Beiträge von Manius Flavius Gracchus

    Nachdem er auch selbst einen Schluck des Weines genossen hatte, lehnte sich Gracchus zurück und versuchte, eine einigermaßen entspannte Haltung einzunehmen, doch nicht nur der Anblick seines Gegenübers wusste dies zu verhindern, auch waren es die Belange des Abends, welche Gracchus bereits schwer auf dem Magen lagen, ohne dass er diesem überhaupt etwas hatte zugeführt. Ein schmaler, drahtiger junger Bursche mit blondem Haar, hellen Augen und kantigem Gesicht stellte sich neben Crassus, um ihm während des Mahls alle Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, ihm die Speisen anzureichen und Wein nachzuschenken, sofern dies notwendig und gewünscht war, und Gracchus stellte sich bei seinem Anblick die Frage, ob wohl Sciurus für jene kleine Auflockerung der ansonsten ihm so drückend erscheinenden Atmosphäre hatte Sorge getragen, oder ob dies gar ein Sklave aus dem privaten Besitz des Caeciliers war, war ihm dieses Gesicht doch bisherig in der Villa noch nicht aufgefallen, was sicherlich wäre der Fall gewesen, wenn der junge Mann schon des längeren im Haushalt hätte verweilt. Weitere Sklaven traten ein und brachten die Vorspeise heran, mit pikant gewürztem Käse gefüllte Riesenchampignons und kleine Spießchen vom Lamm mit Salbeiblättern ummäntelt, dazu das obligatorische Fladenbrot und einige Tunken.
    "Meine Schwester Minervina berichtete nicht sonderlich viel über die Geschehnisse in Hispania, gleichsam drängte ich sie nicht, waren doch vermutlich jene allein der Leichtigkeit ihres Seins bereits genügend abträglich. Dennoch würde ich gerne wissen, wie diese Banditen dazu kamen, ihre Forderungen dem Praefectus Praetorio zu stellen, anstatt diese, wie doch sonst bei solcherlei eher üblich, der Familie gegenüber zu äußern."
    Viele plausible Möglichkeiten schossen ihm hierfür durch den Sinn, gleichwohl wie nur eine einzige zufriedenstellend war, doch äußerte er nicht eine einzige davon, war ihm doch nicht nur an Eruierung der Wahrheit gelegen, sondern gleichsam auch an Eruierung der Wahrheitstreue.

    Gleich seinem Kopf hob sich Gracchus' rechte Augenbraue da er hörte, wie nach dem Klopfen sogleich die Türe wurde geöffnet, doch senkte sie sich alsbald wieder, als dem Öffnen seine Schwester Minervina folgte. So war sie denn zurück von ihrer Reise nach Aegyptus. Langsam legte Gracchus die Schriftrolle, welcher er sich noch eben hatte mit größter Aufmerksamkeit gewidmet - einem Bruchstück einer Abschrift Anaximenes' Werkes Über die Natur- zur Seite, und bereitete sich einen Augenblick innerlich auf das Gespräch vor, welches würde folgen, musste folgen ohne Zweifel, bis seine Schwester die Mitte des Raumes hatte überschritten.
    "Minervina"
    , grüßte er sie.
    "Ich hoffe, die Reise war agreabel. Hast du meinen Brief erhalten?"

    "Verliebt!"
    Es war sonderbar, wie dieses Wort Gracchus im Halse stecken blieb und er es gleichsam ausspucken konnte, als hätte er sich daran die Zunge verbrannt. Wut stieg in ihm auf, angefacht von seiner ohnehin schon völlig derangierten Gemütslage war es diesem Aufwallen von Zorn ein leichtes, die seit jeher gepflegt und gehegte Mauer der Gravitas zu durchbrechen. Mühsam presste er die Kiefer aufeinander, mühsam nur hielt er seine Verachtung zurück, zwang seine Worte zwischen den Zähnen hindurch.
    "Wen schert es, wenn sie einen Sklaven liebt! Soll sie sich ein Dutzend halten, wenn es ihr Spaß macht, doch erst, wenn sie bereit ist, gleichsam ihre Pflicht zu erfüllen. Bei Amor, Anteros und Angerone, als hätte nicht ein jeder von uns seine Bettgefährten und Liebschaften, doch ist das etwa einen Grund, das halbe Haus auf den Kopf zu stellen!? Kann nicht ein Mensch in dieser Familie einmal nur an die Familie denken!?"
    Es war endgültig um Gracchus geschehen. Im Grunde genommen lebte er doch in einer recht behüteten, ordentlichen, agreablen und von Wahrheit und Güte durchdrungenen Welt, so war zumindest seine Überzeugung entgegen allen Widrigkeiten und entgegen jeglichen Erlebens, doch vermutlich - unzweifelhaft - war die Wahrnehmung seines Umfeldes zu sehr von seinem inneren Sehnen und Wunschdenken geprägt und damit so fern der Realität wie das Elysium vom Hades war entfernt.
    "Schwäche! Schwäche ist dazu da, um sie zu überwinden! Wozu sind die Tugenden uns mitgegeben, wenn nur doch ein jeder sich über die Bemühung darum hinweg setzt! Sind denn hier alle nur noch von Sinnen? Du hättest sterben können im Ansinnen, sie aus ihrer Tollheit zu reißen und nur die Götter haben verhindert, dass auch deinen Leichnam wir noch müssen bestatten! Ich habe die Pforten zur Unterwelt geöffnet, um einen Fluch zu brechen, welcher nicht vorhanden war - wen wundert da noch, dass die Unterirdischen mir noch immer zürnen?! Ist es denn zu viel verlangt, dass sie darüber nachdenken was sie tun, bevor sie die halbe Familie ins Verderben reißen? Sollen sie doch ihr eigenes Leben hinfort werfen, sollen sie sich im Dreck suhlen, wenn es das ist was sie wollen, sollen sie sich einem einzigen Gott an den Hals werfen, wenn es dies ist, wonach es ihnen verlangt, sollen sie sich an den Hals werfen, wem sie wollen, wenn sie nur nicht hernach erwarten, dass die Familie für sie eintritt, dass die Familie sie aus allem wieder heraus holt, dass die Familie überhaupt noch die ihre ist! Niemand muss perfekt sein, doch solange sie Flavia sind, haben sie sich wie Flavia zu benehmen!"
    In seiner Rage packte Gracchus seinen Vetter an den Schultern, schüttelte ihn leicht.
    "Ich habe es satt, ich habe es wahrlich satt alles und jeden nur irgendwie immer wieder ins Lot biegen zu müssen, mir den Kopf zu zerbrechen über ihr Schicksal, welches sie hernach doch nur wieder hinfort werfen ohne auch nur darüber nachzudenken, ohne auch nur im Mindesten an die Konsequenzen für die Familie zu denken! Ich habe es satt!"
    Laut hallte der letzte Satz durch den Raum, zu laut in Gracchus' Ohren, zu laut für ihn. Er erstarrte, als würde er erst jetzt bemerken, was geschah, blickte auf seine Hände, welche die eines Fremden zu sein schienen, welche sich im Griff um Aquilius' Schulter hatten verkrampft. Es kostete ihn Mühe, seine Gliedmaße zu befehligen, von seinem Vetter zu lassen, los zu lassen, abzulassen. Betreten senkte er den Blick, in Scham über sich selbst und darüber bereits erneut am Verzweifeln, da er spürte, dass in eben diesen Augenblicken neuerlich ein Teil seiner Welt jeglicher Grundlage wurde beraubt und darob in sich zusammen brach. Von niemandem erwartete er Perfektion, da er selbst nur allzu genau wusste, dass dies unmöglich war, doch er erwartete das Streben danach und wenn auch dies nicht, so war das Mindeste, war das Geringste, was er in dieser Familie erwartete nur mehr die Wahrheit.
    "Verzeih. Ich bin nicht mehr ich selbst. Das ist ... zu viel auf einmal ... und ich ... ich will das nicht glauben müssen."
    Langsam schüttelte er den Kopf, als könne er so verhindern, dass die Wahrheit sich in seinen Sinnen würde festsetzen.

