Beiträge von Manius Flavius Gracchus

    Verstehend nickte Gracchus, auch er suchte nichts mehr zu meiden denn die Diskrepanz zwischen pflichtgetränkten Worten, unerreichbaren, pathetischen Erwartungen und dem eigenen, minder tugendhaften Abbild, denn wenig war mehr ihm zuwider denn Heuchelei, war doch auch jene nur eine Abart der abominablen Unwahrheit, welche er so sehr despektierte. Zum Vorteile seiner Umwelt jedoch, betrachtete Gracchus diese aus anderen Augen, denn aus jenen mit denen er auf sich selbst hinab blickte, würde doch kaum je sonstig ein Mensch vor seinen Ansprüchen bestehen können, und so er an sich selbst konnte ob seiner Unzulänglichkeiten permanent desperieren, so gab es doch kompensierend um ihn herum immer jene, welche beständig durch ihre Existenz das Gefüge des Equilibrium rekonstruierten, allen voran Aquilius - kaum einer würde sich mehr über all jenes hinweg setzen können, was Gracchus als sakrosankt erachtete, und dennoch nur seine Exkulpation oder gar Affirmation ernten. Gerade hinsichtlich dieser speziellen Chose wusste Gracchus nur allzu genau um seine Insuffizienz, und obgleich er dieser womöglich ohnehin gar wäre haltlos ausgeliefert, so war es doch das Wissen darum, welches ihm die Entscheidung, ihr zu verfallen, erst möglich, und sie so mehr als tolerierbar machte. Er delektierte diese Schwäche, tauchte in sie hinein, badete darin, verzehrte sie mit allen Fasern seines Lebens, so wie sich danach sehnte, dies mit seinem Vetter tun zu können. Bereits dessen Anblick ließ Gracchus in Verzückung schwelgen, so denn er sich die Pläsier dessen, die intensive Betrachtung gestattete, denn schmerzhaft war es jeden digitus auf Caius' Körper berühren, jede Faser riechen und jede Pore schmecken zu wollen.
    "Seite an Seite, Caius. Auf unsere Zukunft."
    Kühl und unverdünnt rann der herbe Wein Gracchus' Kehle hinab - Sciurus wusste um seine Aversion gegen süßlichen Speisen und Getränke, so dass er hinsichtlich des kredenzten Weines darauf Acht hatte - und wohlig agreabel breitete sich die klandestine Hitze von seinem Magen ausgehend über den gesamten Körper hin aus, gleichsam mit ihm die schweifenden Gedanken in eine Zukunft an Aquilius' Seite in der Curie. Wo Gracchus seinen Vetter und sich selbst anfänglich das weiche Wachs aus den Schreibtafeln kratzen, kleine Kügelchen daraus formen und nach vorne auf die zielscheibenförmigen, haarumkränzten, kahlen Hinterköpfe altehrwürdiger Senatoren werfen sah - ein Treffer auf die Platte zählte fünf, verfing sich die Kugel dagegen im Haarkranz, zählte dies nur einen einzelnen Punkt - schob er diesen Gedanken hastig mit einem panurgischen Lächeln bei Seite und sah alsbald das weiche Wachs in ihren Händen zu eindeutigen Formen sich gestaltend, was nicht weniger unangemessen für die Ernsthaftigkeit der curia würde sein. Er bedurfte pressant anderer, weniger verfänglicher Gedanken.
    "Du wirst einen Patron brauchen."
    Eine kurze Pause entstand, in welcher Gracchus mit sich haderte, ob der Empfehlung wegen, welche er angedachte, auszusprechen. Letztlich jedoch ging es um das Vorankommen der Familie, selbst wenn der ein oder andere dabei auf der Strecke blieb, es ging um Zukunft, welcher die dahinziehende Vergangenheit nicht durfte im Wege stehen.
    "Jedoch nicht Felix. Er ... ist nur mehr unzulänglich in der Lage, seinen Patronats-Pflichten nachzukommen, was die gegenwärtige Politik betrifft. Er ist zu fern dieser Politik."

    Zitat

    Original von Caius Flavius Aquilius


    Marginal nur schob sich Gracchus' rechte Braue ein Stück weit in die Höhe, nicht eben indigniert, doch keinesfalls affirmativ.
    "Ich bitte dich, Caius, diese sentimentale Betrachtungsweise wird eines Tages dazu führen, dass du ohne Besitz enden wirst. Sklaven sind, was sie sind, Funktionsgegenstände, sie dienen mir nicht, sie gehören mir, und sie funktionieren nicht aus Furcht oder Wunsch, sie funktionieren, weil es das ist, was ihnen zu eigen ist, weil es das ist, was sie sind. Sie sind substituierbar, Pilzen gleich sprießen sie aus einer Laune der Götter heraus aus dem Boden, um als Werkzeug jenen Männern zu dienen, welche größer sind als sie selbst, damit diese Männer ihre Ziele verwirklichen können. Sklaven sind die Mittel, welche uns von demselben göttlichen Willen gegeben wurden, welcher bedeutende Männer inspiriert und ein Reich wie das unsrige groß macht."
    Es war dies ein Thema, bei welchem Gracchus unnachgiebig war, nicht immer gewesen, doch im Laufe der Zeit geworden. Er hatte einen Sklaven geliebt, mehr als dies ihm zuträglich konnte sein, hatte ihn zum lebenden Wesen erhoben, zum gleichwertigen Geschöpf deklariert, und ihn dadurch dem Ende Preis gegeben, welches letztlich jedes Lebewesen ereilte - dem Sterben. Durch seine Schuld zudem hatte dieser den Tod gefunden, im Ansinnen seinem Besitz zu schaden, hatte man ihm den Geliebten geraubt, wo ein Ding hätte devastiert werden sollen, war ein Mensch liquidiert worden, und wo die Sache hätte permutiert werden können durch eine neue, blieb letztlich eine klaffende Wunde, eine tiefe, substanzlose Leere zurück. Mit einem großzügigen Schluck aus dem Becher, welchen noch immer er in Händen hielt, spülte Gracchus den bitteren Nachgeschmack der Tristesse seiner Gedanken hinfort.
    "Das Leben selbst zeigt tagtäglich, dass dies so ist, denn sie funktionieren bestens, gerade weil sie sich der Art ihrer Existenz bewusst sind, wie auch wir."
    Niemals im Leben hatte Gracchus sich mit halbgarer Ware abgegeben, jene Sklaven, welche er selbst erkieste, stammten aus bewährten Sklavengenerationen, mindestens aber waren sie unfrei seit Beginn ihres eigenen Lebens, geformt durch eine harte, römische Schule. Jene, welche für das Funktionieren der eher unscheinbaren Teile des Lebens zuständig waren - Nahrung zubereiteten, Wäsche wuschen, Wasser erhitzten, das Haus reinigten - und mitunter minderwertig, da aufmüpfig waren, um all diese kümmerte er sich nicht persönlich, ebenso, wie ihm unter diesen nicht würde auffallen, wenn einer von ihnen fehlte da er der Felonie war schuldig geworden und ob dessen nicht mehr Teil des Haushaltes, sondern durch einen anderen, von funktionsgleichem Typ war ersetzt worden.
    "Zudem muss ich dir auch in Hinsicht der Damen widersprechen, mein lieber Vetter. Es mag für dich äußerst deplorabel sein, dass sie bereits an meiner Seite liegt, doch indes bezweifle ich dennoch, dass du Antonia ihre Ehre möchtest absprechen, denn ihre Existenz beweist, dass eine ehrbare Frau auch in diesen Zeiten noch erdenklich und wahrhaftig sein kann."
    Nicht mit einem Blick bedachte Gracchus seine Gemahlin bei diesen Worten, gereichte es ihm doch bereits, ihren vermeintlichen Blick in seinem Rücken spüren zu können.
    "Indes ist diese unsere Ehe andererseits sicherlich ohnehin als exzeptionell anzusehen, ist Antonia doch eine derjenigen Gattinnen, welche unzweifelhaft keinerlei Gedanken ob konkurrierender Frauen muss verschwenden."
    Für einige Herzschläge hingen die Worte im mit Stimmengewirr gefüllten Raume nach, während Gracchus sich einen weiteren Schluck des äußerst delikaten Weines genehmigte, welcher ungebärdig in seinem leeren Magen sich entfaltete.
    "Vermutlich ist dies jedoch eine äußerst seltene Konstellation der Ehe und ob sie trotz allem erstrebenswert ist, bleibt als Frage bestehen."
    Ambivalent, waren seine Worte, indefinibel, ambigue und impenetrabel, zudem indifferent schienen sie gesprochen, doch in eben diesem Sinne gewünscht. Ein Blick, ein subliminales Nicken dazu, und ein stets aufmerksamer Sklave füllte den Becher erneut mit Wein auf.

