entwickelt. Ebenso ein Streitgespräch. Wird einem hingegen das Haus streitig gemacht, ist es eine Belastung."


    "Wäre dann ein abgeschiedenes Leben in Einsamkeit nicht erstrebenswert? Ohne Mitmenschen gibt es keine Konflikte," bemerkte Jiénzǐ.


    "Das könnte man vermuten," antwortete ich, "jedoch würde dieses verkennen, dass es in der Natur des Menschen liegt, Staaten zu bilden. Ohne Mitmenschen erleidet man folglich einen Mangel."


    "Das mag sein," sprach Cáozǐ, "doch gibt es immer Menschen, die mit anderen Menschen in Konflikt geraten. Wie kommt es dann dazu? Ist der Mensch dazu verdammt, andere Menschen zu brauchen, kann aber nicht konfliktfrei handeln?"


    "Man könnte auch fragen: Ist der Mensch von Geburt an gut, wird aber durch äußere Umstände vom guten Leben abgebracht? Oder ist er von Geburt an böse und muss durch äußere Umstände zum Guten verändert werden?"


    "Das wäre dann die Unterscheidung zwischen der Annahme des Mèngzǐ, dass der Mensch von Natur aus gut ist, aber das Gutsein ständig üben muss, so wie man einen Muskel trainieren muss, damit er stark bleibt..."


    "...und der Annahme des Xúnzǐ, dass der Mensch von Natur aus schlecht ist, sich aber dessen bewusst ist und versucht, sich zum Guten zu wandeln, um so insgesamt für alle und damit auch für sich selbst das Beste zu erreichen. Was meint Ihr dazu, Yúnzǐ?"


    Inzwischen waren mir die zitierten Schriften bekannt, so dass ich eine fundierte Antwort geben konnte. Ich basierte sie aber auf den Lehren des Aristoteles. "Bleiben wir bei der Annahme, dass der Mensch ein staatenbildendes Wesen sei. Dann stimmen wir darin überein, dass eine für die Stabilität des Staates gefährliche Ausstattung des Menschen ein extremer Irrtum der Götter wäre. Wäre also ein Verhalten von Geburt an angelegt, das den Menschen schlecht macht und so zu einem gegen die Gesellschaft agierenden Wesen macht, dann dürfte es keine stabilen Gesellschaften geben. Schlecht kann man also von Geburt an nicht sein. Allerdings kann man in einer schlechten Umgebung aufwachsen oder leben und so schlecht werden."


    "Dann muss der Staat also nur dafür sorgen, dass es keine schlechten Umgebungen gibt, und schon sind alle Menschen gut?" fragte Jiénzǐ.


    "Das geht am einfachsten mit strengen Gesetzen und harten Strafen," sagte Cáozǐ.


    "Womit wir bei Hán Fēi und der Schule des Legalismus wären," ergänzte ich.


    Cáozǐ trank einen Schluck Tee und sprach dann. "Der Legalismus hat aber nicht funktioniert."


    "Das mag daran liegen, dass Gesetze ohne Moral wertlos sind. Wenn das Gesetz nur eine leere Hülle ist, die etwas erzwingen will, erschafft man nichts." Ich nahm ebenfalls einen Schluck Tee, bevor ich weitersprach. "Menschen verabscheuen Tyrannen. Wir hatten ja schon einmal über die Tyrannis diskutiert und festgestellt, dass es eine schlechte Staatsform ist. Die Monarchie hingegen ist gut. Das liegt daran, dass der Monarch in Sitte und Moral ein Vorbild ist. Dann aber sind auch seine Gesetze auf der Moral basierend. Und hieraus folgt, dass die Menschen den Gesetzen folgen. Die meisten werden den Gesetzen folgen, weil sie eigentlich dem Vorbild des Monarchen folgen wollen und die Gesetze als Hilfestellung betrachten. Die restlichen Menschen folgen den Gesetzen aus Furcht vor Strafe. Dabei ist die Strafe des Gesetzes nur ein Teil der Furcht. Die größere Furcht ist, dass man die Moral erkennt und sich nicht gegen Sitte und Moral stellen will, weil man dann von der Gesellschaft geächtet wird."