    An seinem augenscheinlich außerordentlich großen Glück konnte Gracchus sich nicht unbedingt gütlich tun, zu schwer ließ die prächtige Rüstung darüber hinweg sehen, wer in seinem Atrium stand, gleichsam intensivierte dies nur sein Ansinnen, würde er dies doch kaum je vergessen können.
    "Um so mehr ist es eine Ehre, dich empfangen zu dürfen, vor allem da die Klärung jenes deplorablen Zwischenfalles doch bereits zu lange auf sich warten ließ."
    Damit waren der höflichen Floskeln denn vorerst genüge getan, so dass Gracchus den Caecilier ins Triclinium hinüber führte. Der Raum war für diesen Besuch nicht extra hergerichtet worden, wie manches mal bei besonderen Anlässen der Fall, denn das flavische Triclinium strahlte auch alltäglich bereits eine harmonische Atmosphäre aus, welche in dezenten, subliminalen Akzenten auf die Noblesse und den Wohlstand der Bewohner hinwies - es sei denn, man betrat es an einem sogenannten 'Spinat und Gersten-Tag', an welchem der junge Serenus dazu neigte, entgegen jeglicher Noblesse sowohl Spinat, als auch Gerstenbrei mehr über den Tisch zu verteilen, denn seinem Magen zuzuführen, woran sich jedoch wiederum kaum einen der übrigen Bewohner des Hauses störte, da es an solcherlei Tagen üblich war, außer Haus zu soupieren oder sich ob der enormen Fülle der Aufgaben wegen eine Kleinigkeit im eigenen Arbeitszimmer anreichen zu lassen. Ein solcher Tag jedoch war dieser Tage fern, so dass nichts das gehobene Ambiente störte. Gracchus wies seinem Gast den locus praetorius zu und nahm selbst summus in imo Platz. Sogleich eilten zwei Sklaven heran, um ihre Füße von Stiefeln und Sandalen zu befreien, zwei weitere brachten silberne Schüsseln mit warmem Wasser zum Reinigen der Hände, während ein schmaler Bursche aus einer Kanne verdünnten Wein in die grünfarbenen Gläser goss. Es war nicht einer der besten Weine, welche der Keller des Flavius Felix bot, doch gab es gleichsam in diesem Keller keinen Wein, welcher in geringerer als äußerst delektabeler Weise die Kehle hinab floss. Gracchus hob sein Glas, um den Abend einzuleiten.
    "Auf den Genius des römischen Volkes!"
    Während er das Glas mit der Linken hob, wies es mit der Rechten auf eine bronzene Figurine in der Mitte des Tisches, welche einen Jüngling mit Füllhorn in der einen und Szepter in der anderen Hand, mit lockigem, gesenkten Haupt und um die Hüften drapiertem Gewand darstellte, und goss sodann einen kleinen Schluck des Getränkes in eine flache Schale, welche vor dem Genius stand.

    ~~~ Gefangen in Morpheus' Reich ~~~

    Schwarzfarben hielt die Nacht das Land in seinen Klauen, nahes Donnergrollen schob sich über das Gewölk, wild zuckten goldfarbene Blitze über den Himmel, in ihrem fahlen Schein ein Haus beleuchtend, eine Villa, die auf Klippen stand. Verzweifelt kämpfte er mit seinem Ross, sprang ab und flüchtete durch die spitz schneidenden Tropfen des Regens zum Tore hin, pochte laut, einmal, dann zwei, scharf zerrte der Wind an seinem Mantel. Ohne Gestalt schob knarrend sich die Türe auf, gab frei den Weg ins Innere des Gebäudes, ein dunkler Schlund, gähnende Einsamkeit durchbrochen vom rotfarbenen Glühen der Fackeln wie Augen in der Dunkelheit. Masken an der Wand begleiteten jeden Schritt, Ahnen mit ihrem durchdringenden Blick, seine Ahnen, fremde Ahnen, doch voller Vorwurf und Missgunst in den Augen, schwach erhellt aus der Ferne vom launenhaften Flackern eines Herdes Feuers. Vorbei an der Erinnerung trat er zum Feuer hin, starrte in den lebendigen Brand, die Flamme zischte, zuckend der Tanz inmitten der Glut. Tausende Augen sich lösten aus dem rotfarbenen Leuchten, tausende schmale Schlitze, bösartig und leer, übermächtig der Feind in finsterem Grollen die Welt um ihn herum in Schutt und Asche brannte. Eine einzelne tanzende Flamme erhob sich sodann, filigran und epiphan, sanft sich wiegend im fahlen Schein, ein Geschöpf aus Hitze geboren, reckte seine zierlichen Arme nach ihm, schwang das flammende Haar durch die Luft und zeigte ihr entzückendes Lächeln aus brennend rotfarbenen Lippen. Doch er konnte nicht sie erreichen, ohne gleichsam dem Feuer zu verfallen, konnte ihre Berührung nicht forcieren, ohne dass seine Haut in Hitze versank. Rotfarben glühten kleine, tropfene Kohlestücke auf ihren Wangen und es dauerte lange, bis er erkannte, dass dies Ausdruck ihrer Trauer war. Finsternis umschloss allmählich den Herd, ließ die liebliche Flamme schrumpfen, biss dass sie letztlich in einem letzten, leisen Aufstöhnen erlosch, in welchem er seinen Namen zu entdecken glaubte, bevor auch er von Finsternis wurde umhüllt.