    Einer dunklen, graufarbenen Masse gleich hingen die abendlichen Wolken über der Stadt der sieben Hügel, ließen die prächtigen Gebäude matt schimmern in trister Seelenlosigkeit, verschluckten das Glitzern des Tibers, welcher auf seinem fahlen Wasser neben der fastidösen Marmorierung des Himmels nur graufarbene Mauern spiegelte, graufarbenen Stein und graufarbene Menschen in sich verschluckte. Mit einem Krächzen erhob sich ein schwarzfarbener Rabe vor der Porta Appia, verlor durch den herannahenden Trauerzug in seinem Mahle gestört die Beute aus dem Schnabel, so dass der Körper der halb zerfressenen, pelzigen Maus achtlos neben dem steinernen Pflaster der Straße liegen blieb. Der Wagen, auf welchem der stroherne Leichnam aufgebettet lag, hatte gerade erst das Tor der Stadtmauer passiert, als die Wolken in einem tonlosen Ächzen unter ihrer Last barsten und ihren seit Beginn des Tages aufgestauten, nasskalten Inhalt auf die Erde hinab entließen. Dicke, runde Regentropfen platschten auf die Instrumente der Musikanten, klatschten auf die schwarzfarbenen Kutten der Klageweiber, prasselten hinab auf die Mimen, bedeckten für einige Herzschläge lang den weißen Stoff um den Leichnam mit dunkelfarbenen Punkten, bis dass das gesamte Tuch war durchtränkt. Unbarmherzig bedachte der Regen die flavische Familie, eilig wurden Kapuzen über Köpfe gezogen, denn obgleich nach einigen Schritten der Regenguss in seiner Härte nachließ, so schien ein beständiger, feuchter Schleier doch den gesamten Abend überziehen zu wollen. Starr blickte Gracchus auf die Pech getränkten, im Wetter flackernden Fackeln, welche vor der Stadtmauer waren entzündet worden. Die Kapuze seines Mantels lag über seine Schultern, unberührt, sein Haar hing in feuchten Strähnen ihm in die Stirne, Tropfen perlten von seiner Haut - seit der Barmherzigkeit Iuppiter Pluvius' längst nicht mehr nur extrinsische. Es war nicht weit genug bis zum Familiengrab der Flavia, der Verbrennungsplatz seitlich davon war bereits gerichtet, so dass der Leichnam, welcher keine Leiche enthielt, von dem Wagen direkt konnte auf den Scheiterhaufen gebettet werden, der im Hinblick auf die Wetterlage bereits beim Errichten mit Pech und Öl war durchtränkt worden, so dass auch bei Nässe die Zweige würden Feuer fangen. Dunkle, braunfarbene Blätter bedeckten das Holzgebilde, kein einziges von ihnen war welk, frisch von den Bäumen waren sie gepflückt worden, trotz der Jahreszeit. Nachdem die Trauergäste sich hatten um den Scheiterhaufen versammelt - die flavische Familie zuvorderst, Klientel dahinter - trat Salambó, die einstige Leibsklavin der Leontia zu Gracchus heran und überreichte ihm einen kleinen Beutel. Da kein Anteil des Körpers konnte von der zu Bestattenden Leiche genommen werden, um den Platz der Verbrennung zu weihen, so mussten bereits vor längerer Zeit verlorene Anteile des Wesens dies Aufgabe erfüllen. Diffizil war es gewesen, eine Spur Leontias im Hause zu finden, doch letztlich hatten sich die Leibsklavin daran erinnert, dass ihre Herrin noch immer ihre Milchzähne aufbewahrt hatte in einem hölzernen Kästchen mit goldenen Verschlägen, zusammen mit einem getrockneten Blumenstäußlein, einer alten Kinderpuppe, Muscheln, einem getrockneten Seestern und einer bunten Haarschleife. Den Beuteln mit Leontias kindlichen Zähnen in Händen kniete sich Gracchus auf die Erde nieder, beachtete nicht den aufgeweichten Zustand des braunfarbenen, seit Jahrhunderten mit Asche gedüngten Erdbodens, welcher sich in wenig klandestiner Weise in den Stoff seines Mantels drückte. Tief sog er die feuchte Luft um sich herum in seine Lungen, versuchte seine Stimme zu klären für jene Tat, welche folgen musste.
    "Dii inferiores, die Ihr auf diesen Orte Anspruch erhebt, gebt frei diesen Boden für die Tat, welche folgen muss, wie es Sitte ist, wie es Pflicht ist, wie es der Toten gebührt. Unterirdische, nehmt Euren Anteil, der Euch gegeben, wie es Euch gebührt, und gebt frei diesen Boden für die Tat, welche folgen muss."
    Mit bloßen Händen hob Gracchus eine Kuhle im Grund aus, legte den Beutel hinein und bedeckte ihn wiederum mit feuchter Erde, bevor er seine Hand noch einmal im Erdreich versenkte, mit einer Hand voll dessen sich erhob und die braunfarbene, matschige Masse behutsam auf die symbolische Stirn des Leichnames gab, beinah mit der Farbe der Erde darauf malte. Als er sich umwandte, trat sein Sklave Sciurus zu ihm hin, reichte ihm ein Tuch, um seine Hände zu säubern, und schlug aus einem gewachsten Leinenstoff eine lederne Transportrolle für Schriftstücke. Aus hellem Hirschleder war sie gefertigt, edel, mit geprägten, goldfarben gemalten Verzierungen, kleine Szenerien aus dem Leben der griechischen Musen, eigens für diesen Augenblick angefertigt, eigens dazu geschaffen, im Feuer der Bestattung zu vergehen. Ohne das Innere zu enthüllen, legte Gracchus das Behältnis neben den symbolischen Leichnam und trat zurück, um den übrigen Trauernden Gelegenheit zu lassen, ihre Gaben der Verstorbenen mitzugeben.

    Sukzessive füllte das Atrium sich mit Lebenden, obgleich die Schatten der Toten nicht fern schienen, waren die Grenzen zwischen den Reichen doch ohnehin dünn dieser Tage, mit der flavischen Familie - dem, was noch geblieben war - gleichsam wie auch mit Klientel, nicht nur dem dürftigen Häuflein, welches Gracchus und Aquilius ihr Eigen nannten, auch mit viel zahlreicheren in Rom heimischen Klienten Furianus' und Felix', welche auf diese Weise einer jener zahlreichen Pflichten nachkamen, um derentwillen sie bei Bedarf reziprok die Gust der Flavier genossen. Obgleich Gracchus liebend gerne die Zeit noch ein wenig hätte vor sich hin plätschern lassen wie das endlose Nass, welches dem Füllhorn der Fortuna in das impluvium entglitt, so war er sich doch dessen gewahr, dass die Pflicht indes Divergentes von ihm verlangte. So wandte er sich denn um, nun erst der gesamten Menge um sich herum bewusst, blickte über die Masken der Ernsthaftigkeit hinweg, erschauderte kurz beim Anblick des toten Rutger - war er Geist unter den Lebenden oder Person unter den Toten? - räusperte sich sodann leise, unnötig war es ohnehin, war doch das Klagen der Klageweiber mit seiner Drehung verstummt, und dahingehend auch alle anderen geflüsterten Gespräche.
    "Familia Flavia Romulus, zu einem äußerst desolaten Ereignis haben wir uns heute versammelt. Bereits vor einiger Zeit nahm das viel zu kurze Leben unserer geliebten Leontia sein Ende, ohne dass selbst uns vergönnt ist, ihre sterblichen Überreste der letzten Ruhestätte zu übergeben. Dennoch entbindet dies nicht uns von der Pflicht, den Riten gemäß ihre unsterbliche Seele von den irdischen Überresten zu lösen und eine sichere und gefahrlose Reise über den Fluss der Unterwelt ihr zu ermöglichen, auf dass eines Tages wir dort sie wiedertreffen werden."
    Ein unmerkliches Nicken deutete dem designator, dass jener für die Aufstellung des Trauerzuges mochte Sorge tragen, was dieser darum sogleich tat, augenblicklich wiederum vom tiefen Schluchzen und Heulen der sizilianischen Klageweiber begleitet. Die Musikanten stellten zuvorderst sich auf, begannen mit ihrem Spiel den Leichenzug aus der Villa hinaus zu tragen, ihnen hernach folgte das im Takte der Melodie jammernde Klagevolk, an welches sich die Mimen hin anschlossen - unter ihnen der archimimus, das artistische Duplikat Leontias und sie umringend, in ihren Kreis aufnehmend die flavischen Vorfahren - nahe Anverwandte, wie Leontia's Onkel und Väter so mancher Anwesender, doch auch die großen flavischen Kaiser und Politiker, zu welchen es ein wenig länger dauerte, die Grade der Verwandtschaft hin aufzuzählen. Sodann wurde der falsche Leichnam selbst aus der Villa getragen, von Aquilius, Gracchus und zwei Klienten bis vor das Tor der Villa, wo er auf einen Wagen wurde gebettet. Die Familie folgte dem Wagen, ihnen hernach die Klientel, hin zur Straße der Gräber.



    /editiert: Verlinkung.

    In graufarbenen Schlieren zog der feine Rauch empor, umschmeichelte die bemalte Statue der Pomona und verlor sich schlussendlich irgendwo im Halbdunkel unter der Decke des Tempels. Indes legte der junge minister weiter Räucherung nach, so dass der herbe Odeur nicht sich konnte verflüchtigen, sondern bald das Innere der cella ausfüllte und Gracchus' Nasenflügel leicht erbeben ließ als er den Duft tief in die Nase ein sog. Die Hände ausgebreitet wandte er sich der mit Blumenranken geschmückten, in die ferne Welt blickenden Göttin zu.
    "Pomona ambrosia, großmächtige Hüterin der Früchte, höre,
    Großes Lob der Menschen, welche alle dich verehren:
    Du, die Du Deinen Segen über Gärten, Wiesen und Wälder verteilst,
    Zu Dir Fruchtbarkeit und Fülle gehören.
    Durch Deine Kraft erwächst der Reichtum der Natur,
    Mutter der Obstbäume und Sträucher,
    Oh mächtige Pomona, vielfältige Saat ist in Dir!
    Ehrwürdiger Kern, mannigfaltige Form,
    Ernteverheißende, höre die heiligen Gebete wohlgeneigt.
    Den sakralen Riten wohne wohlwollend bei,
    Und gewähre ein fruchtbares Jahr, eine segensreiche Ernte."

