Es lag nicht in Gracchus' Absicht, ein weiteres Wort über Minervinas Allüren zu verlieren, so dass er dies nicht tat, denn dass ihr Verhalten nicht ohne Folgen würde bleiben, dies verstand sich ohnehin von selbst. Während zwei Sklaven nach dem beendeten Hauptmahl die Teller und Platten aus dem Raum räumten, sinnierte Gracchus über ein unverfängliches Thema, welches den Abend würde zu einem akzeptablen Ende bringen können, immerhin war die Tatsache, dass Gracchus sein Gegenüber nicht als Schwager würde akzeptieren können, kein Grund, ihn nicht womöglich als Gast wert zu schätzen, obgleich er dies ob der noch immer allzu deutlich in seinem Blickfeld ruhenden Rüstung bezweifelte. Gleichsam führte ihm jene Rüstung ebenso vor Augen, dass ein unverfängliches Gesprächsthema nicht allzu einfach würde zu finden sein, denn worüber ließ es sich mit einem Praefectus Praetorio sprechen, ohne dass dieser im Anschluss gezwungen war, seinen Gesprächspartner ob der erhaltenen Informationen zu liquidieren? Jene Ressentiments bezüglich der praetorianischen Garde mochten ein wenig übertrieben sein, doch entbehrten sie sicherlich nicht jeglicher Grundlage. Politisches Gedankengut schloss sich darob von vorneherein aus, es würde zu müßig sein, hierbei auf jedes Wort im Detail zu achten. Spiele fehlten gänzlich, zudem besuchte Gracchus dort zumeist nur die szenischen Darbietungen, welche sich selten zur Erörterung eigneten und wenn, so nur in ausgesuchtem Kreise, so dass sich beinahe nur die Wetterlage als Thematik bot, welche Gracchus jedoch allzu banal erschien, selbst für Caecilius. Im derzeitigen urbanen Zeitgeschehen war nur das Attentat auf Senator Octavius von Interesse, doch über dies wollte Gracchus ebenfalls nicht mit dem Praefectus sprechen, da jener vorerst diejenige Person war, welche den meisten Nutzen daraus zog, immerhin hatte er ex iure die Amtsgewalt des Praefectus Urbi übernommen und konnte in Abwesenheit des Imperator Caesar Augustus damit als der mächtigste Mann Roms angesehen werden, ein Umstand, dessen Gedanke allein Gracchus bereits leicht erschaudern ließ. Aufdringlich tönten die Geräusche der anhaltenden Stille in seinem Ohr, das leise Klappern des Geschirrs, das Getrippel der sklavischen Füße über den Fußboden, der dumpfe Laut, als irgendwo in der Villa eine Türe geschlossen wurde, dann das feine Rascheln einer Tunika als ein Sklave sich zu ihm herabbeugte und eine Schüssel mit lauwarmem Wasser zum Reinigen der Hände vor ihn hielt. Nur beiläufig nahm er zur Kenntnis, dass eine Sklavin sich in gleicher Absicht zu Caecilius beugte, die einzig weibliche Person, welche an diesem Abend bislang das triclinium hatte betreten. Endlich wurde denn auch die Nachspeise aufgetragen, neben jenen überaus köstlichen, doch nicht jedermanns Geschmack treffenden, sauer eingelegten Trauben auch Birnen, mit Portwein, Honig und Gewürzen angerichtet. Nachdem er seine Hände gesäubert und mit einem beigefarbenen Tuch mit feinen Stickereien um den Rand herum getrocknet, und dafür Sorge hatte getragen, dass einige der Trauben in einer kleinen Schüssel vor ihm landeten, trank Gracchus einen Schluck Wein und wandte sich dem Gast zu, dazu entschlossen, ein völlig belangloses Thema anzuschneiden, da ihm nichts anderes in Gegenwart eines Praetorianers über die Lippen wollte kommen.
"Kein übler Tropfen, eine großzügige Gabe aus dem Weinkeller meines Vetters Felix im Übrigen. Es bleibt zu Hoffen, dass die diesjährige Lese von einigermaßen gehaltvoller Güte geprägt sein wird, der Sommer war augenscheinlich nicht gar zu günstig für die Früchte der Natur. Du erwähntest deine Ländereien, so sind die Caecilier auch in der Landwirtschaft um einen Stand bestrebt?"
Beiträge von Manius Flavius Gracchus
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~~~ Gefangen in Morpheus' Reich ~~~
Schillernde Federn schwebten filigran durch die Luft, Tausend Blütenblätter tanzten vom Himmel herab, rotfarben, gelbfarben, in Purpur und Orange. Schmale Jünglinge in kurzen Tuniken und ledernen Brustpanzern bewegten ihre Hüften in kreisender Bewegung zu einer fernen Melodie, ihre Körper silbrig glänzend vom mit Partikeln aus Eisenstein durchsetzten Öl, ihre Wangenknochen mit graufarbener Asche akzentuiert, ebenso ihre Lider, deren Schwung mit Kajal war nachgezogen, schwarzfarben wie die Nacht. Vergessen tanzten sie zu den Klängen der Trommeln, drehten sich zu Glocken und Tibicinesgesang, wild kreisten sie ihre Körper durch die schleierverhangene Atmosphäre. Auf dem schweren eichernen Tisch war ein Festmahl bereitet, Fleisch in allen Variationen, Brot und Käse, Wein, mehr als ein einzelner Mann je könnte Trinken, und doch hatte nur ein einzelner Mann sich dort auf einer Kline gebettet und dem Überfluss den Kampfe angesagt.
"Marcus"
, grüßte Gracchus seinen Vetter.
"Was machst du hier? Dies ist eine Totenfeier."
Mit gleichsam erstauntem wie vorwurfsvollen Blick ließ sich Gracchus neben seinem Vetter auf einer Kline nieder.
„Natürlich, Manius, deswegen bin ich doch hier. Ich bin tot. Möchtest Du Wein?“
In seiner üblichen guten Laune, welche durch kaum etwas zu durchbrechen war, fuhr Aristides fort mit seinem Mahl, biss in eine saftig gebratene Hühnerbrust, verschlang hernach ein Schweinseuter komplett, fuhr mit einem Täubchen fort, welches er nebenbei zu den saftigen Lenden eines Ebers verspeiste, und spülte alsbald alles mit dem Inhalt einer Amphore Wein in den Magen hinab. Fasziniert betrachtete ihn Gracchus, betrachtete die Orgie um sich herum.
"So ist dies hier deine Totenfeier?"
Aristides hielt mit dem Essen inne und fing an kollernd zu lachen. Es dauerte, bis er sich wieder gefangen hatte und nach ein paar Mal tief Luft holen zu Atem kam.
„Hah, herrlich! Manius, Du bist wirklich ein Uni...Unika...Unidingsbums. Du weißt schon, was ich meine, oder? Glaubst du wahrlich auf meiner Totenfeier würden diese Männer hier herumhüpfen? Bei Mars und Venus, wenn das meine wäre, dann gäbe es hier Frauen soweit du blicken kannst, braungebrannte Hispanierinnen mit tiefschwarzem Haar! Ich bin hier nur Gast, ich bin doch schon tot!“
Aristides griff nach einem Laib Brot und riss ein großes Stück daraus.
„Apropos tot, Manius, du wirst doch gut auf meinen Jungen aufpassen, oder?“
"Natürlich, Marcus."
„Sehr gut! Serenus, komm, spiel für uns!“
Serenus betrat die Szenerie, gewandet in ein purpurnes Mäntelchen, eine goldfarbene Lyra in der Hand. Er schrammelte über die Saiten des Instrumentes und öffnete den Mund weit, um seiner Kehle seinen Gesang zu entlocken.
“OH Parthia du stehst in Flammen! OH liebliches Feuer!
OH Flammen in der Nacht! Brenne OH brenne mein Parthia!
Parthia muss brennen! Papa muss brennen!
Und Onkel Gracchus gleich mit! "
Knisternd zuckten die Flammen unter den Klinen hervor, erfassten die Liegen schneller, als irgendwer hätte ihnen entkommen können. Furchtvoll schrie Gracchus auf als er sah, wie das Feuer über Aristides' Körper leckte, von ihm Besitzt ergriff, doch er konnte nichts tun, denn gleichsam lag auch er selbst auf einem Scheiterhaufen, brennende Zweige bedeckt von schwarzfarbenen Blättern unter sich, bewegungslos und zu Reglosigkeit verdammt, wie dies für einen Leichnam üblich war. Das Feuer erfasste sie beide, ließ das Blut in ihren Adern kochen, die Haut verschmoren, während Serenus mit entzücktem Glanz in den Augen dabei zusah und weiter auf seiner Lyra spielte.~~~
Panisch schreiend fuhr Gracchus aus dem Schlaf.
"Marcus!"
Nicht nur auf seiner Haut glänzten silbrigfarbene Tropfen, auch in seinen Augen hatte sich salziges Wasser gesammelt.
"Marcus ..."