    ~~~

    In Gedanken versunken betrachtete Gracchus seine Fingernägel, welche Stunden zuvor noch nach einem Bad in durch Wasser verdünnte Milch von seinem Leibsklaven Sciurus waren gefeilt und poliert worden, und ärgerte sich ein klein wenig über die Kante des linken Ringfingers, welche nicht in sanftem Schwung verlief, sondern eine kleine Einkerbung aufwies. Es war ein Malheur gewesen, an welchem niemand geringeres als er selbst die Schuld trug, was ihn darum nur um so mehr indignierte, je länger er darüber sinnierte. Er saß auf einem mit rotfarbenem Leder bezogenen Stuhl im Atrium der Villa Flavia und hatte tatsächlich nichts besseres zu tun, als auf seinen Gast zu warten, denn dieser Tage hatte Gracchus ob der Gegebenheiten tatsächlich nur äußerst wenig zu tun und Dinge zu tun, welche nicht unabdingbar waren, konnte er sich zudem schwerlich nur überwinden. Zudem mochte es zwar dieser Tage als distinguiert gelten, einen Gast warten zu lassen, doch solcherlei Moden degoutierten Gracchus aufs äußerste, weshalb er nicht gewillt war, sich dem zu beugen, sondern in womöglich altmodischer Weise an Traditionen wie Höflichkeit und Gastfreundschaft festhielt. Als darum der Caecilier angekündigt wurde, erhob sich Gracchus, um den Gast noch im Atrium zu empfangen, bevor sie sich weiter in das Triclinium würden begeben. Was auch immer der Praefectus Praetorio durch das Tragen seiner Rüstung hatte bewirken wollen, in Gracchus' Fall führte es dazu, dass der ohnehin schon überaus reservierte Patrizier sich noch ein wenig mehr versteifte. Dennoch trat er mit freundlicher Miene auf den Praetorianer zu, um ihn zu begrüßen.
    "Salve, Caecilius! Ich bin äußerst erfreut, dich in der Villa Flavia begrüßen zu dürfen, und hoffe doch sehr, es bereitete dir nicht allzu viele Schwierigkeiten, ein wenig Zeit für dieses Mahl freizuschaffen, denn sicherlich hat die praetorianische Garde auch in Abwesenheit des Imperators eine Menge Aufgaben."
    Natürlich war dies nur eine reine Floskel der Höflichkeit, denn Gracchus hatte sich noch nie darüber Gedanken gemacht, was die praetorianische Garde in Abwesenheit des Imperators in Rom tat und er wollte dies auch nicht, da er es nicht einmal ansatzweise wollte wissen, da dies nur zu unnötiger Beklommenheit konnte führen. Es war nicht unbedingt, dass Gracchus Furcht verspürte in Anwesenheit der kaiserlichen Garde, doch in diesen Augenblicken fühlte er sich ertappt, ohne genau zu wissen, wobei.

    "Großmutter"
    , verbesserte Gracchus seinen Vetter während dessen Rede, ohne sich dessen wirklich bewusst zu sein, denn es machte ohnehin keinen Unterschied hinsichtlich Serenus. Der Cultus Deorum hatte dem Jungen gut getan, er hatte viel Interesse an den Riten gezeigt und womöglich konnte Aqulius ihn noch einiges lehren, nun da Gracchus dies nicht mehr tat und noch immer nicht wusste, ob er es wieder würde tun können. Noch immer war sein Weg diffus, obgleich er durchaus gewillt war, irgendwo hin zu gehen, solange nur Aquilius an seiner Seite ging. Doch ohnehin war dies vorerst nebensächlich, denn schon sprach Aquilius erneut in Rätseln, von Dingen, welche keinen Sinn ergaben, wie hinter einem Schleier aus Regen verborgen. Allmählich glaubte Gracchus sich in einem Theaterstück gefangen, einem billigen Possenspiel womöglich, doch keinesfalls in jener tiefgehenden Tragödie, welche dem flavischen Haushalt von Standes wegen wäre angemessen gewesen.
    "Arrecina ... Gespielin eines Sklaven ... von was sprichst du?"
    Ein Bild formte sich vor dem Inneren seiner Augen, ein Bild Arrecinas, jenes scheuen und untadeligen jungen Mädchens, welches seine Nichte war, wie sie verängstigt ob der Unterirdischen in ihrem Zimmer stand, wie ihr schmaler Körper in seinen Armen zitterte und sie sich vor der Dunkelheit und dem Schlaf fürchtete. Ein kalter Hauch zog über Gracchus' Nacken, er versteifte sich und spürte gleichsam, wie die Knochen in seinen Beinen weich wurden, wie eisige Hände nach seiner Kehle griffen und aus der Ferne sich feixende Stimmen zu nähern suchten, ein dumpfes Tuch legte sich über seine Sinne, sein Atem verlor den regelmäßigen Puls. Unsicher wich er einen Schritt zurück, haltsuchend an die Wand neben der Tür, zu welcher er vor Augenblicken noch geflüchtet war, um sich selbst zu entkommen, doch allmählich dämmerte ihm - noch immer gegen seinen Willen, dass nicht er sein schlimmster Feind würde sein. Er wollte nicht wissen, von was Caius sprach, weder über Arrecina, noch über seine Schwester, denn zu groß war die Furcht vor der Wahrheit der Worte seines Vetters, denn er wusste, dass Aquilius die Wahrheit sprach, vor allem dann, wenn er über Gespielinnen und Stuten sprach.
    "Das kann alles nicht sein, Caius. Arrecina, Minervina ..."
    Er brach ab. Minervina. Was verband ihn mit seiner Schwester? Was verband seine Schwester mit der Familie? Hatte sie nicht viel mehr Anteil an der Familie erhalten dürfen als er, der er ins ferne Achaia gesandt worden war. Konnten beinahe Fremde, welche auf die Ehre der Familie drängten, so viel mehr erreichen, als eine Mutter selbst? Hatte sie dies überhaupt? Konnte Minervina gleichsam so weit von der Untadeligkeit ihrer Schwester entfernt sein, welche ihr Leben aufgeopfert hatte für die Familie?
    "Sie gab mir ihr Wort ... ihr Wort ..."
    Glaubensbrecher, Verbrecher, Wortbrecher. Er wollte nicht daran glauben, er wollte es nicht, nicht so lange noch eine winzige Spur von Hoffnung bestand.

