[Imperium Sinarum] Fossa Magna

  • Nachdem wir Luòyáng verlassen hatten, fuhr unser Konvoi für einige Meilen einen stark frequentierten Kanal entlang. Schließlich erreichten wir den Luò Hé, der gemächlich in einem weiten Tal floss, das sich zunehmend öffnete. Die Bootsmannschaften ruderten routiniert, aber nicht erschöpfend, die Boote und ich konnte mir in Ruhe die Landschaft mit weiten Feldern und Obsthainen, sowie kleineren Dörfern, die an meinem Boot vorbeizog, betrachten. Nach der Schleuse fuhren wir auf dem gemächlich dahinfließenden, gar nicht mal so kleinen Fluss entlang. Es war eine idyllische Landschaft, die mir sehr gefiel. Am Ende des Tages wurde das Tal wieder enger und wir erreichten wir ein Dorf an einer Biegung des Luò Hé, welches über einen größeren Hafen, Lagerhäuser und Gasthäuser verfügte. Das Dorf lag in einem Durchbruch des Luò Hé durch eine Hügelkette nach Norden. Im Licht der Dämmerung konnte ich noch erkennen, dass nach den Hügeln eine weite Ebene begann und wohl auch ein Fluss verlief. Nach meinen Informationen musste das bereits der Huáng Hé sein, den ich so also noch einmal sehen würde. Das Dorf war wohl als Rastplatz für die Boote gedacht, die hier entlang kamen.


    Die Offiziere und ich verbrachten die Nacht in Gasthäusern, während der Rest auf den Booten schlief. Nach einem kurzen Frühstück zur Morgendämmerung traf ich wieder bei den Booten ein und wir setzten unsere Reise fort. Der Huáng Hé floss hier deutlich ruhiger und breiter, als noch in dem engen Tal, in dem ich ihn zuletzt gesehen hatte. Allerdings wackelten die Boote doch merklich, als sich die Strömungen der beiden Flüsse vermischten. Wir folgten der stärksten Strömungen und landeten so in einem der mittleren Arme des Huáng Hé, die sich durch ockerfarbene Sandbänke schlängelten.


    Am frühen Nachmittag erblickte der Bootsführer auf meinem Boot, der letztlich den ganzen Konvoi leitete, eine Mauer, die in den Huáng Hé reichte und gab Anweisungen, an der Mauer festzumachen. Die Mauer war der Beginn einer gemauerten Anlegestelle. Sie war so gebaut, dass die durch die Mauer stets umströmt war, was den Bereich von Sediment frei hielt. Der Uferbereich fiel steil ab. Neben dem Anlegeplatz waren schräge Bahnen, über die Wasser floss, in das Ufer geschnitten. Ich konnte beobachten, wie Boote diese Bahnen hinabglitten. Man konnte die Schiffe auch diese Bahnen hinaufziehen lassen. Das konnte ich auch bei einigen Booten beobachten, entschied mich aber, dass mir das für unsere Fracht zu gefährlich war. Deshalb ließ ich die Fracht komplett nach oben transportieren, von wo aus ich genau beobachtete, dass auch wirklich alles nach oben transportiert wurde. Schließlich wurden die leeren Boote nach oben gezogen, wobei zwei Boote kenterten. Eines konnte gerettet werden und schließlich doch nach oben gezogen, während das zweite so beschädigt wurde, dass wir es nicht mehr verwenden konnten. Die Besatzung dieses Bootes hatte damit Feierabend. Ich sah mich oben um. Wir standen an einem gemauerten Kanal, an dessen Ufern unsere Boote festgemacht wurden und auch andere Boote standen. Da wir Ersatz für das verlorene Boot benötigten, sah ich mich nach Booten um, die gerade entladen wurden. Dabei achtete ich sehr darauf, welchen Eindruck die Besatzung und der Bootsführer auf mich machten. Schließlich fand ich ein Boot, dessen Besatzung mir vertrauenswürdig erschien. Die Besatzung bestand aus einer kompletten Familie. Das machte sie mir sympathisch. Ich beschloss, sie mitsamt ihrem Boot zu requirieren. Man erkannte zwar meinen Rang, leistete aber zunächst noch Widerstand, obwohl ich eine gute Miete anbot. Schließlich erhöhte ich den Mietpreis noch etwas und bot an, ein Empfehlungsschreiben zu erstellen, welches sie nutzen konnten, wenn sie gezielt Regierungsaufträge erlangen wollten. Das überzeugte sie schließlich. Dennoch beschloss ich, auf ihrem Boot den Offizier Wú Liàng und sechs seiner Soldaten unterzubringen. Sicher war sicher. Nachdem die Fracht verstaut war, wurde es bereits dunkel. So bestimmte ich, dass die Reise am nächsten Morgen weitergehen würde. Um unsere wertvolle Fracht zu sichern, übernachteten wir diesmal alle auf den Booten.