Erschöpft sank er zurück. Längst hatte sein Leibsklave Sciurus aufgegeben, ihn durch Worte zu Beruhigen versuchen, er hielt ihn nur fest bei den Schultern, versuchte durch seine Nähe zu beruhigen, was beinahe ebenso vergeblich war. Unsanft stieß ihn Gracchus zur Seite, drehte sich und wühlte sein Gesicht in das Kissen hinein, leise schluchzend, des Nächtens duldend, was des Tags ihm verwehrt blieb. -
Das Aufeinanderpressen Gracchus' Kiefer war alsbald nun auch äußerlich sichtbar, da Muskeln und Sehnen sich unter seinen Wangen anspannten, während er sich im Stillen fragte, was genau sich seine Schwester tatsächlich bei all dem hatte gedacht, ob überhaupt sie noch dabei gedacht hatte. Er würde die Intentionen der Frauen kaum jemals verstehen, doch er konnte Minervinas törichte Lügen keinesfalls gut heißen, sie widerten ihn regelrecht an, und mehr noch, als ihn ihre Dreistigkeit erzürnte, kränkte ihn die Art und Weise, mit welcher sie nicht nur mit dem Praefectus zu Spielen schien, sondern gleichsam auch mit ihm.
"Es scheint mir, dass meine Schwester äußerst freizügig ist mit ihrem bindenden Wort,"
presste er zwischen den Kiefern hervor. Das Gespräch wurde allmählich indignierend für die flavische Seite, obgleich sich nichts an der Kernaussage änderte. Gleichsam war diese Blamage noch gering, verglichen mit jener, welche sich aus all dem hätte ergeben können, hätte nicht Leontias und Quintus' Tod Gracchus bisherig von allen übrigen familiären Pflichten abgehalten.
"Sie ist derzeit noch in Aegyptus, vielleicht auf dem Weg nach Rom, jedoch noch nicht eingetroffen.* Doch dies ändert nichts an der vorhandenen Sachlage."
Obgleich er versuchte, nicht darüber nachzudenken, drängte sich augenblicklich eine kleine flavische Schar in Gracchus' Geist zusammen, ihnen voran sein Bruder Animus, hernach ein Teil der hispanischen Familie. Es waren feste Regeln, welche die Flavia verbanden, und er hoffte trotz allem, dass seine Schwester würde Vernunft annehmen.
"Diese Familie kann und wird eine solche Ehe nicht dulden. Du solltest dies bereits wissen."
Gracchus hoffte, dass damit das Thema endgültig wäre geklärt, denn die Hartnäckigkeit des Caeciliers in dieser Hinsicht und die damit einhergehenden Offenbarungen verdarben ihm mehr und mehr den Appetit, gleichsam wusste er bereits, dass die Nachspeise sauer eingelegte Trauben würde inkludieren, um welche es wäre äußerst deplorabel, so sie nur noch den Weg zu den Sklaven würde finden.Sim-Off: * Da jegliche Zeitebenen in dieser Hinsicht völlig durcheinander sind und notwendige Gespräche zwar bereits ihren zaghaften Anfang genommen haben, doch längstens nicht zu einem Ergebnis gekommen sind, scheint mir diese Lösung die Sinnvollste zu sein.
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"Aber natürlich."
In seiner überschwänglichen Freude ließ es Gracchus sich nicht nehmen, den Scriba selbst bis zur Türe zu geleiten - des Raumes natürlich, nicht der Villa. Nachdem er Valerius verabschiedet hatte, lehnte er sich gegen die geschlossene Türe und ein überaus süffisantes und für ihn völlig untypisches Lächeln kräuselte seine Lippen. Natürlich wusste Gracchus nicht im Geringsten, was ihn würde erwarten, er kannte nicht einmal einen Pontifex persönlich und hatte darüber hinaus bis auf den spärlichen Kontakt als Sacerdos bisherig kaum Berührung mit einem der Collegien gehabt, doch er wusste, dass dies sein Weg war, ganz wie er wusste, woher er kam, und wie er in völlig untypischer Weise wusste, dass er dem gewachsen war, dass dies vielleicht sogar das einzige war, welchem er überhaupt gewachsen war. Er tänzelte förmlich zu seinem Leibsklaven, packte diesen beim Genick und presste ihm einen langen, ausgiebigen Kuss auf die Lippen, suchte mit seiner Zunge die des Sklaven, welcher ein wenig überrascht, doch durchaus bereitwillig die Tat erwiderte.
"Heute Abend werden wir die larven in ihre Schranken verweisen"
, flüsterte er Sciurus ins Ohr, ließ dann von ihm ab und verließ den Raum, ohne genau zu wissen, wohin er würde gehen. -
Kraftlos hob Gracchus seine Hand zur Schläfe und rieb darüber.
"Geduld ist eine Tugend."
In eben diesem Augenblicke hörte sich dies aus seinem Munde an, als würde er ein bedeutungsloses, phrasenhaftes Graffiti von einer Wand ablesen, und womöglich tat er dies, von einer jener Wände innerhalb seines Gedankengebäudes, auf welche all die Aussprüche zur Tugend waren einst von einem heranwachsenden Jüngling verewigt worden, und welche er niemals hatte mit frischer Farbe überdecken können, aus Angst, seiner Wurzeln damit verlustig zu werden. Er blickte zu seinem Vetter auf und hob fragend die Brauen, während er den Becher entgegen nahm.
"Was macht schon gute Eltern aus? Vermutlich hat es einen guten Grund, warum wir unsere Kinder in die Ferne schicken, auf dass ihnen eine angemessene Erziehung angedeiht. Wir erwarten, dass sie uns stolz machen, dass sie zu tugendhaften kleinen Abbildern unseres Selbst heranwachsen, doch da wir selbst kaum das sind, was wir sehen wollen, schicken wir sie fort, auf dass sie in philosophischen Schriften und dem Studium der Historia bessere Vorbilder finden mögen denn uns selbst. Wäre ich denn ein besserer Mensch, wenn ich bei meinem Vater in Rom wäre gewesen, wenn ich ihm ähnlicher wäre? Nein, Caius, ich glaube nicht, wir müssen uns immer über uns selbst erheben, wenn wir dem genügen wollen, was uns als Ziel gesetzt ist, gleichsam ist unsere Herkunft Verpflichtung, derer wir uns nicht entziehen können."
Zum letztlichen Erfolg fehlte hernach nur noch die Einsicht dessen, doch Gracchus schluckte diese mit einem ausgiebigen Zug aus dem Becher hinab, nur um kurz darauf die Augen in Erstaunen zu weiten, die Hand mit dem Becher sinken zu lassen und die andere vor den Mund zu heben, um dahinter ein leichtes Husten zu verbergen. Als er wieder zu Atem gekommen war, schüttelte er den Kopf und stellte den Wein ab.
"Mag Bacchus mich ans Kreuz schlagen lassen, doch so verzweifelt werde ich niemals sein können, dass ich die Vollmundigkeit seiner Früchte pur goutieren könnte. Und um den Tag in Wein zu ertränken, dafür ist es noch zu früh, obgleich ..."
Er bedachte seinen Vetter mit einem schalkhaften Lächeln.
"Marcus' schuldet mir noch etwas, ich hatte gehofft, er könnte dies noch vor seinem Aufbruch durch die Organisation einer seiner ..."
Ein wenig hilflos fuchtelte Gracchus mit der Hand vor sich im Raume herum. Es fiel ihm in nüchternem Zustand augenscheinlich schon schwer, überhaupt nur darüber zu sprechen.
"Nun, du weißt schon. Doch nun, da wir nicht wissen, wann er wieder kommt, vielleicht sollten einfach wir..."
Er stockte, denn wir war in diesem Falle womöglich keine besonders gute Idee. Ein Seufzen echappierte Gracchus, er bemerkte, wie er langsam begann den Faden zu verlieren, gleichsam damit einhergehend die Konzentration.
"Nein, vergiss dies besser vorerst wieder. Ich sollte nun besser gehen, ich muss ... über all das in Ruhe nachdenken."
Es drängte ihn bereits dem Freund durch mehr zu danken, als nur durch Worte, denn was konnte schon geschehen, wenn seine Lippen nur für einen winzigen Augenblick, keinen Herzschlag lang, Caius' Haut würden berühren? Es kostete ihn keinen winzigen Augenblick, keinen Herzschlag, um zu wissen, dass sie sich nicht wieder würden von ihm lösen.
"Ich danke dir für deine Zeit, Caius, und deinen Rat."