    "Das setzt aber voraus, dass man grundsätzlich fähig ist, Gutes und Schlechtes voneinander zu unterscheiden," warf Cáozǐ ein.


    "Nicht so schnell, mein Freund," meinte Jiénzǐ, "lass uns noch einmal zum Scheitern des Legalismus zurückkehren. Ich sehe hier nämlich eine viel einfachere Erklärung: Der Legalismus ist eine extreme Lehre. Wir wissen aber, dass der Edle den Weg von Maß und Mitte beschreitet. Der Edle weiß aber auch, wie man einen Staat gut regiert. Deshalb kann der Legalismus nicht funktionieren."


    Darauf war ich nicht gekommen, konnte dem aber auch nicht widersprechen. "In der Tat zeichnen sich auch alle guten Staatsformen durch Maß und Mitte aus, wie wir früher bereits erörtert hatten. Daher kann ich Eurem Argument nur zustimmen, Jiénzǐ."


    Cáozǐ schien zufrieden zu sein, dass wir uns einig waren. "Kehren wir dann zu meiner Frage zurück? Können alle Menschen Gutes und Schlechtes voneinander unterscheiden?"


    "Soweit ich das sehe, stimmen hierin die bekannten Meister überein. Und auch im Westen ist das bei den meisten Philosophen Konsens. Ansonsten würde die Staatenbildung scheitern," stellte ich meine Meinung dar.


    "Wenn das so ist, warum schaffen es manche Menschen nicht?"


    Nun antwortete Jiénzǐ. "Ich habe eine umfassende militärische Ausbildung erhalten. Dabei habe ich gelernt, Bewegungen des Gegners zu verstehen und so darauf zu reagieren, dass ich den Sieg erringe. Trotzdem ist es mir bei Nebel unmöglich, mein Wissen zu nutzen."


    "Damit meint Ihr, dass es Umstände gibt, die einem die klare Sicht auf Gutes und Schlechtes versperren?"


    "Ja, ganz genau."


    "Und wie löst Ihr dieses Problem?" Cáozǐ lehnte sich vor, was er nur tat, wenn er sehr stark an der Meinung einer Person interessiert war.


    "So, wie ein Krieger." Jiénzǐ lächelte, merkte aber, dass ihm niemand folgen konnte. "Ein geübter Krieger kann auch mit verbundenen Augen kämpfen. Man muss also nur genug üben, um den Nebel der Unwissenheit zu durchdringen."


    "Also ist ständiges gutes Handeln der Schlüssel?" fragte ich.


    "Ihr setzt einen Schritt zu spät ein, mein Freund," erklärte Jiénzǐ, "denn der erste Schritt ist Bildung. Bildung ist nicht die Anhäufung von Wissen, sondern die Auseinandersetzung damit. So schult man den Geist und erkennt, wenn man falsch zu handeln droht. Im zweiten Schritt kann man dann sein Handeln korrigieren und gut handeln."


    Ich verneigte mich leicht. "Ich danke für Eure Erklärung, Jiénzǐ."


    Der Prinz erwiderte die Verneigung.


    Cáozǐ wandte sah zuerst Jiénzǐ an und dann mich. "Sind wir uns dann einig, dass der Mensch von Geburt an gut ist, aber das Gutsein stetig üben muss? Und darüber hinaus einigen wir uns darauf, dass der Mensch der Bildung bedarf, um auch in schwierigen Situationen Gutes und Schlechtes unterschieden zu können und sich so jederzeit selbst dazu bringen kann und muss, gut zu handeln? Und wenn er sich so stets bildet und stets so handelt, dann führt er ein gutes Leben?"


    "Besser hätte ich es nicht zusammenfassen können," antwortete ich und verneigte mich.