    Sim-Off:

    Den Kaiserkanal in China gab es zur bespielten Zeit noch nicht. Dennoch orientiere ich mich bei der lateinischen Bezeichnung "Fossa Magna" am chinesischen Namen des Kaiserkanals, Dà Yùnhé (großer Kanal). Die Strecke beginnt mit dem Luò-Kanal, der Luòyáng mit dem Luò-Fluss verbindet. Dem Fluss wird gefolgt, bis der Gelbe Fluss (Huáng Hé) erreicht wird, dem bis zum Hóng-Kanal gefolgt wird. Anschließend wird dem Hóng-Kanal auf voller Länge bis zum Huái Hé gefolgt. Dem Huái-Fluss wird dann bis zum Hán-Kanal gefolgt, der auf voller Länge bis zum Jangtsekiang (Cháng Jiāng) befahren wird. Der Hán-Kanal ist hierbei das einzige Teilstück, welches später gesichert Teil des Kaiserkanals werden sollte. Teile des Hóng-Kanals scheinen aber auch im späteren Kaiserkanal aufgegangen zu sein.

  • Am nächsten Morgen ging es weiter. Unser Konvoi setzte sich den Kanal entlang in Bewegung. Die Hügel, die wir hinter uns ließen, wurden immer kleiner und wir fuhren durch eine weite Ebene mit Feldern, Dörfern und kleineren Städten. Am Kanal befanden sich oft Dörfer und kleine Städte. Spätestens nach einer nicht allzu hektischen Tagesreise erreichte man einen Anlegeplatz mit Lagerhäusern und Gasthäusern, wo man rasten konnte. So kamen wir recht gut und bequem voran. Die Boote ließ ich stets bewachen, wenn wir übernachteten. Zwar hielt ich die Besatzungen für halbwegs loyal, doch machte die Gelegenheit bekanntlich den Dieb und so wollte ich verhindern, dass jemand in Versuchung kam. Außerdem gab es ja auch noch Fremde, die möglicherweise die Besatzungen überwältigen konnten. Kaiserliche Soldaten wirkten da schon abschreckender. Immerhin konnten die nächtlichen Wachen tagsüber beim ruhigen Gleiten der Boote durch den Kanal ihren Schlaf nachholen.


    Nach einer Woche kamen wir schließlich an einer befestigten mittelgroßen Stadt an. Es handelte sich um Suīyáng, die Hauptstadt des Königreichs Liáng. Das Königreich war hierbei vor allem als Verwaltungsstruktur im Reich Hàn zu sehen. Das bedeutete aber nicht, dass ich dem König keinen Respekt zollen musste, zumal es sich um einen Verwandten des Kaisers handelte. Nachdem wir im Hafen der Stadt angelegt hatten, wurden uns sofort Soldaten zur Verfügung gestellt, um die Waren in bewachte Lagerhäuser zu bringen. Außerdem wurden die Soldaten in Kasernen untergebracht und ich selbst in einem großzügigen Haus, das der König von Liáng seinen höherrangigen Gästen zur Verfügung stellte. Natürlich musste ich der Einladung des Königs zu einer Audienz Folge leisten, wozu ich mich in die rote Hoftracht kleidete. Es war eine Frage von Sitte und Respekt. Als König standen ihm ebenfalls auf der Zahl zwölf basierende Ehren zu, so wie ich es auch beim Kaiser kennengelernt hatte.


    Bei der Audienz sprachen wir über Neuigkeiten vom Hofe in Luòyáng, sowie meine Reise und meine Befehle. Der König versprach, mir Boote zu organisieren, die mich zum Huái Hé und weiter bis nach Huái'ān bringen sollten. Ich wies die Großzügigkeit des Königs, so wie es die Sitte forderte, zweimal auf Grund meines niedrigeren Standes zurück und akzeptierte beim dritten Angebot gespielt widerwillig. So war mein Gesicht bewahrt, indem ich bescheiden erschien. Der König war zufrieden und ließ mir ein fürstliches Abendmahl im Gästehaus bringen. Arpan konnte ich ebenfalls im Gästehaus unterbringen, wenngleich er abends keine Mahlzeiten mehr zu sich nahm.