    ~~~ Gefangen in Morpheus' Reich ~~~

    Wolken verbargen die glimmenden Sterne, die Luft roch nach violetten und dunkelbraunen Blättern, welche in klammer Kälte vermoderten. Längst hatte das Welken auf die Welt übergegriffen, zogen dornige Ranken über die mit Rissen übersäte Mauer hinweg und suchten bis durch die Fenster ins Innere des Hauses zu gelangen. Verbrannt lag die schwarzfarbene Erde, Staub und Asche verwehte der sanfte Hauch des Windes, aus der Ferne her drang der leise Klang eines dumpfen Herzschlages, rhythmisch, sukzessive lauter werdend. Wo ist der Raum, wenn man in ihm steht? Nichts an diesem Ort schien wirklich, fremdartig und doch so vertraut, längst gekannt aus vormaliger Erinnerung, gleichsam verborgen in zukünftiger Ungewissheit. Vertraute Gesichter zogen wie Schatten vorbei, fremde Fassaden im Nebel, Meilensteine der Einsamkeit, ohne Bedauern und ohne Diskulpation. Er brauchte Schlaf, wollten endlich den Bildern in seinem Kopf entkommen, bettete seinen Geist auf einem Nest aus spitzen Federn und weichem Stein. Ein weißfarbenes, plüschiges Lamm sprang über den hölzernen Zaun, ein zweites dahinter, kontinuierlich folgte eines ums andere, so dass er versuchte, sie zu zählen. Doch immer übersah er ein einzelnes, so dass der Zug von vorn begann, von vorn mit dem weißfarbenen, unschuldigen Lamm, gefolgt von dem Wolf im Schafspelz, hernach ein Schatten aus ferner Zeit, bis zum nächsten Vergessen. Wenn der Tod nur ein Traum war, wer wollte dann schlafen und entschwinden in des Morpheus' Reich?

    ~~~

    Nachdenklich legte Gracchus den Kopf ein wenig schief, knetete weiter unbewussterweise an seiner Unterlippe, bis dass er schließlich die Hand sinken ließ und langsam den Kopf schüttelte.
    "Ich denke nicht, dass Serenus tatsächlich unstet ist. Nun, er mag ein wenig durcheinander sein, doch bei allen Göttern Caius, welches Kind wäre dies nicht, das unter den Augen Agrippinas aufwachsen musste. Sie ist wahrlich eine Hydra, eine Zunge schärfer als die nächste, ihre Ansprüche höher noch als die aller Väter der Welt zusammen genommen."
    Ein subliminaler Hauch von Furcht schwang in seiner Stimme mit beim Gedanken allein an Aristides' Mutter. Noch immer hoffte er, da sie diesbezüglich nichts weiter erwähnt hatte, dass sie nicht zu Leontias Bestattung nach Rom würde anreisen.
    "Ich sage es dir in völligem Ernst, sie hat sich in den Kopf gesetzt, die Großmutter eines Kaisers zu werden, nachdem es zur Mutter nicht reicht, und wenn Serenus vermeintliche Scherze über seine Zukunftsträume als Imperator macht, so sind dies ernsthafte Hintergedanken, welche Agrippina ihm injiziert hat. Viel eher, als dass er als verzogenes Balg endet, befürchte ich, er könnte eines Tages mit einem Messer im Rücken erwachen, noch ehe er überhaupt zu einem Manne herangereift ist, denn du weißt, dass die kaiserliche Garde in solcherlei Dingen keinerlei Spaß versteht, vor allem und in besonderer Weise nicht in Hinsicht auf uns Flavier und unsere Sprösslinge. Dennoch, Serenus ist ein überaus aufgeweckter und wissbegieriger junger Mensch, ich konnte dies selbst feststellen. Natürlich muss er vor allem anderen lernen, dass eine öffentliche Blamage der Familie in keinem Fall zu dulden ist, gleich wie sehr er sich in seiner persönlichen Ehre angegriffen fühlt, doch darüber hinaus besteht sicherlich noch die Hoffnung, dass ein großer Flavier aus ihm werden wird."
    Womöglich eines Tages vielleicht sogar ein Kaiser, doch soweit wollte Gracchus in keinem Falle denken.
    "Was meine Schwester betrifft, hüte bitte deine Zunge, Caius, wenn du von ihr sprichst! Ich dulde nicht, dass irgendwer sie als brünftige Stute bezeichnet, auch du nicht, und selbst dann nicht, wenn dies der Wahrheit entsprechen mag. Dennoch, ich mag es bezweifeln, dass dies so ist. Obgleich ..."
    Hatte seine Mutter nicht auch seinen Vater geliebt und war nicht Minervina den größten Teil ihres Lebens bei ihrer Mutter aufgewachsen? Hatte sie nicht selbst auf eben jene Verbindung verwiesen? Wer konnte wissen, welche Weisheiten ihre Mutter ihr trotz besseres Wissen mit auf den Weg hatte gegeben.
    "Nein."
    Er schüttelte energisch den Kopf.
    "Sie kann nicht ernsthaft glauben, dass sie diesen Caecilius heiraten kann. Er zeigt nicht einmal die geringsten Ambitionen, das ist völlig inakzeptabel. Sie würde die gesamte Gens blamieren. Nein, Caius, du musst dich irren. Wir haben darüber gesprochen, sie hat ihre Entscheidung getroffen und ich vertraue ihr."
    Immerhin war sie seine Schwester und wem sollte man trauen können, wenn nicht der Familie?
    "Caecilius dagegen traue ich nicht einmal so weit, wie du ihn werfen könntest, denn selbst, wenn du dich nicht bemühst, könnte es nicht nah genug sein. Ich kenne ihn kaum, doch Aristides' Überzeugung reicht mir völlig, er ist immerhin kaum ein Mensch, welcher zu Übertreibungen neigt, und selbst wenn nur die Hälfte all dessen der Wahrheit entsprechen sollte, was er berichtete, so ist es noch mehr als genug Grund, meine Schwester vor diesem Praetorianer zu bewahren. Wir stehen in seiner Schuld, ich werde diese Schuld begleichen, danach braucht er sich in diesem Hause nicht mehr blicken zu lassen, es sei denn auf Order des Imperators hin."

    Eine befremdliche, schwermütig und doch gleichsam feierliche Disharmonie begleitete die pompa funebris des Prudentius Commodus, wie es wohl immer der Fall sein mochte, wenn große Staatsmänner ein letztes Mal ihren Weg durch die Straßen Roms antraten. Im einen Augenblicke noch zogen die Musikanten und kreischenden Klageweiber an Gracchus vorbei, im nächsten Augenblick der leibhaftige Consul, verkörpert durch einen Mimen, so dass das darauffolgende Totenbett mit dem tatsächlichen Consul nur um so surrealer erschien, um so mehr noch ob des Glanzes, auf welchem der tote Körper gebettet lag. Gracchus selbst hatte den Prudentier nicht persönlich gekannt, doch sein Pflichtgefühl gebot es, einem führenden Staatsmann die letzte Ehre zu erweisen, gleichsam stand er stellvertretend für seine Gens, da es den senatorischen Mitgliedern der Familie aufgrund diverser Aufgaben deplorablerweise nicht vergönnt war, dieser Zeit in Rom zu weilen.

    Zitat

    Original von Caius Flavius Aquilius
    Ups. Hab gleich Platz freigeschaufelt, amicus meus ;)


    Mein liebster Vetter, du solltest solcherlei Aufgaben künftig einen Sklaven tätigen lassen, welcher sich damit auskennt, denn ich muss dir deplorablerweise mitteilen, dass deine Schaufel nicht tief genug reichte.