    "Ich stimme vollumfänglich zu," sprach auch Jiénzǐ und verneigte sich ebenfalls.


    Cáozǐ verneigte sich vor uns beiden und sprach. "Hiermit beende ich unsere heutige Diskussion." Dann sprach er lauter. "Schüler, ich hoffe, dass diese Diskussion für euch lehrreich war."


    Die Schüler verneigten sich, bis der Kopf fast den Boden berührte, und sagten laut und deutlich "Wir danken den ehrenwerten Meistern, dass sie ihr Wissen mit uns geteilt haben".


    Jiénzǐ und ich gingen dann mit Cáozǐ in den Nachbarraum, in dem bereits ein Tisch mit Speisen eingedeckt war. Wir drei saßen am Kopf des Tisches, während die Schüler an den Seiten Platz nahmen. Während wir gemeinsam speisten, erörterten wir noch einige Details des guten Lebens, während uns die Schüler aufmerksam zuhörten. Zu späterer Stunde verließ uns zuerst Jiénzǐ und danach ging auch ich zu Jì Dé's Haus.

  • In der nächsten Woche wurde ich offiziell zur Audienz bei Prinz Jiénzǐ bestellt. So kleidete ich mich in die nicht verzierten dunkelblauen Seidengewänder, das serische Schwert im Gürtel und die schmucklose Kopfbedeckung aus schwarzer Seide und machte mich auf den Weg.


    Zu meiner Überraschung konnte ich diesmal das Schwert behalten, wenngleich ich mir sicher war, dass die Wachen mich stoppen konnten, bevor ich den Prinzen erreichte.


    Im Thronsaal blieb ich neun Schritte vor den Stufen zu seinem Thron stehen und verneigte mich dreimal tief. "Prinz Jiénzǐ, Ihr habt nach mir gerufen und ich freue mich, Eurem Ruf zu folgen."


    Der Prinz hob stehend seine Hände leicht zur Begrüßung. "Yúnzǐ, ich danke für Euer schnelles Erscheinen."


    Während er sich setzte, verneigte ich mich noch einmal leicht. "Ich danke für Eure Einladung."


    Ein Beamter an einem Tisch links von mir schrieb unsere Unterhaltung mit.


    "Ihr fragt Euch sicher, weshalb ich Euch eingeladen habe."


    Ich nickte.


    "Bei unseren letzten Diskussionen habe ich Euch schätzen gelernt und ich sehe, dass Euer Wissen nützlich ist. Deshalb möchte ich Euch in den Kreis meiner Berater erheben."


    Damit hatte ich nicht gerechnet. So brauchte ich einen Moment, bevor ich meine Gedanken ausreichend gesammelt hatte. "Das ist ein sehr großzügiges Angebot. Ich muss aber leider ablehnen. Tatsächlich habe ich bereits begonnen, meine Pläne für die Rückreise nach Dàqín begonnen. Schließlich ist das meine Heimat."


    Jiénzǐ sah mich einen Moment lang nur an, bevor er sprach. "Yúnzǐ, auch Kǒng Fūzǐ reiste lange und diente vielen Fürsten, bevor er in seine Heimat zurückkehrte. Es besteht also kein Grund für Euch, nun Eile walten zu lassen. Außerdem solltet Ihr bedenken, dass Ihr als mein Berater ein Beamter des vierten Ranges im unteren Grad wärt. Ist das kein gutes Angebot?"


    Nach meinem Wissen war das der untere Grad der mittleren Beamtenränge, also mit der höchste Rang, den ich in einer Provinz erreichen konnte. In Rom wäre ein solcher Rang mit einem Eques besetzt, und auch hier hätte ich damit ausgesorgt. Ich verneigte mich tief, bevor ich antwortete. "Bitte, versteht mich nicht falsch. Euer Angebot ist sehr gut und äußerst großzügig. Aber ich muss zurück in meine Heimat. Meine Mutter kann sicher einige Jahre ohne mich auskommen, doch wird sie nicht jünger. Und wie Ihr wisst, endet jedes Leben mit dem Tod. Wer soll sich um ihre Bestattung kümmern, wenn es so weit ist, wenn nicht ich? Ich bin der einzige Sohn. Und meine Schwester kommt in das Alter, in dem sie verheiratet werden sollte. Wer soll sich darum kümmern, wenn nicht ich? Ich danke Euch für Euer Angebot, aber ich kann es leider nicht annehmen."