    Das Organisieren der Boote nahm zwei Tage in Anspruch, so dass ich mir die Stadt ansehen konnte. Sie war weniger geordnet als die beiden Hauptstädte, die ich gesehen hatte. Die Gassen waren kleiner und verwinkelter. Ich lernte, dass diese Stadt eine der ältesten Städte in Serica war und deshalb noch einen sehr ursprünglichen Baustil hatte. Die einzige Ordnung schufen zwei sich am großen Königspalast kreuzende Hauptstraßen und die Straßen, die die jeweiligen Wohnviertel umschlossen.


    Nachdem die Boote beladen waren, ließ mir der König noch eine Botschaft für den Kommandant von Huái'ān überbringen und als Dank für meine Botschafterdienste einen Ballen wertvolle bunte Seide als Geschenk, den ich nach zweimaligem Zurückweisen bescheiden und demütig annahm. Wenn man mir vorher gesagt hätte, dass ich hier überall mit Seide beschenkt würde, hätte ich es mir sparen können, in Cháng'ān einen Großteil des übrig gebliebenen Geldes in Seide zu stecken. Zumal die Seidenqualität anscheinend immer besser wurde, je weiter ich reiste. Natürlich war Seide hier nicht so teuer, wie in Rom, aber dennoch ein Luxusgut. Ich fragte mich, ob das jemals anders werden würde.

  • Nach wenigen Tagen auf dem Kanal waren im Süden bewaldete Hügel sichtbar. Es war anscheinend nur eine kleine Hügelkette, aber sie lockerte die doch inzwischen eintönig wirkende Ebene mit ihren endlosen Feldern auf. Das Wetter war während unserer Reise in der Ebene immer wärmer und feuchter geworden, doch inzwischen regnete es auch häufiger. Das führte auch dazu, dass wir lieber in Gasthäusern übernachteten und lediglich Wachen für die Boote zurückließen. Der Regen war zwar nicht unangenehm, aber man musste ja nicht unbedingt im Regen schlafen. Die seidene Kleidung war so mal vom Schweiß und mal vom Regen nass. Nasse Seide war aber erträglicher, als nasse Wolle. Deshalb machte mir das nur wenig aus. Vielmehr fragte ich mich, ob ich nicht auch in Rom seidene Unterkleidung tragen wollte. Nichtsdestotrotz übte ich nun jeden Abend mit Wú Liàng den Schwertkampf. Allzu lange würde ich keinen so fähigen Übungspartner mehr haben, der meine Fehler zu korrigieren verstand. Dass wir uns dabei zunehmend besser verstanden, war ein positiver Nebeneffekt.


    Am nächsten Tag erreichten wir die Stadt Péngchéng. Sie war die Hauptstadt des Königreichs Chǔ, was aber letztlich nur eine Verwaltungseinheit war. Es gab auch keine Könige mehr, sondern nur noch Prinzen von Chǔ, bei denen es sich um entfernte Verwandte des Kaisers handelte. Ihr Aufgabe bestand im Wesentlichen darin, die rituellen Pflichten zu erfüllen. Natürlich wurde ich vom Prinz von Chǔ zur Audienz geladen, die ich in voller Hoftracht absolvierte. Die vielen Lagen Stoff, wenngleich aus Seide, waren in dem schwülwarmen Klima nicht mehr so wirklich angenehm zu tragen. Das ließ ich mir aber nicht anmerken. Ich verneigte mich brav in zwölf Schritt Entfernung zu den Stufen zum Thron, sah aber nicht ein, auf die Knie zu fallen. Eine stehende, aber sehr tiefe, Verneigung musste genügen. Es gab nichts von Bedeutung zu besprechen, so dass die Audienz lediglich ein Austausch von Höflichkeiten war. Der Prinz schien mir die Audienz auch nur aus Höflichkeit abgehalten zu haben und machte den Eindruck, ganz froh zu sein, als er diese ohne Gesichtsverlust beenden konnte. Wir hatten auch kein Thema gefunden, das uns beide interessiert hätte.