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    ~~~ Gefangen in Morpheus' Reich ~~~

    Diffus erst, doch sukzessive immer klarer werdend, schälte sich ein silbrigfarbener Glanz aus der opaken Dunkelheit, formte sich in schäumenden Wellen zu einem Spiegel. Ohne sich dessen bewusst zu sein, dass kaum ein Spiegel ihn von vordergründigem Antlitz würde zeigen, blickte er in die glitzernde Entität, blickte so lange in das reflektierende Bildnis hinab, bis dass er begann daran zu glauben, dass seine Seele auf die andere Seite hin übergegangen sei. Lautlos zerbarst die Scheibe, in Tausende infinitesimale Splitter, zertrümmert von eigener Hand, zu scharfkantig, um je wieder zusammen gesetzt zu werden, doch noch immer groß genug, um das Ich in Stücke zu zerschneiden. Im Versuch die Bruchstücke zu sammeln, sie erneut zu vereinen und sich neu zu komponieren, schnitten die Scherben tief in seine Haut, rotfarbenes Blut rann über seine Finger, rann auf den in der ferne schimmernden Boden hinab, mit ihm, der sich langsam niederkniete. Seine Finger fuhren über die blassen, marmornen Fließen, strichen das Blut über den Boden und versuchten eine Skizze seiner Satisfaktion zu zeichnen, doch der Grund weigerte sich, die Farbe zu trinken, denn längstens war sein Selbst im Spiegel gefangen. Er erinnerte sich an eine Welt aus den Augen eines Kindes, doch längstens war die Sehnsucht überdeckt von Erkenntnis und Abstraktion, war das Herz unwiederbringlich entschwunden in einem ungleichen Handel, gefangen in den Augen des Fremden hinter dem Spiegel. Längst verlorene Worte flüsterten aus der glänzenden Schicht heraus auf ihn ein, aus einer anderen Zeit und einem anderen Ort, füllten die hohle Leere, pochten wie ein fremdes Herz in seinem Kopf. Einen letzten Atemzug anhaltend konnte er den Odeur des süßen, entzückenden Lichtes richen, konnte die Welt der zerbrechlichen Dinge durch einen diaphanen Schleier hören, die Gedanken des Anderen in seinen Tränen schmecken, süßes, entzückendes Licht das zur Schwärze verging.

    ~~~


    "Quintus!"
    Hellwach fuhr Gracchus in die Höhe, atmete hörbar in die Dunkelheit hinein während seine Augen sich an das dämmrige Licht und den graufarbenen Schatten gewöhnten. Er hatte von seinem Bruder geträumt, nicht von Quintus Tullius, sondern von Quintus Flavius Gracchus, er hatte mit ihm ... Angestrengt versuchte Gracchus sich zu erinnern, doch die Bilder des Traumes schwanden längst aus seinen Sinnen, verwischten zu nicht vorhandener Reminiszenz. Verzweifelt versuchte Gracchus die Bilder vor seine Augen zu zwingen, doch je mehr er sich darauf zu konzentrieren suchte, desto weniger wollte ihm dies gelingen. Schließlich ließ er sich verzagt zurück in das Kissen sinken und schlief bald wieder ein.

    Hatte Gracchus an einem Defizit an Vertrauen und Hoffnung in sich und die Welt zu tragen, so besaß Aquilius mehr als genügend davon für sie beide zusammen. So war dies schon seit ihrer Jugend gewesen, ohne Aquilius' Zuspruch hätte Gracchus sich vermutlich kaum je zu jedweden eigenen Leistungen hinreißen lassen, würde vermutlich noch in gegenwärtiger Zeit an Buchstaben und Zahlen verzagen, von weitreichenden Gedankengängen ganz zu schweigen. Er hatte geglaubt, dieses defätistische Zögern würde mit der Zeit sich legen, hatte geglaubt, eines Tages ob der zurückliegenden Strecke des Weges stolz darauf zurück und ob dessen frohgemut nach vorn blicken zu können, doch noch hatte er diesen Punkt augenscheinlich nicht überschritten. Ob dessen war er froh, dass Aquilius noch immer an seiner Seite stand, noch immer ihn vorwärts zog und noch immer auf ihn verlass war ohne Einschränkung. Was auch immer geschah, Aquilius würde dafür Sorge tragen, dass er nicht am Boden zerstört liegen blieb, ebenso wie er würde dafür Sorge tragen, dass Aquilius nicht würde in leichtsinnige Höhen abheben, sondern am Boden der Tatsachen blieb. Die Worte seines Vetters indes klangen in diesem Augenblicke so konkludent, dass Gracchus sich längstens fragte, weshalb nicht Aquilius bereits im Senat saß, und sie klangen so von Wahrheit durchdrungen, dass neben aufkeimender Affirmation auch ein zarter Hauch von Furcht durch seinen Körper schwang, Furcht darüber einstmals im Wahn zu versinken und zu enden wie Domitianus, denn oft genug quälte Gracchus des nächtens bereits der Hauch der Unterirdischen und bisweilen sogar des Tages, obgleich er dies erfolgreich verdrängte.
    "Ich bin froh, dass nach alldem du noch immer mein Caius bist."
    Er ließ im Unklaren, ob sich dies alles auf Aquilius' Ausflug in die Welt der einfachen Bürger bezog, auf das verhängnisvolle Geschehen im heimischen Balneum oder seinen eigenen Ausflug auf der Suche nach seiner Base und seinem Zwilling - doch war dies ohnehin nur marginal, vermutlich war sich Gracchus dessen selbst nicht gänzlich sicher, vermutlich betraf dies ohnehin all dies und doch nichts davon, und in jedem Falle würde Aquilius wissen, wie dies zu verstehen war. So vertiefte Gracchus denn das Thema nicht weiter, ein leichtes Verstärken seiner Berührung kündete einzig davon, dass er nicht nur den Worten seines Vetters konnte folgen, sondern dass gleichsam der Sinn dahinter bis zu seinem Geiste vorgedrungen war.
    "Es wird nur eine sehr einfache Bestattung sein, ohne großes Aufsehen. Nur ein stellvertretender Leichnam, wir beide, einige Träger und ein oder zwei Klageweiber. Nicht mehr, denn die Riten können wir selbst vollziehen. Leontias Bestattung verlangt ein wenig mehr, doch gleichsam wird es eine familiäre Angelegenheit bleiben. Hierbei werden wir abwarten müssen, ob Aetius aus Ravenna anreisen möchte, zudem habe ich Serenus angewiesen ob dessen mit Minervina nach Rom zurück zu kehren."
    Womit Gracchus' Gedanken zurück zu seiner Schwester drifteten. Es verstimmte ihn ein wenig, in welchem Tonfall Aquilius über sie sprach, doch nicht etwa, da Aquilius kein Recht dazu würde besitzen, sondern ob der Furcht, dass dies gute Gründe könnte haben. Dennoch versuchte er, eine rationale Erklärung zu finden.
    "Eine unstatthafte Heirat? Ich bitte dich, Caius, das ist doch absurd! Er hat sie gekauft, vermutlich ist sie ob ihrer Indignation darüber mit ihm in den Garten. Die Summe, mit welcher der praefectus sie aus den Händen der Entführer auslöste, ist noch immer nicht beglichen. Ich muss gestehen, dass dies mein Versäumnis ist, schon längstens sollte diese Angelegenheit geklärt sein, doch es kam einfach zu viel mir in den Weg."
    Genau genommen war es einzig sein Zwilling gewesen.
    "Wenn er sie ob der Sesterzen wegen bedrängt oder gar erpresst, so kann ich gut nachvollziehen, dass sie sich ob dessen vor der Familie schämte. Vor ihrer Abreise nach Aegyptus wandte sie sich desperat ob der zurückliegenden Geschehnisse an mich und sagte zu, nach dieser Reise eine standesgemäße Ehe einzugehen, freiwillig und ganz ohne mein Zutun. Sie ist eine Flavia, Caius, und sie ist sich dessen bewusst."
    Nachdenklich löste Gracchus die Hand von seines Vetters Arm und hob sie zu seiner Unterlippe, um daran zu kneten.
    "Wenn ich alsbald alles in die Wege leite, so kann ich womöglich diese Kompromittierung begleichen, noch bevor Minervina zurück in Rom ist, so dass sie sich nicht mehr mit dem praefectus wird abgeben müssen."