    Seine Worte verklangen und wurden durch ein leises Rascheln und Scharren ersetzt, als die jungen ministri sich in Bewegung setzten und vor das Bildnis der Göttin traten, um ihre Gaben darzubringen. Der älteste, vielleicht an die fünfzehn Sommer - groß und schlacksig als wolle sein Körper erproben, wie weit er in die Höhe konnte wachsen, ohne dass er sich zur Seite neigen musste - hob vorsichtig die tönerne Amphore in seinen Händen und goss daraus rotfarben schimmernden Wein in die kleine Kuhle zu Füßen der Göttin, von wo aus die Flüssigkeit gluckernd und glucksend im Altarstein verschwand, bis dass nur noch vereinzelte Perlen glitzernd am Stein hingen. Nach ihm folgte ein Mädchen, gerade ins heiratsfähige Alter eingetreten womöglich, hob andächtig einen runden Opferkuchen empor und platzierte ihn sodann auf dem foculus. Ihr folgten im Gänsemarsch drei Knaben, jünger als 10 Sommer allesamt, die einen bunten Blumenkranz, einen kleinen Korb mit frischen Feldfrüchten und eine Schale voll purpurfarbener Trauben auf dem Gabentisch ablegten.
    "Pomona ambrosia, großmächtige Hüterin der Früchte,
    Zu dir weihen wir unsere heiligen Riten,
    Unseren Dank und unsere Bitte, Göttliche,
    Fur alle Früchte an den Bäumen unserer Gärten,
    Mögest Du in Deinem Glanz auf sie hernieder scheinen,
    Mögest Du sie Wachsen und Gedeihen lassen, Sprießen und Reifen.
    In diesem Jahr nimm unseren Dank, Quelle der fruchtbaren Fülle,
    Unser Gaben, wie es Dir zusteht, o mannigfaltige Göttin,
    Von welcher alle Frucht entspringt.
    Ernteverheißende höre mein Gebet,
    gewähre uns reichhaltigen Segen. "

    Einen kurzen Augenblick noch ließ Gracchus die Worte nachhallen in der Stille der knisternden Flammen und dem leisen Rascheln der verstohlenen Bewegungen, sodann wandte er sich rechtswendig um, nickte den jungen Helfern zu und strebte dem Ausgang des Tempels zu. Hinter ihm folgten die ministri geordnet und diszipliniert und für einen Moment ließ Gracchus seine Gedanken schweifen, wie es sein mochte, eine solche kleine Schar eigener Kinder hinter sich zu wissen, welche pflichtbewusst und eifrig ihren Dienst am Gemeinwesen bereits in jungen Jahren erfüllten. Die frische Herbstluft vor der Pforte kühlte jedoch seine Sinne recht bald, tobten doch - kaum die Stufen des Tempels verlassen - bereits die ersten beiden Kinder an ihm vorbei zu den sie geleitenden Sklaven hin und verursachten dabei einen Lärm, welcher Kindern möglich zugestanden werden muss, dennoch nicht das war, was Gracchus sich von den seinen erhoffte.

    Dass Corvinus' Verlobte nicht eben erfreut war, dies konnte Gracchus durchaus nachvollziehen, obgleich die Tatsachen für eine patrizische Verlobte mit Sicherheit einfacher zu ertragen waren denn für denjenigen, dessen Herz an seinem Geliebten hing. Bei seiner eigenen Gattin war Gracchus sich nicht sicher, ob sie über seine Neigungen wusste Bescheid, denn obgleich im Haushalt dies kein offenes Thema war, so blieben doch die Gerüchte unter den Sklaven nicht aus und Gerüchte, welche Sklaven tratschten, konnten letztlich auch zu den Bewohnern des Hauses vordringen, doch ging er ohnehin nicht davon aus, dass Antonia sich daran würde stören, interessierte sie sich doch weder für seine Belange, noch für seine Gedanken oder Emotionen. Aquilius' Worte jedoch über Corvinus samt auf ihn wirkende Anziehungskraft und sein Schmunzeln darauf missdeutete Gracchus nur um so mehr, unbeachtet blieb dabei das zarte Geschlecht, trieb es doch auch Caius' regelmäßig in seine Arme und seinen Schoß, doch letztlich änderte dies nichts an seiner tief in ihm innewohnenden Neigung. Wie Herbstblätter im Wind flogen die Worte an Gracchus vorüber, Aurelia Deandra, welche mittlerweile eine Claudia war, konnte kaum sein Interesse wecken, auch die Speisen, welche ihnen wurden offeriert nicht, einzig der Wein, welcher mehr noch statt das Bewusstsein um die Anwesenheit seiner Gemahlin hinab zu spülen nun auch dazu gereichte die Anwesenheit seines Vetters in sich zu ertränken. Weiter als bis zum letzten gesprochenen Satz reichte indes seine Aufnahmefähigkeit schon ohne Wein ob der emotionalen Konfusion nicht mehr aus, denn so sinnentleert schienen all jene Belange im Angesicht der Trostlosigkeit des Augenblickes.
    "Weshalb? Was tangiert eine Sklavin eine Verlobte? Noch weniger als eine Ehefrau, möchte ich meinen, denn wo könnte ein Mann sonst auf solch kostengünstige Weise seinen Bedürfnissen nachkommen? Und ist es eines dieser unsinnigen amourösen Gelöbnisse, so kann sie um so mehr froh sein, dass er sich mit einem Ding vergnügt, statt anderen ehrbaren Frauen und damit gleichsam ernsthaften Konkurrentinnen nachzusteigen."
    Ohne sich selbst dessen bewusst zu sein, sprach Gracchus nicht nur vom holden, weiblichen Geschlecht, weshalb ein Hauch von Vorwurf sich in seinen Tonfall hatte gemengt.
    "Davon abgesehen bringen Sklavinnen ohnehin nur Unruhe in eine Gemeinschaft, der effizienteste Haushalt baut noch immer auf Sklaven allein auf."

    Noch gab die Andeutung seiner Frau Gracchus Rätsel auf, war doch ihre Aussage völlig unpräzise, konnte doch in einem Stück mit einem Dutzend Protagonisten kaum jede patrizische Familie des Reiches, ja nicht einmal Roms karikatiert werden, obgleich ihre Worte begannen, ein wenig Misstrauen in ihm empor zu fördern. Sein Vetter und Freund war es indes, welcher ihm den Hammer vor den Kopf stieß und das Brett davor in Tausende Stücke zerspringen ließ.
    "Flavus Aquarus?"
    echote er den Namen eben jenes, verband dies mit dem restlichen Satz seines Vetters, welcher mehr als deutlich die Kernaussage enthielt, und seine Augen weiteten sich marginal, während sein Herz raste, nur um im Höhepunkt der Erkenntnis stehen zu bleiben. Das gesamte Stück zog noch einmal an Gracchus' innerem Auge vorbei, Flavus Aquarus' kokettierendes Spiel mit Priscilla, schlussendlich der Abgang mit Corvus - mit Aurelius Corvinus. Die Zeit blieb stehen, die Gespräche um Gracchus herum verwelkten zu einem tonlosen, dumpfen Plätschern, Farben verblassten, verloschen in der tristessen Tragödie des Augenblickes, Kälte umfasste die Welt, während die Distanz zu seinem Vetter neben sich trotz der wenigen digitus zu einer Schlucht sich ausweitete, welche breiter musste sein als das mare internum weit. Aurelius Corvinus. Nur war es ein Possenspiel gewesen, doch in jeder Parodie steckte ein Korn der Wahrheit, und war der Umriss dessen erst erblickt, so fügten sich auch die übrigen Steine des Mosaik. Niemals hatte Gracchus geglaubt, würde ein anderer Mann mit ihm in Konkurrenz treten, denn mochte Aquilius sich auch in der Damenwelt austoben, so wusste er doch, wie weit er konnte gehen - hatte Gracchus geglaubt, sein Vetter würde dies wissen. War es deshalb zwischen ihnen, wie es war, war die Flamme erloschen, zu einem Funken erstickt, wurde längst das Feuer durch einen anderen genährt, noch immer in unzüchtigem Laster, doch längstens nicht in solch trautem Maße? Konnte die unbändige Verzweiflung Caius so weit von ihm fort getrieben haben?
    "Nur bedeutende Persönlichkeiten wecken parodistisches Interesse, lass dir dies ein Trost sein."
    Es war ein Satz, welchen einst eine äußerst weise Person ihm hatte dargeboten, und bereits nachdem er war seiner trockenen Kehle echappiert, befand er ihn für verschwendet. Gracchus presste seine Kiefer aufeinander, starrte durch den Tisch hindurch als könne er dahinter am Boden wiederfinden, was er durch Aquilius' Offenbarung hatte verloren, gleichsam bemüht, die Contenance zu wahren, was in Angelegenheiten seinen Vetter betreffend schon immer einem Akt der Balance auf dem tarpeischen Felsen war gleich gekommen, was nicht wurde dadurch novelliert, dass zur Flucht vor dem Geliebten nur das Heil in der Flucht zu seiner Gemahlin Antonia hin blieb.