    Jiénzǐ schien zu erkennen, wie schwer es mir gefallen war, das Angebot abzulehnen, nickte aber verständnisvoll. "Die Pflichterfüllung gegenüber der Familie ist von großer Bedeutung. Schweren Herzens akzeptiere ich Eure Ablehnung. Unsere Freundschaft hingegen bleibt bestehen, hoffe ich?"


    Wie konnte er so etwas nur fragen? "Selbstverständlich. Niemals würde ich Eure Freundschaft zurückweisen."


    "Dann gestattet mir eine Frage als Freund."


    "Natürlich, Prinz Jiénzǐ."


    "Ihr werdet den beschwerlichen Landweg zurück nehmen?"


    Das war in der Tat mein Plan. "Ja. Allerdings wollte ich südwärts abbiegen, um nach Indien zu reisen und von dort aus ein Schiff zu nehmen."


    Jiénzǐ sah mich an, als hätte ich nicht alle Latten am Zaun. "Südwärts? Das wäre in grober Fehler."


    "Warum?"


    "Ihr müsstet noch vor dem Kūnlún Shānmài nach Südwesten ziehen." Dozierte Jiénzǐ. "Dort kommt ihr auf eine Hochebene, die vom kriegerischen und räuberischen Volk der Tibeter bewohnt wird. Doch zuerst werdet Ihr auf einem Gebiet sein, in dem das Wasser stets fest ist. Am Ende der Ebene gelangt Ihr in das Königreich Yángtóng. Ihre Hauptstadt erreicht Ihr, indem Ihr ein Gebirge überwinden müsst, das dem Kūnlún Shānmài in nichts nachsteht. Und dann müsst Ihr das noch höhere Gebirge, welches Yángtóng von Indien trennt, überwinden. Wir wissen davon, weil uns die Könige von Yángtóng hin und wieder Delegationen schicken. Aber es hat einen Grund, warum nur wenig Handel stattfindet. Und es hat einen Grund, warum es über diesen Weg keinen Handel mit Indien gibt. Als Euer Freund muss ich Euch davon abhalten, Euer Leben so leichtfertig zu riskieren."


    Ich dachte über die Worte meines Freundes nach. "Das klingt aber wissenschaftlich durchaus interessant."


    "Und wo ist dann Eure Pflichterfüllung gegenüber Eurer Familie, mein Freund? Solltet Ihr nicht vor allem versuchen, lebendig in die Heimat zurückzukehren?" Seine Stimme war frei von Ironie, dafür aber fast schon tadelnd.


    Damit hatte er auch einen Schwachpunkt bei mir getroffen. Ich konnte nicht einerseits sein Angebot mit dem Argument ausschlagen, dass ich zu meiner Familie zurück musste, aber andererseits eine lebensgefährliche Expedition antreten. "Ihr habt natürlich Recht, mein Freund."


    Kurz umspielte ein leichtes Lächeln seine Mundwinkel und er sah erleichtert aus. "Danke für Eure Einsicht." Offensichtlich sah er mich wirklich als Freund und wollte verhindern, dass ich mich unnötig in Gefahr begab.


    "Also werde ich den Weg zurück nehmen, über den ich gekommen bin."