    Am nächsten Tag fuhren wir weiter den Kanal entlang und erreichten die Stadt Xiàpī. Die Stadt war gut befestigt und von großer strategischer Bedeutung. Sie lag in der Ebene, nahe am Kanal und an wichtigen Flüssen und Straßen. Außerdem dominierte sie die Gegend, die den Norden und den Süden des Reichs voneinander trennte. In der Stadt stellte ich fest, dass man hier auch Seide von hervorragender Qualität kaufen konnte. Ich gab einen guten Teil meines noch vorhandenen Geldes aus, um besticktes Seidentuch zu kaufen. Das würde mir sicher ein gutes Einkommen in Rom bringen. Außerdem gab es hier Keramikgefäße, die innen sehr hell, ja beinahe weiß aussahen, und von außen bunt glasiert waren. Ich kaufte hiervon Schüsseln, Vasen und Becher. Statuen eines Hundes, eines Löwen, eines Drachen und eines Fabelwesens aus Keramik, die durch die Glasur wie Jade aussah, kaufte ich auch. Das wären sicher schöne Dekorationen für die Domus Iunia. Wer hatte so etwas schon?


    Wir verbrachten zwei Tage in Xiàpī, bevor wir weiterfuhren. Wir mussten noch einmal eine Schiffsrutsche nutzen, bevor der Kanal durch weites, sehr flaches Land führte. Schließlich erreichten wir den Huái Hé, einen großen Fluss, der gemächlich durch die Ebene floss. Wir durchquerten ein Tor in einem künstlichen Wall, der den Fluss vom Land trennte, bevor wir auf den Fluss einschwenken konnten. Der Wall zeigte mir, dass der Fluss gefährliches Hochwasser haben konnte.


    Nach nicht einmal einem Tag auf dem Fluss erreichten wir Huái'ān. Das Wetter war hier weniger drückend, als noch in Xiàpī oder Péngchéng. Von Osten her wehte ein schwacher, aber angenehmer Wind. Wenn Wolken über die Stadt zogen, war es besonders angenehm. Die Stadt war von mittlerer Größe und schien vor allem als lokales Verwaltungszentrum zu dienen. Hier war ich nun der ranghöchste Offizielle, weshalb mir sofort ein Gästequartier angeboten wurde, was ich auch dankend annahm. Der ranghöchste Beamte fragte mich auch, ob er mich zum Abendessen einladen dürfe. Ich erwiderte, dass ich seine Gastfreundschaft nicht überstrapazieren wolle, woraufhin er mir versicherte, dass es ihm eine große Ehre sei, einen so hohen Beamten als Gast bewirten zu dürfen. Ich wies das mit meinen Pflichten gegenüber meinen Soldaten zurück, was er mit großzügiger Unterstützung bei der Bewachung der Waren durch die lokale Garnison entkräftete. So gab ich mich schließlich bei der dritten Anfrage, mich einladen zu dürfen, geschlagen und gestattete es ihm. Das Abendessen musste ihn finanziell belastet haben, was ich hoffte, durch das von mir mitgebrachte Gastgeschenk halbwegs kompensiert zu haben. Zumal wir uns sehr gut verstanden und lange über Philosophie diskutierten.


    Am nächsten Tag hatte ich noch etwas Weiteres zu diskutieren. Die Boote waren nur bis hierher gemietet worden. Für das letzte Stück unserer Reise würde ich natürlich auch Boote benötigen. Das schien aber nur wenig Probleme zu machen. Huái'ān war bereits in der Guǎnglíng-Kommandantur. Die gleichnamige Festung war auch nur wenige Tage entfernt, so dass man recht schnell hier ankommende Frachtkähne requirieren konnte. Mir wurde damit auch schlagartig bewusst, dass sich mein Abschied von diesem faszinierenden Reich nun auch in greifbarer Nähe befand. Gerne wäre ich noch länger hier geblieben, aber ich hatte einen kaiserlichen Befehl zu erfüllen. Und wenn ich etwas über die hiesigen Gepflogenheiten gelernt hatte, dann war es, dass ich um jeden Preis versuchen musste, den Befehl zu erfüllen. Das Gebot die Sitte, aber auch die sehr reale Gefahr, bei Nichterfüllung hart bestraft zu werden. So genoss ich die drei Tage, in denen die Kähne organsiert wurden, um noch ein wenig mit den höchsten Beamten vor Ort zu diskutieren und den einen oder anderen Rat zu erteilen, bevor wir unsere Reise fortsetzten.