    Viele Worte, Gelegenheiten und Errungenschaften seines Lebens, welche ihn begünstigten, ihn ehrten oder auszeichneten, waren Gracchus in ihrer Tatsache oder auch nur Erwähnung zumeist unangenehm. Glückwünsche und Lob hinsichtlich der Aufnahme in den Senat und das Collegium Pontificium hatte er zuletzt zu zahlreich über sich ergehen lassen müssen, und hätte er eines von beidem noch mit halbwegs ruhigem Gewissen akzeptieren können, so war es in Kumulierung doch beinah zu viel, um es anzunehmen, ohne dass eine leise Reminiszenz an Täuschung und Betrug in ihm anklang. Dennoch gab es auch in seinem Leben Gelegenheiten, welche er ohne Bedauern, ohne schlechtes Gewissen und mit einem marginalen Anflug von blasierter Wonne konnte begehen. Jener Brief mit den künstlerisch gezierten, schwungvollen goldenen Lettern und die Folge daraus, waren eine solche Gelegenheit, mehr noch hatten sie zu stiller, euphorischer Freude in ihm beigetragen. Nicht einmal Gracchus fragte noch, weshalb und wieso, kein Gedanke war daran verschwendet, wie zu solch exorbitanter Ehre er konnte gelangen, denn wer zu Poppaea Sorana war geladen, der stellte keine Fragen, hatte keinen Sinn mehr für Zweifel, brauchte nicht einmal sich zu sorgen über zur Schau zu stellenden Esprit und Wortwahl. Er war. Inmitten der herbstlichen Ambience, der lumineszierenden Sonnenstrahlen, welche in feinen Säulen durch die Blätter der Bäume strebten, den Tisch am See mit ihrem Glanz und ihrer Wärme umschmeichelten, inmitten der blassen Leichtigkeit des feingeistigen Scharfsinnes, umhüllt von einer Membran aus symphonischem Wohlklang. Mit seinem Gewand in herbstlichem Rostrot mit beigefarbenen und goldenen Verzierungen gliederte er sich perfekt ein in die harmonische Kombination aus dem blaufarbenen Kleid an seiner Seite und dem leuchtend orangegelben Gewand auf der nächsten Kline. Poppaea Sorana achtete auf visuelle Harmonie, selbst bei der Platzvergabe, so dass eine den Sinnen schmeichelnde ästhetische Gesamtkomposition entstand, keine Rücksicht indes nahm sie auf die Durchmischung der Geschlechter, waren doch solcherlei Neigungen ohnehin an diesem Abend weit bedeutungslos, mochte der feinsinnige Geist die Vorzüge der Vermengung auch abseits des formvollendeten Bildnis erkennen. Obgleich Gracchus indes üblicherweise mehr gehemmt war durch die so marginale Distanz zum weiblichen Geschlecht, obgleich er förmlich durch sie eingekeilt war in diesem Moment, so war es doch nicht die Weiblichkeit, mit welcher er die Kline teilte, so war es der Geist, war es die Seele, das Wort. War es ihm nicht möglich, eine Frau ob ihrer Fraulichkeit zu lieben, so war es ihm mehr als nur möglich, sie ob ihres epiphanen Esprits wegen zu adorieren, wie er dies einst bei seiner Base hatte getan, und obgleich jene schöne Nymphe zu seiner Seite noch kaum ein Wort hatte gesprochen, so war sie doch hier. Die Namen der Familien wurden in dieser illustren Gesellschaft nicht genannt, keine Notwendigkeit bestand zu solcherlei, und obgleich Gracchus nicht genau wusste, woher er das Gesicht an seiner Seite kannte, so harrte fortwährend in ihm das Gefühl, sich an etwas erinnern zu müssen, zu dem jedoch er keinen Zugang fand. Indes sein Blick wandte sich ihrer Antwort und der anschließenden Frage folgend ohnehin zur Gastgeberin, auch sie an diesem Abend anmutiges Kunstwerk aus sich selbst heraus.
    "Es wäre mir eine Pläsier."
    In diesem Augenblicke jedoch wurden die Speisen aufgetragen, ein elysischer Odeur nach in Teig eingeschlagenen Nachtigallenzungen, in Setinier gegarten Purpurschnecken und pochierten Wachteleiern, gespickt mit Mandeln und übergossen mit Honig, durchzog die Luft und Poppaea Soranas Nasenflügel erbebten für einen Augenblick, erzitterten im heranwehenden Duft.
    "So soll es denn sein, nach dem Mahl. Doch nun greift zu, meine Freunde, und lasst uns die Speisen mit kurzweiligem Vergnügen garnieren. Gracchus, ein Spiel zum Mahl, um den Geist gleich dem Körper beschäftigt zu halten."
    Noch ehe die Aufforderung in ihrer Gänze ausgesprochen war, befand sich Gracchus bereits in seinem Gedankengebäude auf der Suche nach geeignetem Amüsement, war es doch bereits einige Zeit her, dass Gelegenheit zu solcherlei sich hatte gefunden. Schlussendlich zog er das Abbild seines Neffen Milo aus einer Schublade, welcher ein blitzendes Messer mit gebogener Klinge, eine sica, in Händen hielt - selbstredend war dies kein Bild seiner Erinnerung denn eine Assoziation.
    "Milos Mörder"
    , sprach er sodann.
    "Auch bekannt unter dem Namen Die Mörder vom Aventin."
    Eine Dame, schräg gegenüber, welche Poppaea als Vala hatte vorgestellt, klatschte entzückt in die Hände.
    "Eine vorzügliche Idee, dies lässt sich nahtlos mit dem Goutieren kombinieren."
    Auch die Gastgeberin nickt angetan.
    "So sei es, so sich niemand dagegen ausspricht? Bringt Wachstafeln herbei,"
    dirigierte sie.
    "Alexis wird die Aufgabe der Nox übernehmen."
    Jener Sklave, mit bronzener Haut und Augen so schwarzfarben wie sein Haar, klappte bereits die hölzernen Wachstafeln auf und notierte je ein Wort in ihrem Inneren, ehe er sie mischte und sodann je eine davon vor den Gästen auf dem Tisch ablegte.

    Festtag der Pomona


    Nicht nur das Schwinden der Lebenspracht wurde durch den Herbst herangetragen, im gleichen Atemzug, in welchem die Natur sich auf das Vergehen und den Tiefschlaf vorbereitete, bedachten die Götter die Welt noch einmal mit all ihrem Segen, mit dem Reichtum und Überfluss der Ernte. Eine eben dieser Göttinnen war Pompona, die Göttin der Früchte, welche an Bäumen wuchsen. Zwar zählten auch Kirschen hierzu, welche vorwiegend in den frühen Sommermonaten wurden gepflückt, und auch Pflaumen und Zwetschgen, welche sich im späten Sommer anschlossen, doch den reichhaltigsten Erntesegen brachten noch immer Äpfel und Birnen, welche im Herbst wurden geerntet, weshalb hier auch das Fest der Pomona wurde gefeiert, um jener ihren Segen zu danken. In alter Zeit, eingeführt durch die Könige Roms und bis zum Anbruch der Kaiserzeit fortdauernd, hatte ein einziger Priester sich persönlich um die Belange der Obstgöttin bemüht, und obgleich der flamen Pomonalis der niedrigste im Rang der gesamten flamines war gewesen, so konnte doch nicht jede Gottheit von sich behaupten, mit dererlei Aufmerksamkeit bedacht zu werden. Dieser Tage war jene Spezialisierung nicht mehr zeitgemäß, viel wichtiger als jene Götter, an welche nicht fortwährend wurde gedacht, war der Kult des Imperators, so dass statt den flamines minores nun die flamines zur Vergöttlichung der Kaiser hatten Einzug in die Spitze des Cultus Deorum gehalten. Die Zelebrierung der Feiertage, wie jene der Pomona, fiel somit den Pontifices ganz allgemein zu. Die Zelebrierung des Feiertages der Pomona in Rom in diesem Jahre fiel speziell Flavius Gracchus, einem der jüngsten Pontifices im Collegium zu. Strahlend weiß lag die Toga um seine Schultern, verbarg die secespita - jenes Zeichen seines Amtes - an dem Gürtel, welcher die Tunika darunter band. Ein frischer, morgendlicher Wind wehte durch die Straßen Roms und obgleich Händler und Handwerker bereits unterwegs waren, so zeigte die Stadt sich doch noch in einem friedlichen, beschaulichen Bild, denn vielen Bürger standen zu dieser Stunde in den Atrien ihrer Patrone, um jenen die morgendliche Aufwartung zu machen. Der Festtag der Pomona war kein dies nefastus, an welchem die Arbeit ruhte, sondern ein gewöhnlicher dies fastus, an welchem selbst Gerichtsverhandlungen stattfanden, und somit war auch der Ritus der Göttin zu Denken kein sonderlich populärer, sondern eine von jenen Gelegenheiten, an welchem die Pontifices ihrer Pflicht nachgingen, damit der Rest des Imperium Romanum nicht musste für solcherlei Sorge tragen - denn dies war ihre Aufgabe. Während draußen vor der Stadt im Pomonal, jenem heiligen Hain an der Straße nach Ostia, der Göttin wurde ebenfalls ein kleines Dankesfest zelebriert, vollzog Gracchus den Ritus im Tempel in Rom. Kalt und Frisch umschmeichelte das kühle Wasser seine Finger, als er die Hände in das Becken neben der Pforte tauchte, um sie zu reinigen. Junge minsitri standen bereits im Tempel bereit, die Opfergaben in Händen haltend, manche noch Kinder, welchen ob der frühen Stunden noch der Schlaf in den Augen stand. Nachdem er eine Falte seiner Toga sich über den Kopf hatte gezogen, trat Gracchus in den im sanften Licht der Öllampen und Kerzen flackernden Tempelraum hinein, vor das Bildnis der Göttin, welche Frucht und Füllhorn in Händen hielt. Da der Junge, welcher das Räucherkästchen hielt, nicht eben aufmerksam blickte, sondern müde binzelnd den Boden zu seinen Füßen betrachtete, legte Gracchus ihm eine Hand auf die Schulter und flüsterte leise.
    "Du bist dran."
    Erschrocken hob der minister den Kopf, Scham hatte den Schlaf aus seinen Augen vertrieben und er murmelte eilig eine leise Entschuldigung, welche Gracchus ein leichtes Schmunzeln auf die Lippen trieb. Die kleinen, schmalen Kinderhände öffneten umständlich das Kästchen, in welchem die goldfarbenen Harzkörner, gemischt mit verschiedenen trockenen Kräutern aufbewahrt waren, griffen hinein und streuten schließlich von der Räucherung über die glühenden Kohlen.