    Jiénzǐ lehnte sich etwas nach vorne. "Nicht unbedingt. Ich mache Euch ein weiteres Angebot. Eine Ladung Waffen, die hier gefertigt wurden, müssen in die Kommandantur Guǎnglíng gebracht werden. Ich könnte Euch die Verantwortung für den Transport übertragen. In Guǎnglíng ist ein Hafen, von dem aus Ihr in die Südprovinzen fahren könntet. Von dort aus könnt Ihr mit dem Schiff nach Indien reisen. Das ist viel sicherer und komfortabler, als über den Landweg zu reisen. Außerdem ist es sicher genauso schnell. Gefällt Euch das Angebot?"


    Das klang erst einmal nicht schlecht. "Und wo liegt Guǎnglíng?"


    "Südöstlich von hier." Jiénzǐ sah mich an und wusste, was ich wissen wollte. "Ihr werdet zunächst zur Hauptstadt reisen. Von dort aus fahrt Ihr den Nán Luò Hé hinab und nehmt den Hóng Gōu, bis Ihr den Huái Hé erreicht. Diesen fahrt Ihr hinab und nehmt schließlich den Hán Gōu bis nach Guǎnglíng."


    Das sagte mir alles recht wenig, aber ich hatte ja gefragt. "Es klingt so, als würde ich durch ganz Zhōngguó fahren."


    Jiénzǐ nickte. "Und das ist sogar halbwegs richtig erkannt."


    Das klang nun auch wieder interessant. Ich würde das Reich damit zu großen Teilen bereisen. Nach den Wundern, die ich bereits hier gesehen hatte, welche Wunder würden mich dort wohl erwarten? Ich konnte gar nicht anders. "Gerne nehme ich Euer großzügiges Angebot an, Prinz Jiénzǐ."


    "Gut. Yúnzǐ, ich ernenne Euch mit sofortiger Wirkung zum Beamten des fünften Ranges oberen Grades. Ihr werdet den Transport von zwanzigtausend Säbeln und zwanzigtausend Lanzen nach Guǎnglíng leiten. Eure Bestallung endet mit der Übergabe der Lieferung an den Kommandant der Festung in Guǎnglíng. Euch werden Boote zur Verfügung gestellt, die Euch den Transport ermöglichen. Außerdem wird Euch ein Offizier des sechsten Ranges höheren Grades mitsamt seiner Einheit zur Bewachung mitgegeben. Er wird unter Eurem Kommando stehen. Für Eure persönlichen Waren erhaltet Ihr ein weiteres Boot. Die Kosten für den Transport trägt die Staatskasse. Eine Kasse mit ausreichend Geld für Transport und Verpflegung wird Euch mitgegeben. Der Transport wird Cháng'ān in fünfzehn Tagen verlassen. Regelt Eure Angelegenheiten und macht Euch bereit zur Abreise." Jiénzǐ hatte in einem Befehlston gesprochen und der Beamte hatte alles notiert. Es gab nun kein zurück mehr.


    Ich verneigte mich tief. Einer Antwort bedurfte es nicht.


    Dafür sprach Jiénzǐ nun noch ein paar Worte in einem freundschaftlichen Tonfall. "Yúnzǐ, ich dulde es übrigens nicht, dass meine Beamten nicht ordentlich gekleidet sind. Beschafft Euch zwei weitere Hofgewänder. Und beschafft Euch auch ein entsprechendes Jìn Xián Guān, welches Eurem Rang entspricht."


    Ich verneigte mich erneut. "Natürlich, Prinz Jiénzǐ."


    "Ihr dürft Euch entfernen. Aber bitte wartet noch am Ausgang des Palastes, damit Euch die Urkunde Eurer Bestallung überreicht wird."


    Ich verneigte mich dreimal und verließ dann den Thronsaal. Am Ausgang des Palastes wartete ich, bis mir die Urkunde überreicht wurde. Mit dieser ging ich zu dem Schneider, der mir meine Gewände gefertigt hatte und beauftragte sowohl zwei Ersatzgewänder, als auch die mit Jìn Xián Guān bezeichneten Kappen und zwei weitere Paar dunkelblaue Seidenschuhe.