  • Der Kanal von Huái'ān nach Guǎnglíng führte wieder durch flaches Land. Er war sehr intelligent angelegt und nutzte die vorhandenen Gewässer. Vor allem die zahlreichen Seen speisten ihn mit Wasser und sorgten dafür, dass nur die Zonen in Ufernähe als Kanal ausgegraben werden mussten. Während unsere Boote ruhig über das Wasser glitten, fertigte ich Skizzen von schilfbewachsenen Ufern und Wasservögeln an. Später würde ich sie vielleicht zu Tuschemalereien verarbeiten oder in wissenschaftlicher Präzision meinen Reiseaufzeichnungen hinzufügen. Vielleicht auch beides.


    Während das Wetter zunehmend drückend heiß wurde, lediglich unterbrochen durch Regenschauer, kam auch der Wind fast nur noch aus südlichen Richtungen. Es war Sommer, den ich wahrscheinlich besser im Norden verbracht hätte. Eine Erleichterung in der Kleiderordnung gestattete ich mir nicht. Ich trug weiterhin die weiße, seidene Unterkleidung und das dunkelblaue, fast schwarze seidene Obergewand, sowie die seidene Kopfbedeckung. Bei unseren abendlichen Rasten übte ich auch weiterhin mit Wú Liàng den Schwertkampf. Je besser ich würde, desto einfacher könnte ich selbstständig weiterüben.


    Nach knapp einer Woche erreichten wir eine große Festung unmittelbar am von uns bereisten Hán-Kanal. Wasser aus dem Kanal speiste den Graben, der die große Festung umschloss. Ich ließ die Boote den Anleger nahe der Festung ansteuern. Als wir festmachten, traten sofort Soldaten auf uns zu, die nach unseren Papieren fragten. Ich trat selbstbewusst auf sie zu und verlas den Befehl des Prinzen Jiénzǐ. Dann verwies ich auf die Boote. Die Soldaten gaben den Befehl weiter und die Ladung wurde gelöscht, was ich persönlich beaufsichtigte. Es sollte ja nicht auf den letzten chǐ noch etwas verloren gehen. Der Zählung wohnte ich allerdings nicht mehr bei, sondern befahl, mich zum Kommandanten der Festung zu bringen. Kurz darauf begann es zu regnen.


    Ich wurde zu einem zentralen Gebäude im Innenhof der Festung geführt, welches von einer eigenen Mauer umgeben war und den Rest der Festung deutlich überragte. Dort ging es dann in einer zentralen Halle Treppen hinauf, allerdings nur bis auf die Höhe der Mauerkrone. Dann ging es nach einem Seitenraum weitere zwei Stockwerke nach oben. Dort betrat ich einen großzügigen Raum, an dessen großem Tisch sich ein Mann in Seidenroben erhob, ein paar Schritte auf mich zuging und sich verneigte. "Ehrenwerter Yúnzǐ, ich begrüße Euch in meiner Festung. Mein Name ist Jiāo Lóng, ich bin Offizier des höheren vierten Grades und der Kommandant dieser Festung."


    Ich erwiderte die Verneigung. "Ehrenwerter Jiāo Zhǐhuīguān, ich danke für Eure Begrüßung." Dann ging ich ein paar Schritte auf den Balkon zu, der eine großartige Aussicht über den Kanal und seine Mündung in einen großen Fluss bot. Der Regen hatte inzwischen fast aufgehört. Einen so großen Fluss hatte ich noch nie gesehen. "Das ist er also, der Cháng Jiāng," sagte ich leise vor mich hin.


    "Beeindruckend, nicht wahr?" sagte der Kommandant, "Manchmal nehme ich dieses Wunder als alltäglich hin, aber dann wird mir doch immer wieder klar, was für ein Privileg es ist, diesen Fluss aus dieser Perspektive sehen zu dürfen. Bitte, genießt die Aussicht, so lange es Euch beliebt, ehrenwerter Yúnzǐ."


    Einige Atemzüge lang nahm ich das Angebot an und sah mir die Landschaft an. Doch dann hatte mein Pflichtbewusstsein wieder Vorrang. Ich drehte mich zum Kommandanten. "Sobald die Waffen zweimal gezählt wurden, ist mein Befehl erfüllt. Ich erwarte, dass meine Soldaten so lange versorgt und gut untergebracht werden. Danach werden sie wieder zu ihrem Standort zurückkehren."