    Überschwang hatte in Gracchus' Leben bisherig vorrangig zu desaströsen Katastrophen geführt, weshalb er um so mehr war darauf bedacht, jenen zu vermeiden. Ausgiebig hatte er die Jugend mit seinem Vetter Aquilius genossen, manches mal - gerade in den Zeiten, in welchen ihr Vetter Aristides in Achaia weilte - auch ausschweifend, doch davon abgesehen zumeist beherrscht, wohlüberlegt und auf geistiger Ebene. Als Gracchus sich von all dem hatte abgewandt, geglaubt, gegen den Sinn seines Vaters revoltieren zu müssen, über sich hinauswachsen zu können, in klandestiner Weise dem emotionalen Überschwang hatte gefrönt, hatte dies letztlich nur dazu geführt, dass er jenen einzigen Menschen durch seine eigene Schuld hatte verloren, welchen er in bedingungsloser Hingabe hatte geliebt und hatte lieben dürfen. Jene mehr als nur deplorable Episode seines Lebens hatte nur um so mehr dazu geführt, sich hinter die Mauern der Beherrschung, der Abschottung zurück zu ziehen, einzig Caius an einem Part seines Innersten teilhaben zu lassen, doch letztlich hatte auch dies erneut wiederum zu einer katastrophalen Wendung geführt, hatte die Leichtigkeit zwischen ihnen zerstört, hatte Gracchus noch mehr in sein Innerstes zurück getrieben. Er sehnte sich danach, seinen eigenen Sehnsüchten nachgeben zu dürfen, er verzehrte sich nach ein wenig Freiraum, doch Rom duldete solcherlei nicht, nicht sein Rom, und viel schlimmer noch, nicht seine Familie.
    "Es ist gut, wenn sich jemand um einen sorgt, denn dies beweist, dass man nicht vergessen ist. Marcus kann sich darum glücklich schätzen. Viel schlimmer als den Puls findet er im Übrigen das Essigwasser. Du kennst sicherlich die Gerüchte, dass mein Vetter Felix den exquisitesten Weinkeller des Imperium noch vor dem des Imperator besitzt. Nun, ich mag darüber nicht urteilen, kenne ich doch den des Kaisers nicht, doch der meines Vetters ist durchaus äußerst erlesen und Marcus teilt mit seinem Bruder den guten Geschmack. Er hat eine unglaubliche Freude am Verzehr von Köstlichkeiten, doch mehr noch am Goutieren eines feinen Weines, so dass das saure Wasser ihn mehr betrübt als der Feind selbst."
    Wiederum schlich sich ein Lächeln um Gracchus' Lippen, war er doch ein durchaus humoriger Mensch, doch ließ er auch dies selten mehr als nur durch subtile Andeutungen aus sich heraus dringen. Doch hatte Epicharis etwas an sich, was ihn eben in dieser Zeit der Freude geradezu herausforderte. Ganz anders als seine Gemahlin schien sie Gracchus doch, selbst dann, wenn sie in einer Ehe nicht glücklich war, würde sie dies vermutlich zeigen, würde Tränen vergießen oder ihren Gatten mit Flüchen bedenken, doch sie würde sicher nicht unnahbar, abweisend und kalt wie die Winterstürme des mare internum ihn mit Missachtung strafen. Epicharis lachte, sie tanzte, sie hüpfte und kicherte, und dies faszinierte ihn. Die einzig emotionale Regung, welche Gracchus je an Antonia hatte finden können, war jene, kurz bevor sie dem kleinen, gemeinsamen Tode zum Opfer fielen, und selbst da er keine Leidenschaft erwartete, welche er selbst nicht würde erwidern können, selbst da er keine innigen Emotionalitäten erwartete, so wünschte er doch, dass irgendetwas würde zwischen ihnen sein, etwas, das Fern der Kälte war, etwas, das ihm nicht fortwährend in ihrer Anwesenheit das Gefühl gab, das größte Ungeheuer zu sein, welches auf Erden je wandelte.
    "Die Götter werden ihn schützen."
    Er wollte nicht erwähnen, dass Mercurius ebenfalls zur Aufgabe hatte, die Seelen der Verstorbenen sicher hinab bis zum Fluss Styx, bis zum Rande ihrer neuen Heimat zu geleiten, doch war es dies, was ihm kurz durch die Sinne zog. Jedoch Epicharis wechselte bereits das Thema.
    "Serenus? Er befindet sich wohl. In der Tat war er in Alexandria, um dort seine Studien voran zu treiben."
    Dass der Junge zur Bestattung seiner Tante zurück gekehrt war und dass eben er bei dieser Rückkehr durchaus widerspenstig war und Gracchus nicht im Geringsten wusste, wie mit dem Kind weiter zu verfahren sei, dass er nur unfähig war, Serenus all jenes angedeihen zu lassen, was der Junge brauchte, dies alles erwähnte Gracchus nicht. Wenn Epicharis Glück hatte würde Aristides erst in einigen Jahren nach Hause zurück kehren und Serenus bis dahin ein Mann sein.
    "Ich selbst war noch nie in Africa. Meine Mutter und meine Schwester lebten in Alexandria."
    Er sprach es aus, als wäre dies der Grund, weshalb er nie dort war gewesen und vielleicht war es dies.
    "Obgleich mich die große Bibliothek und das Museion würden sehr reizen, so kann ich doch dem Meer und seiner Überquerung wenig nur abgewinnen."
    Wie auch dem Reisen an sich. Die kurze Passage zwischen Achaia und Italia war ihm für Gewöhnlich bereits ein Graus gewesen, so dass er fast nie den bequemen Weg gänzlich über das Meer hatte gewählt, sondern stets hatte versucht über Land zu reisen, benötigte das Vorankommen mit einem guten Pferd doch kaum viel mehr Zeit. Ohnehin boten Schriften und Berichte ihm eine viel agreablere Art des Vorankommens, denn mochte er sich auch der Unbequemlichkeit des Reisens mit stoischer Gelassenheit und spartanischen Ansprüchen konnte stellen, so empfand er dennoch das Explorieren der Welt als viel zu aufrüttelnd. Gerade seine letzte, ein wenig unfreiwillige Reise bis in den Hafen Alexandrias und zurück, ohne einen einzigen Schritt weit auf das Land zu tun, hatte ihm dies mehr als deutlich vor Augen geführt.
    "Doch nun bleibt mir dies ohne Erlaubnis des Imperators ohnehin verwehrt. Weshalb wirst du dich nach Africa begeben?"