  • Nach zehn Tagen war meine Kleidung fertig und seitdem kleidete ich mich meinem neuen Rang entsprechend. Der Respekt, der mir nun entgegenkam, war weit größer als alles, was ich bisher in Rom erlebt hatte. Jeder Zivilist, der mir auf der Straße begegnete, erwies mir äußersten Respekt in Form einer tiefen Verneigung. Und auch die einfachen Soldaten und Beamten niederen Ranges verneigten sich leicht. Und ich erwiderte alle Verbeugungen ebenfalls mit einer leichten Verneigung. Schließlich war das eine Frage der guten Sitten.


    Jì Dé war unglaublich stolz, einen so hochrangigen Gast beherbergen zu können, und lehnte jede finanzielle Kompensation für seine Gastfreundschaft ab. Inzwischen war auch eine kleine Truhe mit zweieinhalbtausend Münzen für mich angekommen. Dem beiliegenden Schreiben nach war es mein Gehalt für einen Monat. Die Münzen waren aus Bronze und rund, mit einem viereckigen Loch in der Mitte und mit den Schriftzeichen 'Jiàn Guāng' eingeprägt. Eine Münze wog etwa eine drachma. Es waren Standardmünzen, Wǔ Zhū genannt. Das würde zu einem Jahresgehalt führen, das sogar leicht über Jì Dé's Einkommen lag. Und dabei war ich noch nicht einmal in den hohen Beamtenrängen.


    Da ich auch mit Jì Dé über meine Abreise gesprochen hatte, bat er mich um etwas. Ich sollte seinen ältesten Sohn Jì Mǐn mitnehmen und den Meistern der Tàixué, der kaiserlichen Akademie, vorstellen. Natürlich konnte ich nicht versprechen, auch gehört zu werden. Und noch weniger konnte ich versprechen, dass man Jì Mǐn zum Studium annehmen würde. Aber ich konnte es versuchen. Offensichtlich war der Beamtenstatus so hochwertig, dass er selbst ein geringeres Einkommen als das von Jì Dé erstrebenswert erscheinen ließ. Natürlich versprach ich Jì Dé, es zu versuchen. Das wäre mein Geschenk für seine Gastfreundschaft.


    Außerdem hatte ich meine Waren gezählt, sowie meine Schriften und alles andere, was ich auf meine Reise mitnehmen würde. So ein Inventar war immer nützlich. Außerdem hatte sich ein junger Offizier namens Wú Liàng gemeldet, bei dem es sich um den mir zugewiesenen Offizier für den Transport der Waffen handelte. Er hatte mich gefragt, wie viele Kamele ich für meine Sachen benötigte. Dank des vorhandenen Inventars konnten wir die Zahl der Kamele für meine Sachen auf zehn festlegen. Die Kamele waren notwendig, weil wir mit diesen bis Luòyáng reisen mussten. Der Wèi Hé, der an Cháng'ān vorbeifloss, war nicht schiffbar. Ebensowenig schiffbar war der Huáng Hé, weil dieser angeblich voller Sandbänke war, die sich ständig änderten.


    Ich fragte auch Arpan, ob er mich begleiten wolle. Er bejahte dies, weil er nach Indien wollte. Dort wollte er dann seinen Frieden finden, indem er sich noch stärker mit dem Buddhismus befasste. Immerhin beherrschte er inzwischen etwas Sanskrit in Wort und Schrift, so dass ich neben der Freude, mit einem Freund zu reisen, auch einen gewissen Nutzen daraus ziehen konnte.


