Sittengemälde eines Staates - Wofür man nicht zu kämpfen bereit ist das verliert man!
Leben wir nicht in Zeiten des Friedens und des allgemeinen Wohlstands? Das sollte man wenigstens meinen. Sicher, die kaiserlichen Legionen wachen über die Grenzen des Reiches, wohlwollend waltet der Kaiser über Recht und Gesetz und nie war das Leben eines römischen Bürgers angenehmer als heute.
Die meisten von uns besitzen Sklaven, die sie für sich arbeiten lassen.
Sie halten ihr Herz wie ein krankes Kind; jeder Wille ist ihm gestattet. Ihre Kräfte sind eingesperrt. All ihre Wirksamkeit läuft darauf hinaus sich die Befriedigung von Bedürfnissen zu verschaffen, die wieder keinen Zweck haben, als ihre arme Existenz zu verlängern.
Ich spreche von den täglichen Thermenbesuchen, den Orgien und Symposien, der Lust an den Spielen... kurz der Stagnation des politischen Lebens...
Was gestern noch galt, gilt heute nicht mehr...
Wir haben eine doppelte Moral: eine, die wir predigen, aber nicht anwenden, und eine, die wir anwenden, aber nicht predigen. Wovon ich spreche?
Ein junger Heißsporn ruft auf öffentlicher Straße zu Pogromen gegen Christen auf... wo waren die besonnenen Männer, die Vorgesetzten um solchem Treiben Einhalt zu gebieten und der Jugend frühzeitig Grenzen aufzuweisen? Überhaupt: Regiert nicht längst das Faustrecht?
Wie schnell werden leichtfertig Drohungen ausgesprochen. Kein Tag vergeht ohne das eine Fehde auf öffentlicher Straße zu eskalieren droht. Marcus Tullius Cicero schreibt: „Für freie Menschen sind Drohungen wirkungslos.“ Beten wir dafür, dass er Recht behält.
Der Tod eines unlängst Verblichenen bleibt beinahe unbemerkt... wo waren die Angehörigen, die Diener des Staates um solch trauriges Schicksal zu entdecken und dem Toten die Ruhe zu verschaffen, die ihm im Leben nicht vergönnt?
Die katastrophalen Verhältnisse in der Armee: Führerlose Soldaten maßen sich Amtsgewalt an und dringen in die Häuser unbescholtener Bürger ein. Ein junger Rekrut stört den öffentlichen Frieden. Wo bleibt die Disziplin? Schon mangelt es an jungen Soldaten - wer wird in Zukunft Kaiser und Vaterland schützen? „Vae Victis!“ ertönt es dereinst wieder vom Kapitol.
Auf dem Forum Publicum, der heiligsten Stätte öffentlichen römischen Lebens, wo sich dereinst die Geschicke des römischen Volkes entschieden, preisen die Händler heute ihre Dirnen... Das hohe Ideal römischer Tugend musste dem schnöden Mammon weichen... Wo einst die wahre - die römische - Wölfin herrschte, hausen nun die Wölfinnen...
Treu und Ehre werden täglich auf das Schändlichste verraten: Überall wird konspiriert. Die Intriganten schrecken selbst vor den Factiones nicht zurück, selbst die Wände haben Ohren...
Söhne und Töchter der großen Wölfin!
Ich weiß, dass vieles von dem Gesagten unbequem erscheint. Aber ist es nicht gerade Aufgabe des Censors auch unpopuläre Entscheidungen zu treffen und dort weiterzublicken, wo andere von ihren Leidenschaften gefangen gehalten werden?
Ein Politiker soll sich nicht sympathisch darstellen, sondern glaubwürdig, schreibt Plutarch. Das sehe ich genauso. Man kann sagen, dass drei Qualitäten vornehmlich entscheidend sind für den Politiker: Leidenschaft, Verantwortungsgefühl, Augenmaß. Alle drei glaube ich zu besitzen: Verantwortungsgefühl habe ich hinlänglich in meinen früheren Ämtern bewiesen. Auch das nötige Augenmaß habe ich stets walten lassen. Stets war ich bemüht gerecht zu sein. Dass ich leidenschaftlich bin, wird jeder von euch bezeugen können, der schon einmal an den hitzigen Diskussionen mit mir teilgenommen hat. Vielleicht keine gute Voraussetzung für das Amt des Censors werden einige von euch jetzt sagen. Sollte ein Censor nicht kühl und besonnen sein? Ich kann hierin keinen Fehler erkennen. Vielmehr empfiehlt es mich für das Amt: Füllt ein Würdenträger sein Amt nicht erst dann richtig aus, wenn er es mit Leidenschaft führt?
Als ich die dekadenten Lebensverhältnisse der heutigen Zeit verurteilte, da verurteilte ich nicht den berechtigten Anspruch eines jeden auf Reichtum und persönliches Glück. Ich selbst bin reich und habe persönliche wirtschaftliche Interessen. Was ich kritisiere ist vielmehr das reine Profitstreben einiger Zeitgenossen. Wie leicht werden die menschlichen Ideale, das Gerüst unserer Gesellschaft, auf dem Altar des Mammon geopfert... eine Gesellschaft ohne Werte - und das wird jeder zugeben - ist aber eine wertlose Gesellschaft. Niemand darf tatenlos zusehen wie Sitten und Bräuche unserer Väter verloren gehen. Ein jeder sollte hierzu sein eigenes Herz befragen. Wofür man nicht zu kämpfen bereit ist das verliert man!
Moral und Interessen gehören aber zusammen. Sie sind in der politischen Praxis aufeinander angewiesen. Wer für seine Interessen keine moralischen Grundlagen aufweist, der wird nur ihre Durchsetzbarkeit erschweren. Wer umgekehrt die moralischen Grundsätze ohne ihre praktische Bewährung im Entscheidungsprozeß über Interessenkonflikte vertritt, der wird zum Ideologen. Er erspart sich den notwendigen Schritt von der reinen zur praktischen Vernunft. Interessen ohne Moral sind unzumutbar, Moral ohne Anwendung auf die Interessen ist Schwärmerei. Beides ist unpolitisch.
Mit diesen Worten empfehle ich mich euch, meinen Mitbürgern, zur Wahl des Censor. Die
Zukunft Roms liegt in euren Händen!