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    Mit einem gewaltigen Schlag, als die Schwerter der sodales auf die Schilde krachten wie ein einziges, endete die Darbietung der salii collini und salii palatini auf der Kuppe des aventinischen Hügels. Mit glasigen Blicken standen die Tänzer auf dem Platze vor dem Altar, ihre Bäuche hoben und senkten sich unter den Rüstungen, manch einer schnaufte hörbar, Schweiß lief unter den Helmen hervor, ließ Schläfen und Stirne glänzen. In gänzlicher Frische strahlte dagegen das Antlitz des Pontifex, welcher vor dem Altar nun seine Arme ausbreitete, um nicht nur die salii, sondern alle Soldaten des römischen Imperium in ihrer Gesamtheit zu umfassen.
    "Soldaten Roms! Am heutigen Tage seid ihr versammelt, um die Reinigung der Waffen anzunehmen, stellvertretend für jeden einzelnen römischen Soldaten im gesamten Imperium Romanum und darüber hinaus! Am heutigen Tage gilt euer und unser Dank dem unsterblichen Mars, stellvertretend für den Dank jedes einzelnen römischen Soldaten im gesamten Imperium Romanum und darüber hinaus!"
    Hinter dem Pontifex reihten sich Ministri auf, in je einer Hand Schalen mit glühenden Kohlen balancierend, die andere bereit in einem Beutel an den Gürteln der Tuniken voller Weihrauchkörner stecken.
    "Mars aeternus, höre unsere Worte, blicke herab auf unsere Bitte!"
    Die Ministri setzten sich in Bewegung, begannen die sodales in einem rechtswendigen Kreis zu umrunden, dabei die Räucherkörner auf die heißen Kohlen zu streuen, so dass bald ein graufarbener Nebel um die Salier herum wehte, langsam sich zum Himmel hin aufmachte.
    "Mars aeternus, wie es Dir zusteht, so sagen wir Dank am Ende des kriegerischen Jahres, so bitten wir um Deine Gunst, dass Frieden unser Reich überziehe, dass unsere Soldaten Zeit finden zur Regeneration, dass unser Heer erstarke für den nächsten Angriff!"
    Ein Schwein wurde heran geführt, mit Kupferpartikeln rotfarben eingefärbt, ihm hernach ein Schafsbock in natürlichem Rotbraun, gefolgt von einem jungen Stier, dessen rotfarbenes Fell man ebenfalls hatte mit Kupferpartikeln aufgewertet. Geschmückt waren sie allesamt, wie der Ritus des Opfers dies gebot, die Hörner von Bock und Stier vergoldet, ebenso die Hufen, Stier und Schwein mit dorsule über dem Rücken und rotfarbene und weiße Binden um den Kopf des Rindes. Die Tiere wurden durch den Pontifex dem Mars gebührend durch Wein und mola salsa geweiht, sodann trat jener von den Opfergaben gefolgt die Umrundung der salii an.
    "Pater Mars, wir bitten Dich inständig, Du mögest gnädig sein und geneigt gegenüber Rom, dem römischen Heer und seinen Soldaten, aus welchem Grund wir heute Suovetaurilien um die Streiter Roms führen, damit Du sichtbare und unsichtbare Mängel, Verheerung, Unheil und Schmutz aufhalten, verhüten und abwenden mögest und damit Du Makel nimmst von Rüstung und Waffen der tapferen Krieger, welche in Deinem Namen die Feinde des Imperium Romanum niederstreckten, sie von Niedertracht und Bosheit säuberst und ihnen neue Stärke und Glanz einverleibst, damit Du Deine Söhne führst, und wohl erhältst uns, dem römischen Volke, zu unserem Schutze und unserem Wohl, aus diesem Grunde, unser Heer zu entsühnen und das Lustrum durchzuführen, wie ich gesagt habe, sei durch diese Suovetaurilien von noch säugenden Tieren verherrlicht: Pater Mars, sei aus diesem Grunde durch die Suovetaurilien verherrlicht!"
    Um das kleine, symbolische Heer herum geführt, wurden die Tiere nebeneinander aufgereiht, die Opferschlächter hielten sich bereit, auf ein Zeichen des Pontifex ihre Kehlen zu durchschneiden oder im Falle des Stieres die Halsschlagader mit dem wuchtigen Schlag eines Beiles zu durchtrennen. Stille kehrte ein, ein dreifaches "Age?" wurde gesprochen und dies durch den Pontifex bestätigt durch jenes obligatorische, so oft in Rom vernommene "Agone.". Blut schoss aus den Kehlen, wie in einer kleinen Kaskade aus dem Stier, dem Schwein, dem Schafsbock, plätscherte hinab in goldene Schalen und als jene gefüllt waren über deren Rand auf den steinernen Boden. Mit filigranem Schnitt wurden hernach die Leiber geöffnet, die Eingeweide entnommen und zur Begutachtung dem Pontifex vor gelegt. Kaum war die litatio eine Frage, doch hatte es den Anschein, als würde jener sich intensiv mit den Innereien der Tiere befassen und womöglich tat er dies, nur um das tatsächliche Ergebnis in später viel kleinerer Runde mitzuteilen, während vor den versammelten Bürgern Roms, vor den Verbänden der salii collini und salii palatini indes er alsbald lauthals verkündete:
    "Litatio!"
    Die Reinigung war somit geglückt, der symbolischen Beendigung der Kriegszeit stand nichts im Wege, obgleich wohl alle Anwesenden sich dessen waren gewahr, dass der Krieg in Parthia nicht würde ruhen, auch im Winter nicht.

    Zu Anfang wunderte Gracchus sich, dass die Decima nicht vom Tode seines Bruders wusste, doch alsbald dämmerte ihm, dass außer Aquilius und ihm niemand darum wusste, war doch Quintus zudem im Namen seiner eigenen Person auf der Reise gewesen, dass selbst Passagierlisten nur würden Flavius Gracchus verzeichnen, doch da jener sich lebendig in Rom befand, ein Irrtum würde angenommen, so dass das Entschwinden seines Bruders war der Welt entgangen.
    "Ich bin sicher. Er starb auf dem mare internum."
    Nichts musste sie erfahren von der Farce des Personentausches, indes würde dies letztlich nur bedingen, seinen eigenen Weg als Quintus Tullius aus dem römischen Umland her zu erwähnen, nichts musste sie zudem erfahren, über jene rabiate Methodik, derer sich Quintus hatte bedient, war dies doch etwas, was Gracchus erfolgreich hatte versucht zu verdrängen, so dass letztlich nur das nie gekannte, doch gern gekannte Abbild seiner Selbst blieb, der verlorene Teil eines vermissten Lebens.
    "Hattest du Gelegenheit, ihn ein wenig näher kennen zu lernen? Was für ein Mensch war er?"
    Hunger verspürte Gracchus wenig, doch auch er nahm einen Schluck des Weines, um seine Kehle zu befeuchten.

    Ein Stück der Stopfleber, getränkt in reichlich Garum, rutschte Gracchus' Kehle hinab, so dass diese alsbald wieder frei für Worte war, und er sich wieder in das Tischgespräch, welches eine überaus merkwürdige Richtung hatte genommen, einklinkte.
    "Denkst du nicht, dass eine Verschwörung ein wenig weit hergeholt ist, Tiberius? Prudentius Commodus war sicherlich kein unumstrittener Mensch, zudem fand er seinen Tod kurz vor dem Ende der Amtszeit. Weshalb sollte jemand sich die Mühe machen, einen Consul zu beseitigen, welcher ohnehin kurz darauf sein Amt nieder gelegt hätte? Welchen Sinn würde dies machen? Auch der Praefectus Urbi Octavius mag den Zorn einzelner auf sich gezogen haben durch die letzte Welle seiner Edikte. Zudem, ein Mann, welcher tagtäglich gewichtige Entscheidungen zu treffen hat, wird niemals nur Freunde haben, und manchem sind diese Entscheidungen möglicherweise einen Mord wert, wenn auch vielleicht nur im Affekt. Doch zwei Attentate in Rom gereichen sicherlich kaum dazu, den Imperator einen Feldzug abbrechen zu lassen, er hat immerhin noch genügend Männer, auf welche er sich verlassen kann."
    Zumindest ging Gracchus von solcherlei aus, waren die letzten politischen Unruhen in der Stadt und deren Umland - sah man vom Agieren einzelner, geistig Verwirrter einmal ab - doch bereits eine kleine Ewigkeit her und der einzige Anschlag auf den Imperator selbst, dessen Gracchus sich erinnerte - obgleich nicht wollte erinnern - kam aus seiner eigenen Gens und war Affekt eines mehr als nur geistig verwirrten, minderbemittelten Subjektes, welches nicht einmal den Hauch einer Erinnerung wert war.

    Auch Gracchus hob das Glas und gab ein wenig vom kostbaren Inhalt für die Götter hin, mehr jedoch in allumfassender Weise, war nicht einzigst Mars für das Wohl eines Soldaten zuständig, wenn auch primär, gleichsam war es eine Opfer die Zukunft betreffend, das Wohl der Familie, die Bitte Unheil von ihr abzuwenden, wie es so oft Ansinnen seiner Gaben war, wiewohl notwendig. Er lauschte den Zweifeln seines Vetters, viel zu bekannt schienen diese ihm selbst, und obgleich Aquilius nicht in dem Übermaß an sich selbst und seinem Leben haderte wie er dies selbst so oft wieder und wieder tat, so wusste Gracchus, dass auch sein geliebter Freund in sich mehr barg als das unprätentiöse Leben, welchem er sich gerne hin gab. Das Lächeln, welches sich um Gracchus' Lippen legte, war stille Freude über Aquilius' Erkenntnis, die sich nahtlos in sein eigenes Entzücken hin einfügte, denn was könnte mehr zur Freude ihm gereichen denn das wohlergehende Fortschreiten seines Geliebten?
    "So fügt sich denn eines zum anderen, mein Freund. Du hast lange genug versucht, dieses Leben von dir fern zu halten, doch letztlich bist auch du mehr Flavius als du je zugeben willst. Du magst dich hinter der Lethargie deiner Familie verstecken, deine römische Verwandtschaft akzeptiert dies mehr als nur bereitwillig - ist es doch das, was sie möchte sehen - und ich werde der letzte sein, welcher dich in dein Schicksal treibt, denn du weißt, zu solcherlei tauge ich nicht. Doch vor dir selbst und deinem Erbe kannst du dich nicht verstecken, Caius."
    Ein nun beinah strahlendes Lächeln zog Gracchus' Lippen auseinander, bis dass sie sich schließlich mussten öffnen und selbst seine Zahnreihe im Lachen sich entblößte.
    "Ich liebe dich, Caius."
    Mit einem langen Schluck spülte er die Worte aus seiner Kehle, zurück in sich hinein, auf dass sie niemals würden in ihm fehlen. Auch hernach wich nicht die Freude aus seinen Zügen, die Euphorie aus seinen Augen, die Entzückung, die in Anwesenheit seines Freundes mehr geduldet war als sonst.
    "Du hast es also bereits erfahren? Oh, ich sage dir, Caius, es ist ein trister Verein. Kein einziges Wort habe ich bisherig gesprochen, in der letzten Reihe habe ich meinen Platz gefunden und versuche zu verstehen, wie diese Politik sich voran treibt, erstaunt und verwundert zugleich, wie dies tagtäglich funktionieren soll und kann, auf den Moment lauernd, in welchem ich selbst einen sinntragenden Satz werde beisteuern können, dauert es mich doch, so viele leere Worte in der Pracht des Saales verschwendet zu sehen. Vielleicht wird es somit indes dein Name sein, welchen zu allererst ich werde in die Curia entlassen, was könnte schöner, was könnte prächtiger, was sinntragender sein, was könnte ich lieber tun wollen? Oh, Caius, bitte mich nicht um einen Gefallen, da du weißt, ich würde dich auf Händen hinein in die Curie tragen. Dein Wort und ich werde dich tragen, soweit mein Atem anhält. Auf dich, mein Freund, auf deine Zukunft!"
    Er erhob erneut den Becher und prostete Aquilius in heiterem Frohsinn zu.