Mit diesen Worten wandte er sich zum Gehen. -
Ohne sich noch seiner eigenen Verlegenheit bewusst zu sein, strich Gracchus beruhigend mit einer Hand über Epicharis' Rücken, ließ ihrer Tränen gleich seine Verzweiflung und Trauer auf viel klandestinere Art in die Welt hinaus und versuchte gleichsam die gänzliche Sachlage zu erfassen. Was stand zwischen Claudia Epicharis und seinem Vetter Aristides, was hatte zwischen ihnen gestanden? Hatte nicht Aristides sie selbst kaum gekannt, bevor es zu dem Verlöbnis gekommen war? War es kein Kalkül gewesen, welcher ihn hatte zu ihrem Vater geführt? Hatte Aristides nicht ohnehin niemals wieder die furchtbaren Zwänge und Leiden einer Ehe eingehen wollen? Was also war tatsächlich geschehen, was ihn zu diesem neuerlichen Versprechen hatte gebracht? Bisherig war Gracchus davon ausgegangen, dass einzig Aristides' Mutter Agrippina für diesen Zustand war verantwortlich. denn niemals hätte Marcus sich gegen ihren Wunsch gestellt, gleichsam niemals hernach in negativer Weise über diese Entscheidung gesprochen. Doch vielleicht war dies tatsächlich nicht einmal von Aristides ausgegangen, sondern einzig von Epicharis. War sie nicht kaum älter als seine Schwester Minervina, kaum älter als Aristides' Tochter Arrecina, und damit wie Aquilius Gracchus glaubhaft hatte versichern können in eben jener Phase weiblicher Konfusion, welche patrizische Damen reihenweise den Kopf verlieren ließ? War nicht Aristides ein gut aussehender Bursche - es hatte eine Zeit in seiner Jugend, in eben seiner eigenen Phase männlicher Konfusion, gegeben, in welcher Gracchus selbst zu seinem Vetter mit mehr als nur vetterlicher Bewunderung hatte auf-, oder auch beim familiären Thermenbesuch hinabgeschaut, doch glücklicherweise hatte sich dies mit der Zeit gelegt, denn ein Vetter allein in einer solchen Beziehung brachte schon mehr als genügend Probleme - und mochte er nicht auf ein junges Mädchen einen guten Eindruck machen, so dass es ihr würde leicht fallen, sich in unendlicher Liebe ihm hin zu geben? Beinahe echappierte Gracchus ob all dieser Gedanken ein Seufzen. Warum - bei Amor, Anteros und Angerone - hatte er für seine eigene Ehe ausgerechnet die einzige Frau erwischen müssen, welche derart unterkühlt war, dass selbst die weibliche Konfusion an ihr spurlos war vorüber gegangen? Oder entsprach nur er tatsächlich einfach nicht dem Abbild eines starken, gut aussehenden Eroberers? Vermutlich - und in Bezug auf das weibliche Geschlecht sogar ohne Zweifel. Andererseits, so stellte Gracchus einen Herzschlag später erleichtert fest, wäre eine solche Gattin vermutlich nur mehr noch Last als Antonia dies war, denn mochte er dem Trösten noch gewachsen sein, so gereichte ihm doch bereits schon die Erfüllung der ehelichen Pflicht in mancher Nacht zur Verzweiflung, da er sich der eigenen Unzulänglichkeit in Antonias Augen mehr als nur bewusst war. Dennoch, wäre seine Gemahlin ein wenig mehr nur wie ihre Verwandte, so könnte diese Ehe vielleicht denn ein wenig erträglicher sein. Durch Epicharis' sanftes Drücken aus seinen Gedanken gerissen, blickte Gracchus ihr schuldbewusst nach. Sein Vetter war verschieden und er bemitleidete sich selbst aufgrund seiner desolaten Ehe. Wenn nur alles nicht wäre solch ein furchtbares Durcheinander in seinem Kopfe.
"Obgleich ich dies gerne für mich in Anspruch würde nehmen, doch dies hat nichts mit Größe zu tun. Du bist ein Teil dieser Familie ... in gewisser Weise ... und ..."
In hilfloser Geste bereitete er seine Arme aus, als wäre mit diesen Worten bereits alles erklärt, vom Verlust der Gravitas und Dignitas bis hin zum vertrauten Umgang mit einer fast Unbekannten, gleichsam war mit diesen Worten bereits alles erklärt, denn in Worte fassen würde er es ohnehin nicht können.
"Etwas unternehmen?"
, fragte er sodann unvermittelt, erst nicht ihr folgen könnend, dachte alsbald jedoch an die Vorbereitungen zur Bestattung. Es musste in Erfahrung gebracht werden, ob Marcus' Asche würde zurück nach Rom gesandt werden oder ob letztlich nichts war von ihm übrig geblieben, der Trauerzug und das Begräbnis müssten zudem organisiert werden. Dass Epicharis den Praefectus Castrorum der Legio I kannte, würde vieles einfacher machen. Gracchus selbst hatte sich kaum je mit militärischen Belangen beschäftigt, wusste nicht einmal, wer in solchen Dingen ein Ansprechpartner würde sein, und hätte darum nur eine Nachricht zum Stammlager der Legio I gesandt, deren Beantwortung jedoch konnte dieser Tage Wochen dauern, da vermutlich dererlei Nachforschungen viele würden angestellt werden während des Feldzuges.
"Ja"
, bestätigte er darum schließlich.
"Ich werde meiner Tante eine Nachricht nach Baiae senden, Marcus' Mutter."
Es schauderte ihn bereits beim Gedanken daran mit Agrippina in Kommunikation treten zu müssen. Zwar war der Schriftverkehr mit ihr nicht halb so furchteinflößend, wie ihr leibhaftig gegenüber zu stehen, doch gleichsam musste jedes Wort und jeder Satz auf das Genaueste hin abgewägt werden. Dazu stellte das Schreiben in Aussicht, dass sie ob der Bestattung nun doch persönlich nach Rom würde anreisen, denn jene ihres Sohnes würde sie nicht an sich vorüber ziehen lassen, ohne dabei alles und jeden auf das Schärfste hin zu kontrollieren.
"Vermutlich ist die Benachrichtigung über seinen Tod dort eingetroffen, vielleicht auch bereits etwas über die näheren Umstände und ob wir ... ob wir mit ... mit seinen ... Überresten ... "
Der Gedanke, Aristides in einem kleinen Päckchen in Empfang zu nehmen, wollte ihm nicht über die Lippen kommen. Dass nichts von seinem Bruder und seiner Base geblieben war, dass nicht einmal ihr Ende ihm geblieben war, dies war eine Sache, doch die Reste, das Ende Marcus' Existenz in Händen zu halten, dies würde noch weitaus schlimmer zu Ertragen sein. Er erinnerte sich an die Tage, an welchen er je die Überreste seines Vaters und seiner Mutter hatte aus der Erde geborgen, gemeinsam mit seinen Geschwistern Lucullus und Minervina, welche ihm dieser Tage ebenso fremd gewesen waren wie seine Eltern selbst. Fremd, wie Aristides dies nie gewesen war. Tief atmete Gracchus die frische Luft ein, welche durch das compluvium in den Raum hinein strömte, drängte mühsam die aufkommende Panik in sich zurück, die allgegenwärtige Furcht davor, Stück um Stück zu verlieren, was ihm bedeutsam und teuer war. -
Ohne darauf zu achten, was der Caecilier in das weiche Wachs der Tafel ritzte, goutierte Gracchus derweil ein zartes und äußerst delikates Filetstück des würzigen Hasen. Erst als Crassus den Griffel bei Seite gelegt hatte und von Eheversprechen und Lösung einer Verlobung sprach, blieb ihm ein Stück eben dieser überaus köstlichen Speise beinahe im Halse stecken, welcher es augenscheinlich an diesem Abend ohnehin nicht leicht hatte. Aquilius hatte so denn Recht behalten, Minervina hatte ihr Wort ein weiteres Mal gebrochen, hatte sich ihren Schwärmereien hingegeben wie eine Lupa dem zahlungskräftigen Kunden, ohne einen einzigen Gedanken an die Folgen zu verschwenden. Obgleich Gracchus auf das Schlimmste war vorbereitet gewesen - so hatte er bisweilen geglaubt - presste er nun seine Kiefer aufeinander, bis dass ein leichter Schmerz in seinem Backenzahn aufbrandete, gleichsam erbebten seine Nasenflügel in sublimer Weise. Er war ein äußerst konzilianter Mensch, vor allem und insbesondere gegenüber seiner Familie, doch jede Bonhomie hatte ihre Grenzen. Mühevoll schob er die aufkommende Wut und Frustration in eine der hintersten Schubladen in einem Kellerraum seines Gedankengebäudes zurück, denn nicht dem Caecililer galt dies, so dass es kaum angebracht war, es ihm angedeihen zu lassen. Viel eher galt es die Contenance zu wahren und den entstandenen Schaden zu begrenzen.
"Nun, wie ich bereits erwähnte, Minervina weiß, dass sie eine Flavia ist, und als Flavia wird sie eine solche Ehe nicht eingehen. Es ist wahrhaft deplorabel, dass ihre jugendlichen, und sicherlich auch durch ihre Herkunft genährten Allüren zu deinen Lasten gehen, und ich möchte mich darob noch einmal hierfür exkulpieren."