    Die Worte seines Vetters strömten auf Gracchus ein, prasselten auf ihn hernieder wie kalter Eisregen, wie grobe Hagelkörner schlugen sie ihm auf sein Gemüt, konnte er sich doch dem Kern der Wahrheit darin nicht verschließen, doch waren sie gleichsam so fern all dessen, woran er glaubte, woran er zu glauben glaubte, woran er versuchte zu glauben, um nicht ohne Glauben zu sein. Betreten senkte er den Kopf, schüttelte ihn leicht, entließ seine Worte in kaum mehr denn einem Flüstern.
    "Was bleibt von uns, wenn wir die Werte verlieren, derer wir uns immer so sicher glaubten? Wertelosigkeit, ist es das, was diese Familie noch prägt? Ist es das, wo unser Weg uns hin führt, ist es das, was wir sind, das, wie wir uns neu definieren?"
    War es der Geist seines Vaters, welcher ihn heimsuchte und jede Verfehlung ihm vor Augen hielt, oder war er es, der den Geist seines Vaters herbei sehnte, um sich selbst der Verfehlung anklagen zu können, bevor ein anderer dies tat? Noch immer zweifelnd blickte er zu seinem Vetter, dessen Berührung nicht ihn in Pein durchfuhr, wie befürchtet, sondern nur eben in jener angenehmen Weise, wie Aquilius sie angedachte, in jener Weise, die ihm jeher so viel mehr Kraft gegeben hatte als tausend Worte dies von anderen Menschen konnten tun.
    "Weil die Familie ohnehin blamabel ist, müssen wir uns dem ebenfalls ergeben? Weil die Welt vom tarpeischen Felsen springt, müssen wir hinterher? Wenn ich wüsste, dass dort unten der Weg ist, welchen ich suche, ich würde springen, Caius, doch so ich auch nicht mehr weiß, wo der Weg ist, ich weiß, dass er dort unten nicht beginnt und nicht endet. Wohin sollen wir streben, wenn wir kein Ziel mehr vor Augen sehen? Wofür lohnt es noch zu streben, wenn kein Ziel mehr vor uns ist? Eben daraus erwächst doch die gesamte Misere, wohin noch soll ich streben, wenn weder die Werte meiner Vorfahren, noch meine eigenen mir einen Weg bieten? Verschlimmern oder verbessern, was nützt es, wenn ich mich doch nur vor mir selbst schäme? Du lebtest schon immer in den Tag hinein, du sorgst dich niemals um das Morgen, trittst Pfade aus, wo zuvor nur Dickicht war, und ich beneide dich noch immer um diese Fähigkeit. Doch ich kann dies nicht, ich brauche wenigstens eine schmale Linie am Boden oder einen Laut, dem ich folgen kann, ich brauche ein Ziel in der Ferne oder etwas, woran ich mich entlang hangeln kann. Ich werde niemals ein Visionär werden, niemals ein Philosoph mit bahnbrechenden Ideen und auch kein Künstler, welcher aus Nichts die Welt erschafft, doch ... ich hatte immer gehofft, dass zumindest ... nun, dass ich zumindest einen kleinen Beitrag werde leisten können, welcher unserer Familie zur Ehre gereicht. Doch ich sehe nicht einmal mehr diesen schmalen Pfad vor mir."
    Langsam, beinahe ein wenig zögerlich hob Gracchus seine Hand und legte sie auf Caius' ausgestreckten Arm, spürte die vertraute Wärme in seiner Handfläche und ein schmales, doch freudloses Lächeln begann seine Lippen zu kräuseln.
    "Oh, Caius, warum nur musst du dir dies Klagen immer anhören? Du hast einen viel besseren Freund verdient als mich. Und widersprich mir nicht, gestehe dir nur ein einziges mal ein, dass es so ist. Es beweist, dass auch die Götter einen Sinn für Ironie besitzen, dass sie uns hier in dieses Leben zusammen stellen. Nun, um ein wenig Ordnung in das Chaos der Ironie zu bringen, welche durch ihn nur noch verstärkt wurde ... würdest du Quintus mit mir bestatten? Niemand sonst kann ich darum bitten, denn niemand sonst weiß um ihn in dieser Art und so soll es bleiben."
    In Gracchus' Sinne breiteten sich bereits notwendige Vorbereitungen aus, doch etwas nagte an seinem Verstand, produzierte dabei ein derart lautes Rascheln, dass es sich nicht ließ ignorieren, bis die Erkenntnis der Aussage schließlich zu ihm hindurch brach. Er hob den Kopf und suchte einen Augenblick nach der passenden Frage.
    "Was meintest du eigentlich damit, dass Minervina sich dem praefectus praetorio an den Hals wirft? Sie ist doch in Aegyptus?"
    Die Überzeugung in jener letzten Frage war weitaus geringer, als Gracchus sich dies wünschte. Ein äußerst beklemmendes Gefühl schlich sich langsam seine Wirbelsäule hinauf und sorgte dafür, dass er sich noch gerader aufrichtete, als er dies ohnehin war, denn schon einmal hatte Minervina wenn auch nicht gelogen, so doch nicht die gesamte Wahrheit gesprochen, so dass es durchaus im Bereich des Möglichen lag, dass sie nicht aus gänzlich uneigennützigen Gründen die Reise hatte angetreten.