    Unmerklich schob sich Gracchus' rechte Augenbraue ein Stück weit auf seiner Stirne empor bei dem Vorschlag seines Amtskollegen, eine Frau in das Collegium Pontificium aufzunehmen. Es war nicht, dass er von jener längst überholten, konservativen Art war, welche den Platz einer Frau einzig im Schlafgemach der heimischen Villa sah - gegenteilig, er war meist überaus froh, seine Gemahlin dort nicht vorzufinden - er begrüßte durchaus weibliches Engagement, wie es bisweilen die Senatorinnen Aelia Adria oder Tiberia Livia hatten gezeigt, und gerade im Cultus Deorum war Frauen ein durchaus weitreichendes Betätigungsfeld gegeben, in welchem viele von ihnen brillierten. Hätte man noch vor einigen Monaten ihn nach seiner Anschauung in Hinsicht auf weibliche Pontifices gefragt, so hätte vermutlich er sich in positiver Weise geäußert, schlussendlich war auch die Tiberia Claudia ein ehrenwertes Mitglied des Collegium gewesen. Doch nun war er selbst Pontifex, er war in diesem derzeit überaus maskulinen Collegium, um sich mit all seinem Schaffen und Elan einzubringen, doch dies würde ihm kaum noch möglich sein in Anwesenheit einer Frau, so befürchtete er. Er verstand sie nicht, die Frauen, sie waren ihm ein Rätsel, sie führten zu Faszination und Furcht gleichermaßen in seinem Innersten. Er hatte nicht gelernt, mit ihnen umzugehen, hatte nicht versucht, sie zu ergründen wie seine Vettern, hatte sich stets mit Männern umgeben, sich mit den Hinweisen der Literatur begnügt, auf welche Art und Weise eine Frau durch ein beiläufiges Kompliment zu erfreuen war - und selbst daran scheiterte er nur allzu oft, besonders hinsichtlich seiner Gattin. Die nähere Konfrontation mit einem weiblichen Wesen und seiner überaus immensen Emotionalität warf ihn stets aus den gewohnten Bahnen der Contenance, nicht nur Antonia gab immer wieder zu solcherlei den Anstoß, auch die ungestüme Art weiblicher Verwandtschaft. Obgleich solch emotionale Explosionen kaum im Rahmen des Collegium Pontificium würden vonstatten gehen, verspürte Gracchus dennoch innere Unruhe und Ablehnung ob eines Aufnahme der holden Weiblichkeit, welche vermutlich die unterste Schwelle der ihm immanenten Furcht war, was er jedoch nicht einmal sich selbst gegenüber würde eingestehen. Obgleich all dieser Gedanken erhob er sich schlussendlich, denn persönliche Präferenzen und Ängste durften niemals über Wohl und Gedeihen des Imperium Romanum entscheiden, geschweige denn Verstand und Geist zurück drängen.
    "Werte Collegae, wäre nicht ein geeigneter Ansatzpunkt zur Besetzung eines solchen Amtes adäquate Kandidaten aufzuzeigen, welche die notwendigen Voraussetzungen erfüllen - welche, wie sicherlich nicht erwähnt werden muss, weder von ihrem Stand, noch ihrer Herkunft, noch ihrem Geschlecht dependieren. Selbst jene Verfechter, welche sich für die Besetzung eines Pontificates durch eine Frau aussprechen, werden sicherlich zustimmen, dass eine Frau nicht Einzug in das Collegium sollte finden, um der Weiblichkeit willen, sondern einzig ob ihrer Verdienste, ihrer Bemühungen, ihrer Eignung und Untadeligkeit wegen."

    Ein exorbitantes, schicksalergebenes Aufseufzen drängte sich tief aus Gracchus' Brust heraus und versuchte seine Kehle empor zu klettern, doch jener wäre nicht er selbst, wüsste er solcherlei nicht zu supprimieren, so dass stattdessen ein feines Lächeln seine Lippen kräuselte und er seiner Gemahlin zunickte.
    "Welch agreable Entscheidung."
    Nichts in seinem Tonfall, nichts an seinem Antlitz ließ auf die Falschheit seiner Worte schließen, welche ihm jedoch ob dessen einen fahlen Geschmack im Munde hinterließen, den er gedachte passend zum fetierten Anlass mit reichlich Wein an diesem Tage hinab zu spülen, denn ohnehin hatte es keinen Sinn danach zu fragen, weshalb sie solch eine Pläsier daran fand, ihn der Agonie ihrer Präsenz länger als notwendig Preis zu geben. So führte er denn Antonia zu dem Tisch hin, an welchem sein Vetter Aquilus sich hatte nieder gelassen.
    "Caius, salve. Du hast doch nichts dagegen, wenn wir uns zu dir gesellen?"
    Da sein Vetter ohnehin kein Widerwort würde einlegen, ließ Gracchus ihn mit einem marginalen Wink auf jene Position auf der Kline rücken, an welcher er problemlos mit weiteren Gästen um den Tisch herum würde Konversieren können - womit er vermied, dass er selbst jene Postion musste einnehmen - legte sich schließlich auf den mittleren Platz der Kline, denn obgleich ihm ein wenig unwohl war, so nah an seines Vetters Körper zu liegen, geziemte sich nicht, Antonia in ihre Mitte zu nehmen.
    "Ein äußerst amüsant Theaterstück, nicht wahr? Ein wenig zotig womöglich, zudem dauert mich, dass die Anspielungen auf die Aurelia mir verborgen blieben, doch überaus vergnüglich für ein solches Fest."

    Gemeinsam mit seiner Gemahlin Antonia betrat Gracchus das überaus geräumige Triclinium. Augenscheinlich wurde keine feste Sitzordnung vorgegeben, ein etwas ungewöhnliches Prozedere, doch an diesem Abend wohl kaum mehr überraschend, so dass auch Gracchus für einen Moment stehen blieb und die illustre Gesellschaft sondierte, welche sich bereits hatte angesammelt, nicht nur, um einen geeigneten Platz für sich selbst auszumachen, sondern gleichsam adäquate Gesellschaft für seine Gattin, welche im besten Falle an einem Tisch eben am anderen Ende des Raumes von seiner eigenen Position aus gesehen würde sein, denn in Antonias Gegenwart fühlte er sich meist ein wenig gehemmt, nicht nur, was die ehelichen Pflichten ganz allgemein anbelangte denn auch bezüglich der Bereiche des zwanglosen, gesellschaftlichen Lebens. Viele Gäste standen noch herum, schienen sich nicht recht für einen Platz entscheiden zu können, wenige hatten bisher die Klinen aufgesucht, darunter Vinicius Hungaricus, welcher sich soeben formvollendet zu einer anmutigen Dame bettete. Für einen Moment stellte Gracchus sich die Frage, wo der Senator seine reizende, überaus intelligente Gattin mochte gelassen haben, doch da er die Tiberia auch vor dem Theaterstück nicht hatte entdeckt, mochte sie tatsächlich nicht mit ihrem Gemahl gekommen sein, was ein beiläufiges Näherkommen äußerst erschwerte, fand Gracchus doch selten einen Ansatzpunkt, um mit Vinicius selbst ins Gespräch zu kommen, geschweige denn die richtigen Worte, welche über mehr als eine Begrüßung hinaus gingen, oder auch nur die Courage zu solcherlei. Indes entdeckte er unweit seinen Vetter Aquilius, zudem keine Dame, welche ihm näher war bekannt oder von welcher er wusste, dass Antonia mit ihr verkehrte, so dass er seine Gattin kurzentschlossen vorerst würde weiter an seiner Seite erdulden, sofern sie nicht selbst sich für eine Alternative würde entscheiden.
    "Möchtest du mich zu meinem Vetter geleiten?"
    wandte er sich an seine Gemahlin, in der Hoffnung, sie möge dies verneinen.