    "Natürlich, ehrenwerter Yúnzǐ. Selbstverständlich werdet Ihr Eurem Stand gemäß untergebracht. Werdet Ihr die Soldaten zurück begleiten?"


    "Das würde gegen den Befehl des Himmelssohns verstoßen, anschließend in meine alte Heimat zu reisen, um dem Kaiser von Dàqín Geschenke und eine Grußbotschaft des Himmelssohns zu überbringen." So hatte ich ein 'Nein' vermieden und zugleich auf meinen anderen Befehl hingewiesen.


    Damit hatte der Kommandant wohl nicht gerechnet. "Ähhmmm... und wie kommt Ihr nach Dàqín?"


    "Mit dem Schiff über das Meer. Zuerst nach Tiānzhú, dann weiter nach Dàqín."


    "Dann werdet Ihr noch eine Weile hier bleiben." Es klang wie die Feststellung einer Fakts, so wie man auch gesagt hätte, dass es gerade geregnet hatte. Der Kommandant musste erkannt haben, dass ich hierzu eine Frage hatte, und sprach weiter. "Die Winde sind ungünstig und ermöglichen erst ab dem Spätsommer oder frühen Herbst wieder zuverlässig nach Süden zu segeln. Bis dahin werdet Ihr Euch gedulden müssen."


    Das enttäuschte mich, doch ließ ich mir nichts anmerken. "Verstehe. Dann werde ich wohl länger in der Festung wohnen. Allerdings werde ich Euren Pflichten als Kommandant nicht im Weg stehen." Mir war es wichtig, das zu sagen, stand ich doch im Rang über ihm. Die Frage, die ich mir nun stellte, war, was ich in den nächsten zwei bis drei Monaten nun hier anstellen sollte. Dem Kaiser musste dieses Problem bewusst gewesen sein. Entweder wollte er mich testen, oder er wollte, dass ich noch etwas von seinem Reich sah. Sicherlich war ich hier in der Gegend, die am fruchtbarsten war. "Könnt Ihr mir ein Pferd zur Verfügung stellen?"


    Kommandant Jiāo verneigte sich. "Selbstverständlich. Wohin wollt Ihr reiten?"


    Die Verneigung erwiderte ich. "Danke sehr. Heute reite ich nirgendwo hin, doch sobald die Waffen gezählt und bestätigt sind, werde ich die Gegend am Fluss inspizieren. Wenn ich schon einmal hier bin, kann ich ja auch die Beamten vor Ort beraten und dem Sohn des Himmels Bericht erstatten. Der erste Eindruck ist durchaus gut, aber vielleicht ist mein Rat an der einen oder anderen Stelle hilfreich. Außerdem möchte ich mir noch ein Schwert anfertigen lassen. Mein jetziges ist für Zeremonien perfekt, aber zu wertvoll für den einfachen Kampf gegen Räuber oder anderes Gesindel."


    Bei dem Wort 'inspizieren' schien der Kommandant ganz leicht zu zucken. Als ich meinen positiven ersten Eindruck erwähnte, wurden seine Gesichtszüge aber sofort entspannter. "Ein Schwert werdet Ihr in Hǎilíng bekommen. Die Stadt ist ein wenig südöstlich von Hier am Fluss. Dort werdet Ihr später auch ein Schiff finden, mit dem Ihr in Richtung Tiānzhú reisen könnt."


    "Ich danke Euch. Wenn Ihr mich entschuldigt, ich wünsche die kaiserlichen Geschenke und mein eigenes Gepäck zu inspizieren."


    Der Kommandant verneigte sich und ließ mich den Raum verlassen. Draußen nahm mich sein Adjutant in Empfang und zeigte mir den Aufbewahrungsort der kaiserlichen Geschenke und meines persönlichen Gepäcks. Anschließend zeigt er mir die Festung. Sie dominierte die ganze Gegend und man konnte wohl bei klarem Wetter fast bis zur Flussmündung blicken.



    Sim-Off:

    Ein chǐ ist die chinesische Entsprechung des pes, d.h. in etwa ein Fuß, Zhǐhuīguān bedeutet 'Kommandant', Tiānzhú bedeutet 'Indien'.