    Die letzten Tage bis zur Abreise nutzte ich, um Tuschemalereien einiger Orte in Cháng'ān anzufertigen. Hierbei nahm ich den vor Ort üblichen Stil an und versuchte, eher die Stimmung einzufangen, als eine genaue perspektivische Darstellung zu erzeugen. Doch fertigte ich auch einige Zeichnungen der Stadt im römischen Stil an. So konnte ich beides zu Hause betrachten und in Erinnerungen schwelgen. Es war völlig klar, dass ich so schnell nicht wieder nach Serica reisen würde. Und ich musste zugeben, dass mir das Herz schwer wurde, wenn ich daran dachte. Es gab noch so viel zu entdecken und ich hatte die Höflichkeit und Freundlichkeit der Menschen sehr genossen. Außerdem hatte ich hier Freundschaften geschlossen, die viel tiefer gingen, als meine Freundschaften im Imperium Romanum. Doch war nun einmal Rom meine Heimat. Und zur Not konnte ich ja noch einmal die lange Reise auf mich nehmen. Das gab mir einen inneren Frieden.

  • Am Abend vor der Abreise hatte ich meine Freunde in eine Taberna eingeladen. Ich wollte meinen Abschied nicht bei Jì Dé feiern. Er sollte damit keine Umstände haben. So hatte ich den Ort sorgsam ausgewählt und komplett reserviert. Und sie waren alle gekommen. Prinz Jiénzǐ, mein inzwischen sehr guter Freund Cáozǐ und natürlich Jì Dé. Außerdem waren noch Arpan und der Aedituus des buddhistischen Tempels anwesend. Ich dankte meinen Freunden für die Freundschaft und für die wertvollen Lektionen, die sie mir beigebracht hatten. Und natürlich für die guten Diskussionen, die wir hatten. Es gab reichlich und sehr gutes Essen und auch an Getränken gab es keinen Mangel. Der Aedituus hielt sich zurück und trank keinen Alkohol und aß auch nichts, was wohl etwas mit seiner Religion zu tun hatte. Arpan hielt sich ebenfalls zurück, wobei er wenigsten Gemüse aß. Wir restlichen vier hingegen ließen es uns gut gehen. Während des Abends spielten auch drei sehr hübsche Frauen Lieder auf hiesigen Instrumenten. Ja, der Abend war sehr teuer gewesen, aber meine Freunde wussten, dass ich so meine Dankbarkeit zeigte. Und sie wussten auch, dass wir uns sehr lange nicht mehr sehen würden, vielleicht sogar nie wieder. Dennoch versicherten wir uns, dass wir in wenigen Jahren wieder zusammensitzen würden. Und weil es eine Feier war, ließ sich niemand sein Herz schwer werden, sondern wir waren alle fröhlich. Da ich am nächsten Morgen früh aufstehen musste, ließ ich den Abend nicht zu spät werden und hielt auch Maß mit dem Alkohol. Es wurde mir von niemandem übel genommen.


    Am nächsten Morgen frühstückte ich noch ausgiebig und richtete mich dann ordentlich her. Die Zähne waren sauber, die Beamtenkleidung aus dunkler Seide ordentlich gerichtet und das Schwert im Gürtel. Jì Mǐn hatte sich ebenfalls in seine besten Kleider gewandet und stand neben mir. Auch Arpan kam rechtzeitig an, jedoch trug er nur einfache graue Kleidung. Das machte mir aber nichts.


    Jì Dé verabschiedete sich von uns. Für Arpan hatte er eine kurze Verbeugung übrig, doch bei mir schien er sich unschlüssig zu sein, wie er sich verhalten sollte. Er setzte dazu an, sich zu verbeugen, doch ich unterbrach ihn. "Mein guter Jì Dé, außerhalb der Öffentlichkeit werdet Ihr Euch nicht vor mir verbeugen. Ihr seid ein Freund, so gut, wie man es sich nur wünschen kann. Ihr wart mir wie ein Bruder." Schließlich umarmte ich ihn. Damit hatte er wohl nicht gerechnet und als ich die Umarmung löste, sah ich, dass er mit seinen Gefühlen rang. Auch mir fiel es schwer, doch konnte ich mich beherrschen und lächelte freundlich. "Es gibt keinen Grund, traurig zu sein. Wir werden uns wiedersehen. Und falls es Euch einmal nach Rom verschlägt," ich reichte ihm eine versiegelte Wachstafel, "fragt nach der Domus Iunia und gib dieses dort ab. Es wird Euch als meinen Freund ausweisen und Euch alle Gastfreundschaft meiner Familie gewähren, so lange Ihr dort bleibt."