    Nicht lange dauerte es, bis sich die tragödiale Nachricht langsam über das Forum verbreitete, aus einer niedergestochenen virgo vestalis maxima auf den Treppen zum Tempel wurde bald eine im Tempel selbst ermordete Vestalin und von Glück konnte man sagen, dass nicht eben auch noch ein erloschenes Feuer im Tempel der Vesta Teil der Gerüchte wurde, welche längst keine Gerüchte mehr waren, da die niedergestochene Person ihren Verletzungen erlegen und daher tatsächlich ermordet worden war. Da die Regia des Cultus Deorum unweit des Tempels sich befand, genauer gesagt keine Einhundert passus ihm Gegenüber, gelangte auch dorthin die Nachricht alsbald und scheuchte nicht nur Verwaltungsbeamte des Cultus Deorum auf, sondern gleichsam auch einen Pontifex, welcher dort in den Aufzeichnungen der Protokolle schmökerte. Unfassbar war die Meldung der Tat, waren doch die vestalischen Jungfrauen sakrosankt und galten als unantastbar. In Begleitung zweier calatores machte sich Gracchus daher umgehend auf, den Ort des Frevels aufzusuchen, denn neben der Wahrung religiöser Ordnung gehörte auch die Beaufsichtigung der Leichenversorgung zu den Aufgaben des Collegium Pontificium, zudem mochte es notwendig sein, den Tempel vorübergehend zu schließen, falls jener durch einen Mord in seinem Inneren war entweiht worden. Mit - soweit dies seine Toga zuließ - ausladenden Schritten strebte Gracchus über das kurze Stück des Forum Romanum hinweg, einer seiner Begleiter teilte mit beinah befehlsgewohnter Stimme die Menge der Gaffer, so dass dem Pontifex ein Durchkommen möglich war. Längst hatte sich eine kleine, doch massive Schar sensationshungriger Schaulustiger hinter dem Magistraten Aurelius geformt, welche doch gleichsam wie durch einen unsichtbaren Bann gehalten in einem Bogen Abstand zu der Toten hielten - wenig würde Menschen dieser Tage mehr abergläubische Furcht in die Leiber treiben denn die blutumströmte Leiche der Virgo Vestalis Maxima.
    "Was ist hier geschehen?"
    Entrüstet über den Frevel trat Gracchus neben den Aurelier, welcher ihm mittlerweile durch diverse Festivitäten war bekannt, doch augenblicklich stockte er in seiner Bewegung. Sein Magen verkrampfte sich, die möglicherweise noch nicht ganz verdaute Nahrung darin begann zu revoltieren, wollte sein Innerstes nach Außen kehren, jegliche Farbe wich aus seinem Gesicht, hinterließ eine bleiche, fahle Maske, in welcher einzig die schreckgeweiteten dunklen Augen einen Kontrast setzten. Auf den Stufen der Treppen verteilt war Blut, rotfarbenes, dickflüssiges, menschliches Blut, welches über den Stein leckte als wolle es ihn verzehren. Doch was üblicherweise dazu würde gereichen, Gracchus' Geist aus der hiesigen Realität zu katapultieren, dies war in diesem Augenblick unbedeutend, marginal, gereichte der ungustiöse Anblick nicht einmal dazu, bis in seine Sinne überhaupt vor zu dringen. Auch ohne dass er das Antlitz der noch immer auf der Seite Liegenden in seiner Gänze konnte erfassen, erkannte Gracchus die ihm so vertrauten Gesichtszüge - jene, welche seiner Mutter so ähnlich waren, jene, welche seiner Schwester Minervina zu eigen waren, jene, welche sich auch in seines Bruders Lucullus Miene fanden und nicht zuletzt jene, welche in Teilen auch in seinem eigenen Antlitz manches mal sich wiederspiegelten. Es waren die Gesichtszüge seiner Familie, welche dort noch im Tode im Gesicht seiner Schwester sich zeigten. Mit keiner Faser seines selbst hatte Gracchus erwartet, Agrippina tot auf den Stufen des Tempels der Vesta vorzufinden, war doch nur der Tod einer Vestalin bis in die Regia hin vor gedrungen, und war ein Angriff auf die virgo vestalis maxima in Gracchus' Welt völlig undenkbar, unmöglich, unvorstellbar. Womöglich spürte er, dass seine Beine im Begriff waren, unter ihm nachzugeben, womöglich gaben sie bereits nach und ließen ihn darum hernieder sinken, doch im Ergebnis setzte er sich auf die Stufen der Treppe nieder, neben den Magistraten, dessen Hände getränkt waren im Blut seiner Schwester.
    "Rom ist dem Untergang geweiht ..."
    , murmelte er leise, während er gegen die Reflexe seines Körpers ankämpfte, den Inhalt seines Mages zu entleeren oder seine Wahrnehmung mit einem dumpfen, dunklen Schleier zu überdecken, denn beides war in diesem Augenblick indisputabel indiskutabel, indes Contenance indispensabel.

    Es war dem Frappieren kein Ende beschert. Claudia Epicharis tanzte. Nichts blieb Gracchus denn sich in ihrem Reigen zu drehen, wollte er nicht riskieren, dass seine Arme ihm vom Körper sprangen oder in ungelenker Manier um seinen Hals sich wandten - obgleich dies natürlich kaum möglich würde sein, so schien es ihm doch in diesem Augenblick mehr als possibel. Die Starre seiner Faszination löste sich indes langsam auf in bloße Faszination, angesteckt von ihrem Jauchzen fand ein Glänzen Einzug in seine Augen, ein entrücktes Lächeln auf seine Lippen. Förmlich konnte er die Entzückung im Raume schweben sehen, in wild gezwirbelten, farbgewaltigen Mustern, Symphonie aus unsichtbaren Farben, kaskadierende Wirbel der Euphorie. War es denn gar so divergent zu seiner eigenen Reaktion auf die Nachricht selbst, obgleich die Art der Äußerung ein wenig noch überschwänglicher war, doch waren Frauen nicht allgemeinhin ein wenig überschwänglicher - abgesehen von seiner Gemahlin, welche so emotional wie ein schillernder Eiszapfen war? Dennoch begrüßte Gracchus die Aufforderung, Platz zu nehmen, würde dies doch verhindern, dass Epicharis erneut zu Hüpfen begann, dass letztlich er selbst angesteckt durch ihren Enthusiasmus sich noch würde vergessen, denn war ihm selbst nicht in den zurückliegenden Tagen der Drang danach nicht unbekannt, glaubte nicht selbst er zerspringen zu müssen ob der Güte des Lebens, sprach nicht selbst er fortwährend in Gedanken in Distichen, träumte vom Tanz mit der verloren geglaubten Muse und sehnte sich danach, die Welt in sich durch ein Epinikion zu besingen? Und doch war dies eine Dimension, welche ganz eigen ihm war, welche nicht dazu gereichte, sie nach Außen zu kehren, welche musste verborgen bleiben, um vor dem Antlitz der allgegenwärtigen Welt zu bestehen, denn zu eng war sie verwoben mit dem Schmerz der Erkenntnis, zu tief währten Furcht und Scham.
    "Danke, ein reichlich verdünnter Wein wäre mir überaus agreabel."
    Beinah ein wenig vorsichtig ließ sich Gracchus auf der Kline nieder, als würde er nicht seinem Körper noch trauen.
    "Er schrieb, dass er ein wenig angeschlagen sei, wie dies nun einmal der Krieg bedingt, doch es ihm gut gehe. Nicht mehr erwähnte er über den Krieg, da er auch in meinem Falle die Zensur wohl vor Augen hatte. Weiters erkundigte er sich nur über das Wohl der Familie."
    Ein Lächeln, welches gleichsam Stolz in sich barg, umschmeichelte Gracchus' Lippen.
    "Mag er auch für Rom kämpfen, mag er für das Imperium sterben, doch das Herz eines Flavius gilt seiner Familie."
    Womöglich war es ein Wagnis, dies so offen zu bekennen, doch Epicharis würde dies in einer Ehe mit Aristides ohnehin kaum verborgen bleiben, zudem schien sie Gracchus' nicht eine Person, welches solcherlei nicht konnte nachvollziehen. Rom war ein Gedanke, das Imperium eine Idee, und das Gelingen des Staates einer der Grundfeste aller seiner Bewohner, doch die kleinste Einheit, welche Rom zusammen hielt, dies war die Familie, und eben darum war sie wertvoller als alles sonst.

    Obgleich das Theaterstück bereits mehr als Kurzweil geboten hatte, so war es doch die Auflösung, welche Gracchus' Entzücken letztlich noch ein wenig mehr steigerte. Es dauerte ihn in der Tat, dass er bisherig so wenig mit den Aurelia traut war, schien ihm doch somit ein Part des Esprit des Stückes entgangen. Indes schien doch einiges im Hause Aurelia mehr als nur unkonvetionell gehandhabt zu werden, doch die Bestrafung der Sklaven - möglicherweise gehörte auch jenes noch zur Inszenierung - folgte in zu raschem Wechsel mit der Eröffnung des Mahles, als dass Gracchus darüber wollte in tiefsinnige Reflexion verfallen. So nahm er denn pflichtbewusst seine Gemahlin bei der Hand - im klandestinen Ansinnen, sie bei nächstmöglicher Gelgenheit womöglich an eine verwandte Claudia oder andere Bekannte zu verlieren - und geleitete sie zur Cena hin.