  • In den nächsten zweieinhalb Monaten war ich viel in der Gegend unterwegs. Es ging direkt an den Cháng Jiāng, der in seiner Größe am ehesten mit dem Nil vergleichbar war. Obwohl mir der Nil sogar etwas kleiner in Erinnerung war. Ich nahm viele kleinere Aufgaben wahr, die ich mir zum Teil selber stellte. In der einen Gemeinde prüfte ich die Steueraufzeichnungen, in einer anderen zählte ich noch einmal nach, ob die Daten der letzten Volkszählung noch aktuell waren. Dazu hatte ich mir eigens die Aufzeichnungen kommen lassen. Doch in den meisten Fällen fragte man mich nach meinem Rat, den ich auch gerne erteilte.


    Die meiste Zeit verbrachte ich aber damit, abends mit niederen Beamten über Philosophie zu diskutieren. Dadurch konnten sie sich weiterbilden und vielleicht später aufsteigen. Ich bereitete auch Schüler auf die Aufnahmeprüfungen an der Tàixué vor, indem ich ihnen philosophische Fragen beantwortete. Dabei achtete ich darauf, zu betonen, dass meine Meinung von den Meinungen der Dozenten an der Tàixué abweichen konnte.


    Außerdem erreichte mich nach sechs Wochen ein Brief von Jì Mǐn, in dem er mir berichtete, dass sein Vater der von mir arrangierten Verbindung von Jì Mǐn und Tán Yù zugestimmt hatte. Die beiden wollten die nötigen Riten in drei Wochen durchführen und ich war herzlich eingeladen. Zu meinem Bedauern musste ich das ablehnen, schrieb den beiden aber einen Brief, in dem ich ihnen alles Glück der Erde und viele kluge Kinder wünschte.


    Wann immer ich abends in der Festung weilte, übte ich mich mit den Offizieren im Schwertkampf. Wú Liàng war nach zwei Wochen zusammen mit seinem Truppenkontingent abgereist, doch standen auch Jiāo Lóng und sein Stab meinem Anliegen positiv gegenüber und nahmen mich in ihre Übungen auf. Die Handhabung des Schwerts an sich musste nur selten korrigiert werden. Häufiger, wenn auch immer noch nicht oft, wurde meine Beinarbeit kritisiert. Um das zu verbessern, brachte man mir ein paar Übungen bei. Außerdem lernte ich noch Übungen, die mir helfen sollten, die für den Schwertkampf wichtigen Muskeln besser zu trainieren.


    Gegen Ende der zweieinhalb Monate merkte ich bereits, dass es tendenziell trockener wurde und die Temperaturen niedriger wurden. Außerdem gab es häufiger Winde vom Land auf das Meer, teils auch aus nördlichen Richtungen. Es konnte nicht mehr allzu lange dauern, bis die Winde für die Abfahrt günstig standen. Die nächste Hafenstadt an diesem Ufer des Cháng Jiāng war Hǎilíng. Hier fragte ich, ob ein Schiff nach Indien oder zumindest weit genug in die Richtung fahren würde. Leider wurde ich nicht fündig. Deshalb machte ich mich auf den Weg an das andere Ufer des Cháng Jiāng, in die Stadt Wúxī, der Hauptstadt des ehemaligen Reiches Wú. Die Stadt lag an einem letzten Zufluss oder Seitenarm des Cháng Jiāng, besaß aber einen großen Hafen. Vor allem wurde hier Seide allerhöchster Qualität gefertigt. Das nutzte ich, um ein paar Gewänder für meine Verwandten zu Hause anfertigen zu lassen. Außerdem ließ ich noch Vorhänge aus Seide fertigen. Das eigentliche Ziel meiner Reise konnte ich auch erfüllen. Ich fand ein Schiff, das bis vor die Küste Indiens segeln wollte, um mit Gewürzen zu handeln. So buchte ich eine Passage für zwei Personen und eine überschaubare Menge Fracht, die aber sehr wertvoll war. Der Kapitän teile mir mit, dass ich mich in drei Wochen wieder bei ihm einfinden sollte. Ab dann sollten die Winde günstig sein. Wann genau wir abfahren würden, konnte er nicht sagen. Das hing vom Wetter ab. Er versprach aber, auf jeden Fall bis zur vierten Woche auf mich zu warten.


    Zufrieden reiste ich wieder ab, um in der Festung Guǎnglíng meine Sachen für die Reise vorzubereiten.



    Sim-Off:

    Hǎilíng ist heute ein Distrikt der Stadt Tàizhōu, Wúxī liegt neben Sūzhōu an der Mündung des Jangtsekiang.

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