In unbewusster Manier schob Gracchus seinen noch immer halb gefüllten Teller ein wenig zur Tischmitte hin, da ihm der Appetit vergangen war. In einem Anflug von Larmoyanz sehnte er sich in diesem Augenblick tatsächlich nach der Anwesenheit seines Vaters, denn es war ihm bewusst, dass Minervina nicht nur ihren eigenen Kopf hatte, sondern zudem auch kein Impediment sie von ihren Entscheidungen würde abhalten können. Gleichsam jedoch stand noch immer die Familie über dem Recht und würde sie bis zum Äußersten gehen, so würde er selbst zwischen den Stühlen stehen, doch bereits wissend, auf welchem er würde Platz nehmen. Dennoch glaubte er fest daran, dass seine Schwester würde Vernunft annehmen. Mit halber Aufmerksamkeit nur lauschte Gracchus den Worten des Praefectus, der Enumeration seiner Machtbefugnisse, Einflussbereiche und Erfolge. Es verwunderte kaum, dass ein Mann, welcher auf der Kopfseite der praetorianischen Münze stand, die Kehrseite der Medaille nicht konnte sehen, dennoch erstaunte es Gracchus ein wenig, wie Caecilius dies zu Betonen und sich selbst darzustellen wusste, so als könne dies alles tatsächlich in Vergessenheit geraten im Angesichte seiner überaus signifikanten Rüstung. Wie er dies tat und in welcher Weise, wurde Gracchus nur einmal mehr bewusst, dass dieser Mann niemals konnte sein Schwager werden. -
Durchaus ein wenig mehr als nur neugierig nahm Gracchus das Schriftstück entgegen, löste vorsichtig das Siegel und begann zu lesen. Zeile um Zeile beschleunigte sich sein Herzschlag, am Ende des Briefes sprang er nochmalig mit seinem Blick über den Text, suchte nach seinem eigenen Namen, um sicher zu stellen, dass tatsächlich das Schreiben an ihn selbst gerichtet war. Doch auch die neuerliche Prüfung änderte die Tatsache nicht. Gracchus blickte auf, den Scriba an. Obgleich sein Konterfei kaum etwas vom Zustand seiner inneren Verzückung verheißen ließ, so leuchteten doch seine Augen in solcher Freude, als hätte er Tausende Sonnen verschluckt, welche nun darauf gierten ihre Strahlen aus seinem Blick hervorbrechen zu lassen. Es brauchte kaum Zeit, seine Entscheidung zu überdenken, war sie doch längstens gefallen, vor Jahren bereits als er es wagte, sich gegen den Willen seines Vaters zu stellen, und selbst jener marginale Zweifel und damit einhergehende Skrupel in Bezug auf seinen Bruder waren längst überwunden.
"Bitte richte dem ehrwürdigen Rex Sacrorum aus, dass ich mir sowohl der außerordentlichen Ehre, als auch der damit einhergehenden Pflichten bewusst bin, und beides mit größter Freude bereit bin, anzunehmen." -
"Hm"
, war einzig Gracchus' Reaktion auf die Knappheit ihrer Aussage, denn jedes weitere Wort würde wahrlich nur verschwendet sein. Hätte ein Außenstehender jene Szenerie betrachtet, so wäre womöglich in ihm die Vermutung empor gestiegen, dass hier ein Ehepaar sich ohne viele Worte verstand, doch tatsächlich war es so, dass Gracchus seine Gattin nicht im Geringsten verstand, nicht ihr Verhalten, nicht ihr Gebaren und in keinem Falle ihre Worte. Doch zumindest verhielt sie sich kaum undurchschaubarer als vor seiner Reise, so dass dies nicht weiter Besorgnis erregend war, gleichsam zeigte sie ihm gegenüber noch immer nicht mehr als eisiges Desinteresse.
"Nun denn, so möchte ich dich nicht weiter stören. Du findest mich in meinen Räumlichkeiten, falls die Notwendigkeit dazu besteht."
Eher noch würde der Flügelschlag eines Schmetterlings die Flamme der Sonne zum Erlöschen bringen, dessen war Gracchus sich gewiss. -
An diesem Tage erst war es geschrieben, so dass kaum verwunderlich war, dass nichts den flavischen Haushalt hatte bisher darob berührt, dass einzig persönliche Albträume für einzelne hatten ein grauenhaftes Beginnen des Tages gebracht, dass der Morgen doch gleichsam Erlösung hatte beschert, trügerische Hoffnung auf Stunden ohne Qual. Trügerische Hoffnung auf ein Ende der Qual. Noch immer konnte Gracchus es nicht fassen, wollte nicht die Nachricht wahrhaben, wollte nicht noch einen Flavier zu Grabe tragen müssen, nicht Aristides. Serenus gelangte ihm in den Sinn, sein Versprechen, sich um den Jungen zu kümmern, sollte sein Vetter nicht aus Parthia zurückkehren, ein Versprechen in vollster Ernsthaftigkeit und doch gegeben im stillen Bewusstsein, dass dieser Fall niemals würde eintreten, und doch war es geschehen. Wenig wünschte sich Gracchus sehnlicher, als dass endlich er von der drängenden Last eines Erben würde befreit, doch nicht auf diese Weise. Nicht auf diese Weise. Obgleich sein Kopf erhoben war, sein Blick die Claudia zu tangieren schien, so reichte er doch durch sie hindurch, versank in der Unendlichkeit hinter ihr, bis dass sie vor ihn trat und ihn um Verzeihung bat. Wofür? Aus seinen Gedanken gerissen musterte Gracchus sie und erst nun kamen ihm Fragen ob ihrer Anwesenheit, ob ihrer Gemütslage auf. Ihr zukünftiger Ehegatte war ein Flavier gewesen, doch kein Patrizier, welcher sich nicht aus ihrer Sicht durch einen anderen ersetzen würde lassen. Nicht eine einzige Träne würde Antonia ihm nachweinen, dessen war Gracchus sich sicher, die in Aussicht gestellte Ehe konnte somit kaum der Grund für Epicharis' überschwängliche Trauer sein. Mit ihrer Trauer jedoch nahmen die Fragen kein Ende, denn unvermittelt ergoss sich die Claudia in einer Kaskade aus Tränen, welcher gegenüber Gracchus nicht im Mindesten war gefeit und welche die Dringlichkeit jeglicher Antworten auf etwaige Fragen in Bedeutungslosigkeit versinken ließ. Seit jeher war er eine äußerst larmoyante Seele gewesen und hätte Gracchus bei einem Angehörigen des gleichen Geschlechtes womöglich noch an dessen Beherrschung appellieren können, so fühlte er sich im Angesicht der Patrizierin erneut hilflos, hilfloser noch als gegenüber der Tatsache Aristides' Todes. Er kannte Claudia Epicharis in keinster Weise, und doch war sie gleichsam seit ihrer Verlobung so gut wie ein Teil der flavischen Familie. Da sie als eben dieser Teil der Familie augenblicklich im Atrium dieser Familie stand, war es müßig darüber zu sinnieren, wie die Verhältnisse nun geordnet waren, so haderte Gracchus nur Augenblicke mit sich selbst, sodann überwand er die letzte Distanz zwischen ihnen, ließ achtlos das Schriftstück fallen, legte behutsam seine Arme um Epicharis' Schultern und suchte ihr jene Ruhe zu vermitteln, welche er selbst kaum in sich zu spüren vermochte.
"Es gibt nichts, was es notwendig macht zu Verzeihen."
Es war ein merkwürdiger Anblick, zwei Menschen, welche kaum sich kannten, welche nichts wussten über ihren gegenseitigen Schmerz, einzig sahen, was offensichtlich war, und doch in diesem Augenblicke verbunden waren durch die abstrusen Wirrungen des Schicksals, während um sie herum der Tag unbarmherzig seinen Fortgang nahm. -
Noch immer perplex ob des Geschehens nahm Gracchus das Schriftstück entgegen und konnte vorerst auch nichts mit Epicharis' Worten anfangen, da ihm die Verbindung zwischen seinem Vetter und demjenigen, von welchem sie als gefallen sprach, und überhaupt der Tatsache, was sie mit gefallen meinte, nicht im entferntesten in die Sinne drang, denn solcherlei Gedanken lagen ihm ob der zurückliegenden Geschehnisse zu fern. So hob er denn die bereits ein wenig ramponierte Zeitung vor Augen, studierte den Artikel über den Schutz der Dunkelheit, während er gleichsam noch immer in jener tappte, fand er doch auch hierbei nichts, was Epicharis' Zustand würde erklären. Eher beiläufig und aus Neugier ließ er hernach seinen Blick auch über die Liste der Gefallenen gleiten, wobei spätestens mit dem Titel langsam ihm ein ungutes Gefühl im Magen aufkam, bis schließlich auch er an jenem Namen hängen blieb, welcher für all dies verantwortlich war.
"Marcus ..."
, entfleuchte leise dieser Name seiner Kehle, während gleichsam die Farbe aus seinem Gesichte wich, als wolle er nun mit der Claudia um die vornehmste Blässe in Konkurrenz treten. Während seine Hand kraftlos hernieder sank, begann sein Körper in feinster Bewegung zu Zittern, wurde ihm blümerant vor Augen, sein Atem ging schwer. Es konnte nicht sein, es durfte nicht sein, gleichsam war nichts daran erstaunlich, da der Tod im Feld eine der natürlichsten Nebenwirkungen des Krieges war. Doch nicht Aristides' Tod, nicht der Tod eines Flaviers und nicht der Tod Gracchus' Vetters, nicht so bald nach seiner Base und seinem Bruder.
"Diese Familie ist verflucht ..."
Es war längst zuviel, um noch auf seinen Schultern lasten zu können. Es musste einen Punkt gegeben haben, an welchem das Ende dieser Familie bestimmt worden war, einen Punkt, welcher über Gracchus' Taten längst hinaus war, und doch drückte auch dieser neuerliche Verlust schwer auf sein Gewissen. Leontia, Quintus, Marcus - die Parzen durchtrennten die Fäden der Flavia als würden sie einen Mengenrabatt dafür erhalten, als würden die dii inferiores ihnen selbst hernach jagen. Unsicher taumelte Gracchus einige Schritte zurück, bis sein Rücken an einer marmornen Säule Halt fand, seine Kehle war trocken wie die Wüste Prathias, gleichsam drängten sich auch in seine Augen Tropfen, für welche es in seinem Leben keine Berechtigung gab. Es war zu viel der Misere für ein Leben, doch in jedem Falle war es zuviel der Misere in solch kurzer Folge, Gravitas und Dignitas konnten längst nicht mehr zusammen halten, was erneut im Zerbrechen inbegriffen war.
