Die Pontifices waren es, welche an diesem Tage Wacht halten mussten am mundus cereris, Gracchus einer von jenen drei, welchen früh am Morgen die Pflicht oblag, die Öffnung der Grube zu beaufsichtigen. Ein kalter Schauer wanderte von seinem Nacken ausgehend die Wirbelsäule hinab, verging jedoch nicht, sondern setzte sich hartnäckig auf seiner Haut fest, als er auf dem palatinischen Hügel der Sänfte entstieg. Gewohnt war er, früh aufzustehen, mit oder gar vor dem Emporsteigen der Sonne noch, doch dieser Tag war einer jener, welche man besser würde verschlafen vom Anbeginn bis zum bitteren Ende. Obgleich der mundus noch war verschlossen, wirbelte bereits das braunfarbene Laub über das Pflaster der Straße als würden die Manen wie Kinder in ihm toben, es empor werfen und darin tanzen. Eiligen Schrittes trat Gracchus zu seinen Amtskollegen hin, den Pontifices Fabius und Sulpicius, beide bereits seit vielen Jahren im Collegium Pontificium tätig und sicherlich auch versiert im Umgang mit den Manen, was Gracchus von sich selbst mitnichten behaupten wollte und konnte. Förmlich konnte er seine Furcht um sich herum spüren, würde irgendwer versuchen, ihn zu berühren, so glaubte er, müsse jener an der unsichtbaren Wand seiner Beklemmung scheitern. Zu deplorabel indes war es, dass die inferiores solcherlei Barriere kaum würde abhalten, gegenteilig, Furcht mochte sie geradezu herbei locken.
"Salvete,"
grüßte Gracchus die Pontifices und bemühte sich dabei, das leise Zittern aus seiner Kehle zu verdrängen, was nicht gänzlich ihm wollte gelingen.
"Salve, Flavius. Bist du bereit?"
Er war es nicht. Nie gewesen. Würde es niemals sein. Mochten viele seines Standes dem alten Glauben tief verbunden sein, so einerseits aus Tradition, andererseits aus dem Grunde, da der Glaube das Volk zu lenken vermochte. Gracchus indes suchte nicht nur die Welt hinter der Welt zu ergründen, er respektierte nicht nur, was hinter der Welt lag, er war zudem weitaus abergläubischer als dies bisweilen angebracht und angemessen war.
"Das bin ich."
Davon abgesehen, dass dies eine abominabel Lüge war, entsprach es ganz und gar nicht der Wahrheit, doch was blieb ihm, der er geschworen hatte, seine Pflichten mit all seiner Schaffenskraft auszufüllen, auch jene, die inferiores oder Verstorbene betreffend. Ohne weitere Worte, stumm und ernsthaft traten die drei Pontifices von der Straße hinunter, zu dem großen, ovalrunden Stein hin, welcher sonstig unbeachtet blieb, da ohnehin niemand sich außerhalb der Notwendigkeit mit solcherlei wollte befassen, gefolgt von Sklaven des Cultus Deorum, welche den schweren Stein würden von der Öffnung heben - immerhin würde Gracchus nicht das kalte Grau berühren müssen - und jenen, welche die Opfergaben trugen. An der noch verschlossenen Pforte zur Unterwelt angelangt, hielten sie einige Herzschläge lang inne, fast schien es, die Zeit würde stehen bleiben, unbewegt, still, inexistent, und Gracchus fragte sich, ob wahrhaftig es würde möglich sein, dem Orpheus gleich hinab zu steigen in das Reich der Dunkelheit, eine tote Seele daraus zurück zu holen. Augenblicke darauf zog einer der Sklaven in völlig profaner, dem Leben anhaftender Weise laut seine Nase hinauf, die Welt geriet wieder in Bewegung, Gracchus schalt sich selbst ob seiner unsinnigen Gedanken und der Ritus nahm seinen Anfang. Auf einen Wink des Sulpicius hin beugten sich die Sklaven hinab, hoben den schweren Stein und hievten ihn zur Seite hin, wo sie ihn aufstellten. Augenblicklich setzte der Pontifex an.
"Dii inferiores, haltet im Zaume, was Eurem Reiche zu Entkommen sucht, mäßigt die Euren, die an diesem Tage Einzug halten in unsere Welt, wie Eure Pflicht dies ist. Darum wollen wir, wie unsere Pflicht, Euch Gaben spenden, auf dass Ihr besänftigt, dii inferiores, die Euren, auf dass sie tatenlos mögen zurückkehren wie es geboten ist, nach ihrem Wandel in unserer Welt."
Eine Kanne wurde dem Pontifex dargereicht, welcher routiniert aus ihr weißfarbene Milch in den Schlund der Welt hinab goss. In eben solch firmer Art und Weise nahm auch Fabius eine Kanne von einem der Sklaven entgegen, goss daraus honigfarbenen mulsum in die Grube und intonierte dazu.
"Dii inferiores, haltet im Zaume, was Eurem Reiche zu Entkommen sucht, mäßigt die Euren, die an diesem Tage Einzug halten in unsere Welt, wie Eure Pflicht dies ist. Darum wollen wir, wie unsere Pflicht, Euch Gaben spenden, auf dass Ihr besänftigt, dii inferiores, die Euren, auf dass sie tatenlos mögen zurückkehren wie es geboten ist, nach ihrem Wandel in unserer Welt."
Im Ansinnen nicht weniger versiert, doch bei genauer Betrachtung mit ein wenig zittrigen Händen - der frische Wind hatte seine Finger erkalten lassen - nahm Gracchus die letzte der drei Kannen.
"Dii inferiores, haltet im Zaume, was Eurem Reiche zu Entkommen sucht, mäßigt die Euren, die an diesem Tage Einzug halten in unsere Welt, wie Eure Pflicht dies ist. Darum wollen wir, wie unsere Pflicht, Euch Gaben spenden, auf dass Ihr besänftigt, dii inferiores, die Euren, auf dass sie tatenlos mögen zurückkehren wie es geboten ist, nach ihrem Wandel in unserer Welt."
Behutsam goss er den Inhalt des Gefäßes - gülden schimmerndes Öl - in den mundus hinab und versuchte dabei, einen unauffälligen Blick hinein zu werfen in die Tiefe, eine Ende der Schwärze zu erahnen, doch mehr als indifferente Dunkelheit war nicht auszumachen. Fabius ließ einen wollenen Mantel sich um die Schulter drapieren, Sulpicius sich den seinen reichen, und sie stellten sich neben die Grube hin. An der Straße warteten bereits die ersten Bürger, um ihre Opfergaben hinab in den Schlund der Unterwelt zu werfen.
"Und nun?"
fragte Gracchus ein wenig unschlüssig, was weiter würde geschehen.
"Nun warten wir auf die Ablösung."
Unübersehbar zog sich Gracchus' rechte Augenbraue in die Höhe.
"Und geben Acht, dass niemand hinein fällt,"
ergänzte Sulpicius mit marginal spöttischem Lächeln. Natürlich war Gracchus dies angekündigt worden, doch recht glauben wollen hatte er es indes nicht. Schicksalsergeben ließ auch er seinen Mantel sich aus der Sänfte bringen, kalkulierte, in welchem Zeitraum unter Beachtung der Gesamtzahl der Pontifices und der derzeitigen Tageslänge bei je drei Hütern pro Einheit mit den nächsten Pontifices zu rechen war und wachte gemeinsam mit Sulpicius und Fabius am Rande zur Unterwelt, während die Bürger Roms ihre Gaben den inferiores darboten. Es war nicht immer leicht, ein Pontifex zu sein.