    Den Kopf zurück an die Wand hinter sich gelehnt, die Augen halb geschlossen und die trockene, angenehme Luft durch die Lungen strömen lassend, saß Gracchus im tepidarium und lauschte dem Gespräch zweier ältlicher Senatoren, welche sich kurz nach ihm ebenfalls dort hatten eingefunden. Sie besprachen die aktuellen Änderungen im Bereich der imperialen Verwaltung, welche erneut dazu gereichte, die Positionen der Ritter im Imperium zu festigen und zu stärken, und taten ihren Unmut kund darüber, dass im Zuge dessen in Rom nur zwei neue Ämter zur Besetzung mit Senatoren geschaffen worden waren, obgleich jeder wusste, dass gerade Senatoren es dieser Tage ausnehmend schwer hatten überhaupt noch für ihren Unterhalt zu sorgen, und dass unverschämterweise solcherlei Ämter nur immer mit senatorischen Emporkömmlingen wurden besetzt, ohne dass verdiente, alte Männer wie sie überhaupt in Betracht wurden gezogen. In einer unauffälligen, klandestinen Bewegung hob Gracchus das Lid des linken Auges um einen genaueren Blick auf die beiden Männer zu werfen, musste jedoch feststellen, dass er keinen von beiden kannte. Mochte er auch selbst eine äußerst larmoyante Seele sein, so fand er es bisweilen doch äußerst befremdlich wie die beiden Senatoren sich in solch öffentlicher Art selbst bedauerten, zumal Gracchus kaum nachvollziehen konnte, weshalb der Stand der Senatoren in Finanznot sollte sein. Mochten einzelne Exemplare dieser Bevölkerungsgruppe sich über die Maßen und zu dauerhaften Nachteil verausgaben, so geschah dies doch in seltensten Fällen in Hinblick auf das Wohl des Imperium, denn mehr auf das eigene, denn kaum einem Senator, welcher sich etwa während seines Aedilates in größere Unkosten stürzte, wurde dies nicht hernach vom Imperium gedankt, sei es durch einen lukrativen senatorischen Posten oder auch in übermäßiger Zahl neuer Klienten. Als die beiden Senatoren schließlich begannen vom Bedauern über das offensichtliche Kranken des Staates zur Vertiefung ihrer eigenen, überaus zahlreichen Gebrechen überzugehen, entschied Gracchus, dass es der trockenen Luft genügend sei, wurde sie doch allmählich schal, erhob sich und ging in den Raum des Sudatorium weiter, wo er sich von seinem Sklaven kurz trocknen ließ um sodann im nebligen Dickicht zu verschwinden.



    edit: Das heißen Becken durch nebliges Dickicht ersetzt.

    Ihre Reaktion war mehr, als Gracchus hatte zu Hoffen gewagt.
    "Ich weiß, dass Leontia äußerst große Stücke auf dich hielt, ebenso, dass deine Familie seit Generationen bereits uns Flaviern dient, und es wäre wahrlich eine äußerst deplorable Verschwendung, dich in ein solch nachteiliges Schicksal entschwinden zu sehen. Deine Freude, Dankbarkeit und Ergebenheit in Ehren, doch mein Anliegen ist zu gravierend, als dass einzig dies es könnte bestimmen. Ich habe dir ein Angebot zu unterbreiten. Ich werde dies nur ein einziges Mal tun, du solltest daher deine Antwort genauestens abwägen. Ein Angebot ist es deshalb, da es trotz allem deiner Zustimmung bedarf, denn ich bin durchaus mir im klaren darüber, dass es Dinge auf dieser Welt gibt, welche selbst von einem Sklaven nicht erzwungen werden können."
    Für den Augenblick eines Herzschlages schwieg er, fixierte sie mit festem Blick, bevor er fortfuhr.
    "Ich möchte, dass du mein Kind austrägst."
    Ohne ihr die Chance zu lassen, diesen Satz auszulegen, fuhr er weiter fort.
    "Es ist kein Geheimnis in diesem Hause, dass die diesbezüglichen Bemühungen meiner Gemahlin und mir bisherig von keinem Erfolg gekrönt waren. Es ist ihre erste Ehe, wie auch die meine, und da ich von Antonias Untadeligkeit und derjenigen ihrer Familie überzeugt bin, steht es für mich außer Frage, dass sie bisherig noch kein Kind empfangen, nicht aus sich hinaus getrieben, noch ausgetragen hat. Dass ich bisherig keinen Bastard in die Welt gesetzt, nicht einmal den Keim eines solchen in einem Körper hinterlassen habe, dessen bin ich mir ebenfalls so sicher, wie nur ein Mensch sein kann. Aus diesem Grunde kann daher nicht mit Sicherheit eruiert werden, wer von uns beiden für den fehlenden Erben verantwortlich ist. Nun, ich muss mir völlig dessen sicher sein, dass dies nicht mein Versagen ist, denn andernfalls würde eine Scheidung keinen Sinn machen, da sich die blamable Misere mit einer anderen Gemahlin nur weiter würde fortsetzen, und Claudia Antonia in diesem Falle eine zu favorable Partie ist, als dass ich sie aufgeben möchte. Du wirst also, so du dies goutieren wirst, so lange des Nachts mit mir das Lager teilen, bis du ein Kind unter deinem Herzen trägst oder ich entscheide, dass der Versuche genüge getan wurde. Natürlich ist es währenddessen erforderlich, dass du mit niemand sonst das Lager teilst, weder mit einem freien Mann, noch mit einem Sklaven. Um zu verhindern, dass du einen Kuckuck mir ins Nest legst, muss ich darauf insistieren, dass du das Kind bis zu seiner Geburt austrägst. Natürlich werde ich den Bastard nicht annehmen, doch ich werde dafür Sorge tragen, dass sowohl du, als auch mein Spross, einen passablen Platz in diesem Haushalt werden haben, was gleichermaßen nicht bedeuten muss, dass du dich des Kindes annimmst, dies bleibt allein dir überlassen. Ich werde Aetius kontaktieren und dafür Sorge tragen, dass du in meinen Besitz übergehst. Zu gegebener Zeit werde ich deine Bemühung gratifizieren, dich degagieren und du wirst, wie es dir beliebt mit oder ohne dem Kind, die Freiheit erlangen, so du dies wünschst, und einen angemessenen Platz in diesem Haushalt erhalten. So denn ich nicht zur Zeugung fähig sein sollte und somit auch kein Kind aus unserer Beiwohnung entspringen wird, werde ich ebenfalls dennoch dafür Sorge tragen, dass dir die Annehmlichkeiten, welche du als Leontias Leibsklavin genossen hast, nicht verlustig werden gehen, du sie gar wirst novellieren können. Überlege dir deine Antwort gut, doch versuche bei all dem zu jedweder Zeit nicht einmal im Ansatz, mich zu düpieren, denn sonstig wirst du noch schneller noch tiefer als in eine culina absinken."
    Natürlich war dies keine leere Drohung, obgleich Gracchus nicht genau wusste, wo tiefer als eine culina würde sein, und dies auch nicht wissen wollte, doch Sciurus würde sich in einem solchen Falle schon um alles kümmern.