"Marcus ..."
Nie wieder würde seine Leichtigkeit das Leben bereichern, nie wieder seine unkonventionelle Art seine Vettern in Situationen bringen, welcher sie sonstige niemals wurden angesichtig, und niemals wieder würde er in jener künstlerischen Art seine Feder schwingen gleich einem Schwert, würde in jener unnachahmlich grazilen Weise sein M zu Pergament bringen. Kraftlos hob Gracchus das Blatt, starrte Epicharis vorwurfsvoll an, als wäre die Überbringerin der Botschaft Ursache für jene.
"Wann ... von wann ist das?"
Die Familien der Verstorbenen wurden üblicherweise ob des ausbleibenden Soldes benachrichtigt, doch vermutlich war jene Nachricht in Aristides' Fall nach Baiae gesandt worden, da dort neben dessen Mutter augenblicklich auch dessen Tochter weilte, wie Gracchus noch immer glaubte. -
Nachdenklich knetete Gracchus seine Unterlippe, die Stirne in Falten gelegt, und versuchte den Wortlaut der vor ihm liegenden Schrift zu durchdringen. Es war die aletheia aus Parmenides' Werk Über das Sein, und bereits das Lehrgedicht an sich hatte Gracchus ein wenig verwirrt. Aquilius fehlte ihm zur Erörterung des Gelesenen, doch sein Vetter tat seine Pflicht im Tempel und schlug sich nicht in einer Art und Weise mit Studien der Philosophie herum, wie diese nurmehr der Jugend zustand, und welche eben aus dem Grunde der Verwirrung vermutlich nurmehr in dieser Art und Weise der Jugend zustand. Eben wollte Gracchus gar ein Seufzen ob dessen echappieren, als ein Pochen an der Türe des Zimmers diesem zuvor kam. Sciurus, welcher seinen unsichtbaren Platz im Raume bewachte, trat zur Tür und öffnete, um nachzusehen, wer für die Störung verantwortlich war. Kurz darauf wandte er sich zu seinem Herrn um, um diesem mitzuteilen, dass ein Scriba des Rex Sacrorum ihn zu sprechen wünschte. Augenblicklich versteifte sich Gracchus' Haltung und er fühlte sich ertappt, obgleich er nicht wusste wobei, doch der Gedanke an den ehrwürdigen Fabius Antistes allein genügte bereits zu solcherlei. Dennoch wies er Sciurus an, den Scriba herein zu bringen. Ein wenig löste sich die Anspannung, als nicht irgendein Scriba, denn Marcus Valerius Mercurinus in den Raum trat, ein Mann, welcher Gracchus durchaus von seinem Dienst im Cultus Deorum bekannt war, und welchen er als äußerst umgänglichen und pflichtbewussten Menschen hatte kennen gelernt.
"Salve, Valerius, welch unerwarteter Besuch. Bitte nimm doch Platz. Ich hoffe, es führt dich kein Versäumnis meinerseits in dieses Haus?"
Sciurus derweil schenkte dem Gast einen Becher verdünnten Weines ein und zog sich sodann auf seinen unsichtbaren Posten zurück. -
Derangierte und verzagte Frauen hatten schon seit jeher Gracchus ein wenig hilflos werden lassen, denn es fehlte ihm einerseits ob seiner persönlichen Neigungen der Drang, jene Damen in beschützender, maskuliner Weise beruhigend in die Arme zu schließen, ihnen Stärke und Trost zu bieten, wie dies sicherlich sein Vetter Aquilius ohne Umschweife und ohne Zögern nun hätte getan. Andererseits dauerte es bei Gracchus ohnehin bisweilen äußert lange, bis er sich in einem dazu angemessenen vertrauten Umgang mit irgendwem sah, was sich auch darin äußerte, dass er selbst kaum jemanden außerhalb der Familie überhaupt mit Cognomen ansprach, weshalb die unvermittelte Berührung der Claudia bereits gereichte, ihn ein wenig aus der Fassung zu bringen. In nervöser Art zog er die Unterlippe ein Stück zwischen die Zähne, um darauf herum zu kauen, und versuchte sich vorzustellen, nicht Epicharis, sondern seiner Gattin gegenüber zu stehen, was jedoch erwartungsgemäß kaum dazu beitrug, seine Verlegenheit zu novellieren. Er wollte eben diesen Gedanken bei Seite schieben, als Antonia sich weiter in seine Aufmerksamkeit drängte, ihn die Befürchtung überkam, jene Schrecklichkeit mochte mit eben dieser in Zusammenhang stehen - nicht in jener Art und Weise der Schrecklichkeit, wie Gracchus sie im Angesicht seiner Gattin nur allzu oft vor Augen sah, sondern in jener, welche ein Geschehen betraf. Hatten Epicharis und Antonia womöglich den Vormittag miteinander verbracht? Doch wie mochten die Acta und Marcus in dieses Gefüge passen? Im Bemühen einen beruhigenden Einfluss auf die Claudia auszuüben, gleichsam das Rucken ihrer Bewegung zu Stoppen, legte Gracchus beherzt seine eigene Hand auf die ihre.
"Nein, ich habe weder die Acta Diurna gelesen, noch eine Nachricht von Marcus erhalten. Doch was ist denn überhaupt geschehen? Bitte beruhige dich doch und erzähle mir, was dich so aufwühlt."
Hatte Aristides sich umentschieden und das Verlöbnis gelöst? Doch es war unwahrscheinlich, dass die Acta Diurna darüber würde berichten, zudem konnte dies kaum dazu gereichen, die Claudia in derartige Aufregung zu versetzen. Es musste ein Sachverhalt sein, von welchem sowohl die imperiale Zeitung Notiz nahm, als auch Aristides in einem Brief berichtet hatte, was Gracchus jedoch in keinerlei Weise dem wollte näher bringen, was der Grund all jener Derangierung war. -
"Das Angebot bleibt ein Kauf, selbst wenn du den Preis halbierst. Und so du dich für die anatomischen Gegebenheiten meiner Kehle interessierst, so kann ich dir sagen, dass mir nicht gefällt, wie du von einer Ehe mit meiner Schwester sprichst als hättest du sie bereits eingekauft. Die Flavia Romulus hat keine Schulden, und so lange ich die Verwaltung des Vermögens dieser Familie inne habe, wird es auch nicht dazu kommen. Entstandene Rückstände begleichen wir in Münzen, nicht durch Gefälligkeiten, nicht durch vielfache Möglichkeiten und nicht durch Ehegelöbnisse samt erhöhter Mitgift. Ganz davon abgesehen, dass meine Schwester ohnehin nur diese törichte Reise unternahm, da sie etwas auf die Idee gebracht hatte, was du ihr sagtest, doch die Torheit meiner Schwester muss nicht deine Sorge sein. Ich habe auf deine Einsicht gehofft, Praefectus, doch so du diese nicht zeigen willst, werde ich den Nennwert des Betrages meiner Schwester abringen müssen, ich bin sicher, sie weiß darum, denn sie ist eitel genug, um den Wert ihrer Person kennen zu wollen."
Nachdem die Sklaven die ersten Teller und Platten hatten abgeräumt, folgte nun der Hauptgang, ein auf säuerlichem Lauch gebetteter Hase, welchem man nach dem Braten den unversehrten Kopf hatte vorgelegt, so dass sich nun ein Bild ergab, als hätte das Tier seinen Pelz abgelegt, um sich in erfolgreicher Weise zu Sonnen. Der zuständige Sklave ließ einen Augenblick verstreichen, um den Herren die Gelegenheit zu geben, das Werk angemessen zu betrachten, sodann zerteilte er das Fleisch, um es vorzulegen. Gracchus lehnte sich auf der Kline zurück und wartete, bis der Sklave sich entfernt hatte.