    Jì Dé nahm die Wachstafel an und blickte eine Weile darauf. Uns war beiden klar, dass er wohl nie die Zeit finden würde, einmal nach Rom zu reisen. "Ich danke Euch, Yúnzǐ. Und ich danke Euch, dass Ihr mein Gast wart. Bitte gebt gut auf meinen Sohn acht."


    "Das werde ich."


    Danach ging er zu seinem Sohn und umarmte ihn herzlich. "Jì Mǐn, dass du mir keinen Ärger machst und fleißig lernst. Sei ein gehorsamer Schüler, hörst du!"


    "Ja, Vater," antwortete der Sohn.


    Beide hatten Tränen in den Augen. Da klopfte es am Tor. Als Jì Dé es öffnete, stand dort Wú Liàng mit zwei Soldaten, die insgesamt sechs gesattelte Pferde und zehn Kamele mit sich führten. Alle drei verneigten sich, wobei Wú Liàng sprach. "Ehrenwerter Yúnzǐ, wir sind bereit."


    Ich erwiderte die Verneigung. "Ich danke für Eure pflichtbewusste Pünktlichkeit. Bitte packt meine Sachen auf die Kamele. Es ist bald Zeit, aufzubrechen."


    Wú Liàng verneigte sich noch einmal und befahl mit lauter Stimme den Soldaten, meine Sachen auf die Kamele zu laden. Dabei vermied er es aber, zu schreien. Währenddessen packte Jì Mǐn seine wenigen Habseligkeiten auf das ihm zur Verfügung gestellte Pferd. Arpan trug außer dem, was er am Leib hatte, nur noch eine Umhängetasche aus Stoff, in der er seine weiteren Habseligkeiten verstaut hatte. Er war dem Leben als buddhistischer Mönch bereits näher, als dem Leben eine normalen Bürgers.


    Nachdem alle Kamele gepackt waren, kam Wú Liàng auf mich zu und verneigte sich erneut. "Ehrenwerter Yúnzǐ, alles ist wie befohlen gepackt."


    Auch diesmal erwiderte ich die Verneigung. "Ich danke Euch, ehrenwerter Wú Liàng. Lasst aufsitzen und den Rest der Karawane holen."


    Nach einer kurzen Verneigung sprach er wieder ein paar Befehle und er und seine Soldaten saßen auf. Ebenso saßen Arpan, Jì Mǐn und ich auf unseren Pferden auf. Ohne mich noch einmal umzusehen, folgte ich Wú Liàng. Wir ritten langsam bis zum östlichen Stadttor von Cháng'ān, wo zweihundert Kamele und fünfzig weitere Soldaten auf uns warteten. Wú Liàng und ich setzten uns an die Spitze der Karawane. Ich spürte, dass alle Augen auf mich gerichtet waren. Ich hätte nun den Befehl geben können, uns in Bewegung zu setzen. Stattdessen nickte ich Wú Liàng nur zu und ließ mein Pferd langsam antraben. Der junge Offizier verstand mich sofort, drehte sich im Sattel nach hinten und rief den Befehl, sich in Bewegung zu setzen.


    Während wir die gepflasterte Straße den Wèi Hé entlang ritten, musste Cháng'ān hinter uns immer kleiner werden. Ich bemerkte, dass sich Jì Mǐn immer wieder umdrehte und zu seiner Heimat sah. Ich hätte mich zwar auch gerne umgedreht, um einen letzten Blick auf diese Stadt zu erhaschen, die mir zu einer zweiten Heimat geworden war. Doch geziemte es sich für mich nicht, dies zu tun. Ich war ein Beamter mit einer Aufgabe. Ich musste mich - auch äußerlich - meinem Ziel zuwenden und nicht zurück blicken.

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