"Die Vergangenheit der Flavia reicht nicht lange zurück, Caecilius, doch sie ist bedeutend. Und damit ist deine Frage bezüglich des Vinicius bereits beantwortet. Es geht hierbei nicht um Plebeier oder Patrizier, dies ist eine Geschichte, welche wir doch schon seit Langem hinter uns gelassen haben sollten. Meine eigene Familie beansprucht nicht die Wurzeln des Romulus - abgesehen von jenen meines Großvaters, welcher eben falls diesen Namen trug - oder gar des Anaeas, sie beansprucht nicht einmal römische Wurzeln, denn wir wissen, woher wir kommen. Und dennoch fließt in Minervinas Blut das Erbe einer kaiserlichen Dynastie und dies verbietet es, sie einem Gatten an die Seite zu stellen, auf dass dieser sich mit ihrer Herkunft schmücken kann, einem Mann, dessen politische Macht dann gegeben ist, wenn er anfängt, wie Aelius Seianus Senatoren aus ihren Häusern zu zerren und ob Hochverrates wegen exekutieren zu lassen. Dein Amt selbst ist es, welches dich disqualifiziert, Caecilius, und all das, was damit verbunden ist." -
Bereits zum zweiten Male an diesem Tage hatte Gracchus das flavische Familienvermögen eingehend geprüft, ohne dabei eine gravierende Variation der Zahlen zum Vortag festzustellen. Ohnehin flossen die Zeichenkolonnen mehr an seinem Geist vorbei, als dass er ihnen tatsächlich viel Aufmerksamkeit schenkte, doch die Kontrolle der Vermögenssituation war zumindest ein Vorwand, dem er sich täglich konnte widmen, ohne allzu offensichtlich sich einzugestehen, dass das Stöbern in Serenus' privater Bibliothek und das Studium anderweitiger Schriften ihn tatsächlich zur Genüge ausfüllten und er die Tatenlosikgeit, welcher er sich Tag um Tag widmete, durchaus zu Goustieren wusste. Als jedoch ihm wurde gemeldet, dass Claudia Epicharis im Atrium wartete, war dies ein mehr als willkommener Anlass, diese Arbeit zu unterbrechen, und sie zu empfangen, obgleich Gracchus derzeitig keinen Anlass für ihren Besuch sah und darob nichts Gutes dahinter vermutete, galt ihm die Claudia doch als zu enge Vertraute seiner Gattin. Dennoch, sie würde als Claudia sich nicht erdreisten, jedwedes Gespräch hin auf diese Dinge zu lenken. Er folgte darob dem jungen Sklaven in das Atrium, eine Szenerie, welche ihn immer gar schmerzhaft an seine Base Leontia zu erinnern wusste, war sie doch maßgeblich für die entzückende Ausgestaltung der Räumlichkeit verantwortlich gewesen. Bereits vom Eingang des Raumes aus fiel Claudia Epicharis in Gracchus' Blick, störte sie doch das harmonische Ambiente durch ihre unablässig rastlose Bewegung.
"Salve, Claudia. Welch bezaubernder Anblick in unserem Hause. Es ist mir immer eine Freude, eine Verwandte meiner Gattin begrüßen zu dürfen."
Er stockte in seiner flüssigen Begrüßung, als ihr derangierter Blick ihm wurde gewahr, ihre gänzliche Haltung wollte nicht im Geringsten zu der stolzen Claudia passen. In unbewusster Art schob sich Gracchus' rechte Augenbraue empor, doch in diesem Augenblicke lag nichts Despektierliches in jener Bewegung, einzig Irritation.
"Ist etwas geschehen?" -
Noch bevor er die Augen öffnete, wusste Gracchus, dass etwas nicht stimmte. In seinem Hinterkopf pochte es dumpf, als würden dort die versammelten salii einen ihrer Stampftänze aufführen, zudem war er umhüllt von nassen Stoffschichten, seine Knochen drückten sich auf ungewohnten Grund, so dass es unmöglich sein Bett konnte sein, auf welchem er in der Waagerechten zu Liegen gekommen war. Etwas stimmte nicht, dessen war er sich sicher. Er versuchte sich daran zu erinnern, was das letzte war, an das er sich erinnerte, doch es trieben nur verworrene, nebulöse Fetzen durch seinen Geist, Traumreminiszenzen eilten wie kleine schattige Silhouetten durch sein Gedankengebäude und verschwanden hinter Türen und Ecken, sobald er sie glaubte erreicht zu haben. Eine Stimme hallte in seinen Ohren, zu wirklich ihr Klang, um sie zu ignorieren, doch zu irreal ihr Sinn - von einem Traum in den nächsten, Albengefilden ohne Ende, ohne Erlösung mit Vergehen der Nacht. Wach auf. Der Schlafende muss erwachen. Blinzelnd, mit einem leisen Aufstöhnen ob des Pochens in seinem Kopfe, öffnete Gracchus die Augen, versuchte sich dessen gewahr zu werden, wo er war, wer war und was war. Er wachte auf, doch der Traum ging weiter. Wie einer der Blitze draußen vor dem Fenster die Nacht, so durchzuckte Gracchus die Erkenntnis dessen, was vor ihm, über ihm schwebte, und nicht das noch so schärfste Schwerte an noch so filigranem Faden über des Damokles' Kopfe konnte annähernd so furchterregend sein wie der larva Rutger Thidriksons. In panischer Furcht, einen neuerlichen Aufschrei unterdrückend und einzig ein furchtvolles Keuchen echappieren lassend, rückte Gracchus auf der Kline zurück, seine Glieder noch kaum unter Kontrolle, seinen gesamten Körper noch kaum unter Kontrolle, kaum noch seinen Geist, weg von der unterirdischen Macht. Abwehrend hob er seine Hände vor sich, zitternd bebte seine Stimme, die Worte hasteten aus seinem Munde als würden sie dazu gereichen, eine Mauer zu bilden zwischen ihm und dem untoten Germanen.
"Dii inferiores, nehmt zurück was aus Eurem Reiche entkommen! Diese Tage sind nicht Euer, noch diese Nächte! Dis Pater, halte im Zaum die Deinen, wie es Deine Pflicht ist! Dius Marmar, kehre den Fluch und dränge das unterirdische Gezücht zurück in seine Bahnen! Weiche, larva, weiche zurück in die Gefilde, welchen du entstiegen bist!"
Übermächtig wurde das Pochen in seinem Schädel, als wolle es ihn an Vergangenes, Versäumtes erinnern. Ohne den Sklaven aus den Augen zu lassen, zog Gracchus eine Hand zurück, um nach seinem schmerzenden Hinterkopf zu tasten, schließlich spürte er dort eine merkwürdig geleeartige Paste zwischen den Haaren, von welcher er sich gänzlich sicher war, dass sie dort nicht hin gehörte, obgleich er zugeben musste, dass er selten seinen Hinterkopf betrachtete oder befühlte. Langsam und zitternd zog er die Hand zurück, schob sie in das Blickfeld zwischen Rutger und sich selbst, und betrachtete irritiert die blutbeschmierten Fingerkuppen der Hand vor sich. Es war seine Hand. Seine Hand, welche eben noch an seinem Hinterkopf getastet hatte. Seinem Hinterkopf. Blut an seiner Hand. Blut an seinem Kopf. Sein Blut. Blut. Rotfarbenes Blut. Sein Blut. Ehe noch Gracchus überhaupt wieder völlig zu Sinnen gekommen war - ein ohnehin äußerst diffiziles Ansinnen in dieser Nacht ob all der natürlichen und erschaffenen Widrigkeiten, verabschiedete sich sein Geist erneut aus der Wirklichkeit ob dieser Tatsache, denn konnten ihn selbst Sturzbäche von Opferblut nicht im Geringsten berühren, so gereichte schon eine geringe Menge menschlichen Blutes seit jeher dazu, ihn aus der Realität zu katapultieren. Gracchus' Pupillen drehten sich der Schädeldecke zu, sein Kopf sank zurück auf die Kline und seine Hände fielen abrupt auf seine Brust, wie die einer Marionette, welcher man die Fäden hatte gekappt. -
Ein Stück Pilz wanderte gerade auf Gracchus' Mund zu, wurde jedoch auf halbem Wege gestoppt als jener seine Hand sinken ließ. Gleichzeitige unbedingte Aufmerksamkeit auf zweierlei äußerst gewichtige Angelegenheiten gehörte nicht unbedingt zu seinen Stärken, und wie das Gespräch seine vollste Konzentration forderte, so hielt Gracchus wenig vom beiläufigen Speisen, forderten kulinarische Genüsse doch die gänzliche Hinwendung aller Sinne, um sie gebührend zu delektieren.
"So habe ich dich denn falsch eingeschätzt, Caecilius. Ich hing tatsächlich der irrigen Annahme an, du wärst ein Römer von tugendhafter, pflichtbewusster Couleur, ein Praefectus, welcher gleichsam sein Leben dem Imperator schuldet, doch darüber hinaus nicht vergisst, wofür unser Kaiser steht und wofür er lebt. Doch, so denn deine Tat letztlich deinen eigenen Interessen folgte, so mag ich mich darob äußerst glücklich schätzen, dass dein Interesse an meiner Schwester groß ist, da sie diesem Umstand wohl ihr Leben verdankt. Gleichsam muss ich deine Hoffnungen enttäuschen, denn eine Flavia ist nicht käuflich."
Obgleich ihn das Gespräch mit seinem Vetter Aquilius durchaus hatte auf alle Eventualitäten vorbereitet, so dass Gracchus längst seine Dysphorie ob jener prekären Sachlage hatte überwunden, so verspürte er doch ein gewisses Maß an Indignation ob dieser unverblümt insolenten Invektive des Caeciliers. Doch er ließ sich dies nicht anmerken und fuhr in gelassener Weise fort.
"Was den übrigen Sachverhalt betrifft, so muss vermutlich ich mich wohl bei dir für das Verhalten meiner Schwester exkulpieren. Minervina kehrte erst vor nicht allzu langer Zeit aus Aegyptus heim nach Rom, seit dem Tode unserer Mutter lebte sie dort in, nun, sagen wir größtmöglicher Freiheit, welche eine junge Frau von ihrem Stande erlangen kann, und welche sie diesen Stand und seine Verpflichtungen durchaus manches Mal vergessen lässt. Sie ist eine junge Frau, welche Schwärmereien folgt wie ein Schmetterling dem Duft einer Blume. Doch nachdem der Falter sich zur Genüge am Nektar goutiert hat, verlässt er die Blume, Caecilius, und es schert ihn mit keinem Gedanken, wenn das Gewächs zu welken beginnt."
Für einen Moment wurde Gracchus' Blick abgelenkt zu dem blonden Sklaven, welcher dem Gast Wein nachschenkt, folgte den schlanken, langen Fingern, die fest um den Griff der Kanne gelegt waren, über die dünnen, beinah knochigen Arme bis hinauf in das attraktive Gesicht, welches augenscheinlich in Zwist stand mit sich selbst, unsicher, ob es noch zu einem jungen Knaben oder schon zu einem reifen Manne gehören mochte, und blieb schlussendlich auf den schmalen Lippen liegen, die in Konzentration fest zusammen gekniffen waren. Unwillkürlich schluckte Gracchus die Trockenheit in seiner Kehle hinab, griff zu seinem Weinglas, um die Ödnis zu löschen, bevor er sich selbst dessen erinnerte, wessen er den Caecilier zu assekurieren suchte.
"Minervina entstammt einem Kaisergeschlecht. Glück findet sich in diesem Stande selten in einer Ehe, Liebe noch viel seltener. Ich will ehrlich zu dir sein, Caecilius, du kannst nicht annähernd den Forderungen gerecht werden, welche sie an eine favorable Verbindung stellt. Dass du in Rom bist, während unser Kaiser in Parthia ficht, mag dabei noch als unbedeutend gelten, doch trotz allem bist du an ihn gebunden. Du magst derzeit ein hohes und durchaus nicht unbedeutendes Amt inne haben, doch dies genügt nicht. Eine Scheidung ist mehr nur als ein Ärgernis, darum werden flavische Ehen antizipierend geplant und vollzogen. Deine Zukunft ist so ungewiss wie der Wurf eines Würfels, er kann italia zeigen oder auch i, die Würfel können morgen fallen oder erst in Jahrzehnten. Minervina mag noch Gefallen finden an diesem Spiel, doch ist sie sich ihrer Pflichten bewusst, ihre Verbindung mit einem standesgemäßen Gatten ist bereits in Planung, nicht aus Zwang, sondern aus freien Stücken, denn immerhin ist sie sui iuris, so dass letztlich nur ihre eigene Entscheidung zählt."
Natürlich zählte in keiner Ehe solcherlei Art und Weise nur die eigene Entscheidung, doch dies war ein Sachverhalt, welchen Gracchus nicht mit seinem Gast zu erörtern gedachte, da solcherlei in Familien, welche nicht diesen Zwängen und Pflichten unterlagen, zumeist ohnehin kaum nachvollzogen werden konnte, nur auf Unverständnis stieß und bisweilen zu despektierlicher Desavouierung führte. -
Langsam kroch die Kälte über Gracchus' Fußsohlen seine Waden hinauf und es schauderte ihn ob dessen, doch hielt es ihn nicht ab, hinaus aus dem Gebäude zu treten in die stürmische Nacht. Tief hingen die mit silberfarbenen Tropfen vollgesogenen Regenwolken über dem graufarbenen Land, warteten in ihrem beständigen Strom ungeduldig darauf, dass endlich auch der erste zuckende Blitzschlag mit ihnen hinaus aus den himmlischen Gefängnissen in die Nacht würde brechen, dass das tosende Donnerkrachen sie würde hinab zur Erde geleiten gleich kolossalem Schlachtengetrommel. Fetzen hellgraufarbenen Himmels kündeten von der bleichen, rundgesichtigen Luna, welche hinter den Wolken ihrem Tanz über den Himmel folgte, die Erde in dieser Nacht jedoch kaum nur konnte erreichen. Die feuchte Luft tief in seine Lungen ziehend, spazierte Gracchus langsam durch den Regen, blickte verzückt in das himmlische Gewölk über sich. Da endlich stöhnten die Wolken auf, barsten in lautem Krachen und hinterlegten für Herzschläge den Vorhang aus Regentropfen mit glimmendem Schein. Einzelne, grelle Blitze zuckten über die Hauptstadt des Imperium hinweg, zogen Gracchus gänzlich in seinen Bann, welcher in das vom Himmel herab prasselnden Nass stierte, die Tropfen aus seinen Augen blinzelte und sich am Anblick des Unwetters ergötzte. Gleichsam wie die kühlen Tropfen seine Kleidung durchdrangen, ihn von oben bis unten überzogen mit einem schimmernden Glanz aus Feuchtigkeit, war der Gedanke an Näses und Kälte nur mehr Nebensächlichkeit. Mit lautem Platschen ergoss sich der Regen in den Brunnen des Hortus, zerbarst in kleinen Explosionen auf allem Grund, welchen er erreichte, und versank lautlos im Tags zuvor noch trockenen Erdreich. Die Luft war erfüllt vom schweren Hall einer klingenden Melodie wie nur die Gewalten des Wetters sie konnten spielen - laut und tosend im einen Moment, dann wieder leise und sanft - die Welt ertrank im Odeuer der Harmonie des Spätsommers und all jenes wurde von ihrem Antlitz gespült, welches nicht von Dauer war. Das Leben reinigte sich selbst, befreite sich vom Schmutz der Tage, und erneuerte sich gleichsam im reißenden Strom des beständigen Wassers. Als hätte er nie etwas Schöneres gesehen, erlebt, gespürt, gerochen und vernommen, hing Gracchus mit all seinen Sinnen in jedem Blitzschlag an den glänzenden Tropfen fest, schwebte mit ihnen vom Himmel herab und durchlebte den Augenblick, ohne die Kälte zu bemerken, welche seinen Körper langsam durchzog. Seit langem nicht mehr hatte er diese Ruhe vernommen, hatte in solcher Harmonie getanzt und jene Art von Erhabenheit der Wirklichkeit in sich verspürt, welche die Nacht suggerierte und das Reich der düsteren Träume fern scheinen ließ wie die Länder am Ende der Welt. Nichts, kein Gedanke, kein Wort, keine Tat konnte ihn nun noch aus seinem inneren Frieden heraus reißen. Endlos - es schien Gracchus gar wie ein ganzes Leben - wandelte er vergessen im Dunkel durch den Regen, vom Zucken der Blitze und dem Trommeln des Donners begleitet, bis urplötzlich wie aus den Wolken geschüttet eine Gestalt vor ihm sich aus der nächtlich schummrigen Finsternis schälte. Erschrocken erstarrte Gracchus, als er des dunklen Umrisses wurde gewahr, doch nichts konnte ihn auf den Augenblick vorbereiten, als die Gestalt sich umdrehte, ihr bleiches Gesicht vom fernen Flackern der Lampen im Haus, dem blassen Schimmer der Nacht und einem gleißenden Blitz wurde erhellt, wie in einem weiteren Albtraum in dieser Nacht, welcher nun sein Ungeheuer entließ. Da stand er vor ihm, der Sklave, welcher hatte Arrecina entführt - nein, nicht der sie entführt hatte, sondern welchem sie verfallen war und welcher sie hatte zu ihrem wahnwitzigen Abenteuer angetrieben. In einem tiefen Winkel seines Selbst wurde Gracchus sich dessen gewahr, dass er noch immer musste Träumen, denn was er sah, dies konnte nicht sein, doch ebenso wie ein jeder Traum aufs Neue wie Realität erschien und wie Gracchus sich kaum jemals im Traume des Träumens bewusst war, so dachte er auch in diesem Moment nicht daran, und nahm die Realität als dies, was sie war, die tatsächliche Wirklichkeit. In dieser Wirklichkeit jedoch konnte der Sklave Rutger längst nicht mehr sein. Er hatte Arrecina geraubt, hatte damit nicht nur sie selbst, sondern gleichsam deren Vater Aristides und seinen Vetter Aquilius in Gefahr gebracht, er hatte sie verflucht und ihre Erinnerung genommen, oder er hatte dies nicht getan, doch gleichsam eine Aufhebung des Bannes gefordert - ob vorhanden oder nicht - und damit die Unterirdischen herausgefordert und dazu beigetragen, die Pforten zu ihren Reichen zu öffnen - kurzum, er hatte das gesamte Leben der Flavia in Aufruhr gebracht, und nichts anderes hatte er darob verdient als den Tod, jenen Tod, welchen Aquilius ihm schlussendlich hatte angedeihen lassen. Sciurus hatte seinem Herrn von der Kreuzigung des Germanen Rutger berichtet - obgleich Gracchus kaum Einzelheiten wollte hören, hatte er doch eher die Verschwendung des einst äußerst ansehnlichen Gesichtes bedauert - doch hatte er nicht dabei von der Geburt des Severus gesprochen, vielleicht aus Vergessenheit, doch viel eher aus Unkenntnis oder womöglich Berechnung. So wusste denn Gracchus einzig, dass der störrische Sklave den Tod hatte gefunden, so dass jener, welcher im Unwetter vor ihm stand, kein geringerer als der rastlose Geist des Rutger musste sein, sein unversöhnlicher larva, ein rachsüchtiger Unterirdischer, einer von jenen, welche Gracchus seit langem verfolgten, doch nie zuvor in derart stofflicher Art und Weise. Vor ihm stand ein Geist, ein Toter, ein Unding im fahlen Licht, ein diabolisches Flackern in den Augen, Blutgier ohne Zweifel, und Gracchus glaubte sehen zu können wie sukzessive Rutgers Muskeln sich anspannten und jeden Moment das Ungeheuer seine Finger nach seinem Halse musste ausstrecken, um an ihm Rache zu nehmen. Es geschah darob, was zumeist geschah in solcherlei Träumen, obgleich dies kein solcher war, Gracchus starrte mit weit aufgerissenen Augen das Furchterregende an, öffnete seinen Mund und entließ einen angstdurchdrungenen Schrei daraus.
"Aaahhhhhhhhh!"
Da die Welt sich jedoch dadurch nicht löste, die Stofflichkeit nicht an Wirklichkeit verlor, der Sklave Rutger gleich des über ihm tosenden Gewitters beständig blieb, blieb schließlich zum Entkommen aus dem vermeintlichen Traume nur, in eine andere Wirklichkeit zu flüchten, was in diesem Falle der dumpfen Besinnungslosigkeit gleich kam. Gracchus' Pupillen drehten sich hinauf zum Himmel hin als wolle er den Regen damit auffangen, sein Geist verabschiedete sich bereits vollends, während sein Körper noch zurück kippte, und schließlich erstarb auf halbem Wege, welchen der Kopf benötigte, um von erhobener Position bis zum steinernen Weg unter ihm hin aufzuschlagen, auch der Schrei. Mit einem dumpfen Laut kam Gracchus' Körper auf dem Grund zu liegen, sein Geist fern der Realität in Bewusstlosigkeit versunken. Ein Blitz durchzuckte die Nacht und ließ die Regentropfen aufleuchten, welche sich tanzend auf seinem Körper niederließen. -
Stürmisch zerrte der Wind an den Blättern, peitschte die Äste in wildem Tanz und schlug hart gegen die hölzernen Läden vor dem Fenster. Prasselnd fielen die dicken Tropfen vom Himmel hinab und begruben die Stadt unter sich, in welcher kaum mehr ein Mensch wachte und alle tugendhaften Bürger - so denn sie nicht der städtischen Einheit der vigiles waren zugehörig - längstens in friedlichen Traumreichen schlummerten. Womöglich nicht gar alle, denn manch einer um Tugend bemühte quälte sich Nacht um Nacht durch gar unliebsame, schaurige Gefilde im Reiche des Morpheus.
Silberflecken tanzten vor seinen Augen, welche weit aufgerissen in die undurchdringliche Finsternis starrten. Zögernd lauschte er in die Stille hinein, konnte doch nur seinen eigenen Atem rasseln hören, spürte die Kälte, welche langsam seine Haut von den Zehen an die Beine hinauf kroch, alsbald von seinem ganzen Körper Besitz ergriff, auf dass er letztlich gar zu zittern begann.
"Hallo?"
fragte er zaghaft in die stille Dunkelheit hinein, doch nur das dumpfe Echo seiner Worte hallte zurück. Vorsichtig tastete er sich in die Düsternis, schob langsam einen Fuß vor den anderen, als er hinter sich eines schwachen Glimmen wurde gewahr, ob dessen er sich umwandte. Er erstarrte, als er in sein eigenes, hasserfülltes Antlitz blickte.
"Manius, du Verräter!"
Er stolperte zurück, doch Quintus packte ihn am Kragen der Tunika.
"Du Verräter!"
Seitlich neben ihm griffen zwei weitere Hände nach ihm, deren Bewegung er musste folgen und darob mit seinen Blicken in Leontias verzerrtem Gesicht haften blieb.
"Wieso nur, teuerster Vetter, wieso nur?"
Auch von der gegenüberliegenden Seite her packten ihn Hände mit festem Griff.
"Verräter!"
Neuerlich war es Quintus.
"Wieso nur, Manius, wieso nur?"
Leontia auch in seinem Rücken. Immer mehr Hände griffen nach seinen Schultern, griffen nach seinem Körper, rissen über ihn hinweg, hinterließen Spuren ihrer scharfen Krallen in seiner Haut, in seinem Leib, begannen unermüdlich an ihm zu ziehen, zu zerren, jede in eine andere Richtung, bis dass er glaubte zerbersten zu müssen, zerreißen und zerspringen. Als er zersplitterte in Tausende von winzigen Partikeln schreckte er auf mit lautem Schrei."Nein! Leontia, nicht!"
Atemlos keuchte Gracchus. Fahles Mondlicht fiel durch das Fenster in den Raum hinein, beleuchtete die Szenerie nebulös, so dass es schien er würde sie durch milchiges Glas betrachten. Er drehte sich zur Seite zu dem warmen Körper neben sich und stieß ihn behutsam an der Schulter.
"Sciurus, wach auf. Wach auf, Sciurus."
Der Sklave drehte sich um, viel zu schnell für einen Schlafenden, doch war er längst nicht schlafend. Er entblößte eine grauenhafte Fratze, einem Oachkatzl gleich, doch mit völlig verwildertem, zerzaustem Fell, die Augen gelbfarben glühend, die spitzen Zähne blutbeschmiert, ein Ohr zerrissen durch eine tiefe Kerbe. Sciurus, das, was von ihm geblieben war, zischte wie ein Reptil.
"Manius, wir kriegen dich! Bald steht der mundus auf!"
Überall um ihn herum, in gewaltiger Kakophonie tausender Stimmen, kreischten sie, zischten und schrien, riefen und sangen sie, brüllten und krähten, krakeelten und gröhlten, quietschten und lärmten, zerrten mit aller Gewalt an seinen Sinnen.
"Wir werden dich verzehren ... Stück für Stück ... !"Verzweifelt warf Gracchus sich hin und her, wühlte sich in der Decke und seinem Kissen, versuchte der akustischen Agonie zu entfliehen, bis dass er endlich aus seinem Traum aufschreckte, das Gesicht seines Sklaven über sich gebeugt sah, der er versucht hatte, ihn aus den Albtraumgefilden zu reißen. Das fahle Licht einer kleinen Flamme, welche neben der Tür zum Gang hin in einer kleinen, silberfarbenen Öllampe flackerte, zeichnete Sciurus' Miene bleich und farblos, beinahe diaphan wie ein weiterer Traum. Am ganzen Leibe noch immer vor Furcht zitternd rückte Gracchus fort von seinem Leibsklaven, setzte sich heftig atmend auf und lehnte sich an die Wand hinter ihm. Schweiß rann seinen Rücken hinab und nur langsam gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit, weit genug, um Realität als solche zu eruieren und anzuerkennen.
"Es war wieder ein Traum, Herr, nur ein Traum", versuchte Sciurus ihn zu beruhigen.
"Ich brauche Luft"
, keuchte Gracchus.
"Ich muss den Himmel sehen, die Welt, die Wahrheit."
"Es regnet, Herr."
Gracchus schüttelte nur abwehrend den Kopf.
"Hole mir einen Mantel!"
Der Sklave tat wie ihm geheißen und reichte Gracchus kurz darauf einen Umhang, welchen dieser sich über sein Nachtgewand legte.
"Bleib hier"
, wies er den Sklaven an und eilte aus dem Raum, vergaß dabei völlig, seine bloßen Füße mit einem Paar Schuhen zu besohlen, doch Gracchus glaubte ersticken zu müssen, würde er noch lange in der Enge des Hauses verweilen. Es zog ihn zum Peristyl hin, wie durch fremde Hand gelenkt fanden seine Füße den Weg. Nur vor dem Gemach seiner Gattin verweilte er einige Herzschläge lang zögernd, unschlüssig, ohne zu wissen, weshalb, doch schließlich hörte er den Nachhall der Furien in seinen Ohren, hörte gleichsam wie sie mit Antonias Stimmlage seinen Namen artikulierten, floh auch vor diesem Raum weiter zum Peristyl. -
Während der Caecilier seine Ansicht Kund tat, goutierte Gracchus ein Lammspießchen, ließ sich das zarte Fleisch auf der Zunge zergehen und nahm gleichsam en passant wahr, dass der Gast nur äußerst zögerlich sich den Speisen widmete. Schlussendlich nickte Gracchus, es drängte ihn jene eine Frage, welche er sich bereits seit dem Zeitpunkt gestellt hatte, seit Minervina aus Hispania zurück gekehrt und ihm die Wahrheit berichtet hatte, doch er schluckte sie mit einem Schluck Wein die Kehle hinab, um vorerst endlich den wahrhaft indelikaten Part des Abends hinter sich zu bringen.
"Lassen wir so denn die uns ohnehin unzugängliche Frage nach der Motivation der Entführer bei Seite. Ohne Zweifel stehen wir Flavia, insbesondere der Zweig meiner eigenen Familie, tief in deiner Schuld für das, was du für meine Schwester getan hast. Es zeugt nicht von guten Manieren beim Soupieren über Geld zu sprechen, darum möchte ich dies vermeiden, so fern es möglich ist. Dennoch ist es gleichsam eine Notwendigkeit, unsere Schuldigkeit zu nivellieren und die entstandenen Abnormitäten im Gefüge unserer Familie zu egalisieren, darum möchte ich dich bitten, nur den Betrag zu notieren, alles weitere soll nicht heute unsere Sorge sein."
Wie beiläufig wies Gracchus auf eine geschlossene Wachstafel aus dunklem Holz mit filigranen silbernen Beschlägen.