    ~~~ Gefangen in Morpheus' Reich ~~~

    "Ma-ni-us! Ma-ni-us!" Leontias Stimme war dumpf und hohl, rotfarben glühten ihre Augen im Dämmerlicht und ihr Gesicht wandte sich in einer einzig wabernden Fratze. Nichts mehr war geblieben von ihrer einst so epiphanen Erscheinung, unkoordiniert und in abgehakten Bewegungen zog sie ein Bein schlurfend vor das andere, wiederholte zyklisch ihren gierigen Ruf. "Ma-ni-us! Ma-ni-us!" Sie streckte ihre bleichen Hände nach ihm aus und stöhnte durstig auf. "Ma-ni-us! Ma-ni-us!" quälte sie seinen Namen über ihre aufgedunsenen Lippen und solcherart war er wahrhaft noch schauriger anzuhören, als wenn Gracchus' Gattin Antonia seinen Namen aussprach. Voller Entsetzen drehte sich Gracchus von der leblosen Hülle seiner Base weg, wollte ihr echappieren, denn dies Wesen war fern dieser Welt, nicht nur fern seiner Base, sondern fern alles Lebens, eine einzig dämonische Schöpfung. In seinem Rücken jedoch, hinter ihm, wartete keineswegs die erlösende Flucht, sondern gleichsam nur ein Paar rotfarben glühender Augen, diese zu seinem Zwilling gehörend, boshaft aufblitzend, welcher nun kaum noch seinem eigenen Abbild glich. In krummer Haltung zog auch Quintus seine Füße mehr über den Boden, als dass er sie hob, gierig griffen seine Arme nach Gracchus und auch er wiederholte permanent seinen Namen in dösigem Schlurfen. "Ma-ni-us! Ma-ni-us!" Es gab nur einein einzigen Ausweg aus dem mundus, weit über ihnen, nur über eine schmale Leiter zu erreichen. Hastig stieg Gracchus sie hinauf, doch noch ehe er den Rand des Abgrundes hatte erreicht, spürte er die kalte Hand um seinen Fußknöchel. "Ma-ni-us! Ma-ni-us!" Er trat mit seinem Fuß zurück nach unten, in das Gesicht seines eigenen Zwillings, sein eigenes entstelltes Gesicht, doch Quintus blieb von all dem unbeeindruckt, sah man einmal davon ab, dass ein Stück seiner Haut und seines Fleisches sich hatten von dem Wangenknochen gelöst und nun in einer wahrhaft ungustiösen Art und Weise aus seinem Gesicht herab hingen und den freien Blick auf das Knochenwerk dahinter boten. Leontia versuchte ebenfalls an seinem anderen Fuß zu reißen, mit einer Gewalt, mit einer Kraft, welche nie zuvor in ihr war gewesen, sie riss an der dünnen Kette, an welcher der goldene Halbmond war befestigt, welcher Gracchus dem patrizischen Stand zugehörig kennzeichnete, bis dass sich die Kette tief in sein Fleisch schnitt und mehr noch schmerzte als der feste, peinigende Griff seines Zwillings am anderen Bein. Wie ein Riss zog sich der Schmerz durch Gracchus' Körper, als Leontia sich an seinem Bein hinauf zog und mit beherztem Biss ihren Kiefer in sein Fleisch rammte und nicht nur die Kette riss, sondern gleichsam deutliche Spuren in Gracchus hinterließ. Wild und verzweifelt trat dieser um sich, unter sich, bis dass endlich er die Hände und Kiefer der monströsen Gestalten unter sich konnte abschütteln, welche in fleischlichem Verlangen nach ihm gierten. "Ma-ni-us! Ma-ni-us!" Keuchend hetzte Gracchus über die Leiter empor, stürzte sie mit einem beherzten Tritt um, so dass sie hinab in den mundus fiel und blickte nach unten. Noch immer hing Quintus' Gesicht in Fetzen und auch Leontia hatte begonnen, sich aufzulösen, fauliges Fleisch und Haut bröckelte aus ihrem Gesicht und wurde unter ihr begierig von Tausenden Händen aufgefangen, welche nun aus dem Boden gierig nach Quintus und Leontia griffen. "Ma-ni-us! Ma-ni-us!" Immer lauter wurde der Ruf, potenzierte sich in Tausenden Stimmen, begleitet von einem Odeur nach dem Verwesen Tausender Jahre, denn während die Hände seinen Zwilling und seine Base langsam in die wabernde Masse ungestaltener Entitäten hinab zogen, forderten sie denn nicht die Verschollenen, sondern noch immer, lauter und lauter, ihn selbst. "Ma-ni-us! Ma-ni-us!"

    ~~~


    Mit lautem Keuchen schreckte Gracchus aus dem Schlaf, noch immer den Nachhall der erdrückenden Stimmen in seinen Ohren hörend, wühlte panisch die Decke von sich und suchte schlaftrunken nach seinen Füßen. Zitternd umgriff er die Knöchel, doch keine Bissspuren, keine Wunde hatte sich dort eingegraben in das Fleisch, keine Spur von Quintus, keine Spur von Leontia. Leontia, deren Gestalt auseinander gefallen war, deren Körper sich hatte gelöst in ungustiösem Anblick. "Herr?" durchbrach Sciurus in fragender Absicht die stille Dunkelheit. Doch Gracchus sah sich außer Stande, ihm zu antworten, kämpfte er doch mit sich, das äußerst deliziöse Abendessen im Magen zu behalten, und je mehr er daran dachte, sich nicht Leontias grässlichen Anblick vor Augen zu führen, desto mehr brannte sich das Bild in seine Seele. Angelangt bei der vermeintlichen Erinnerung wie die ersten Stücke Fleisch sich aus ihrem Antlitz lösten, erlag Gracchus schließlich der Gewalt, hastete aus seinem Bett zur Waschschüssel hin und entledigte sich des halb verdauten Mahles. Als sein Magen endlich leer war, wandte er sich angewidert von der Schüssel ab und taumelte zurück zum Bett, wo seine Hände sich an die Schläfen legten.
    "Sie bringen mich noch um den Verstand... sie bringen mich um den Verstand ... wann hört das endlich auf? Wann?"
    Da auch der Sklave keine Antwort wusste - vermutlich kannten diese denn nicht einmal die Götter - so schwieg er und beobachtete nur stumm, wie sein Herr sich zitternd wieder in die Decke rollte und unruhig nach dem Labsal eines traumlosen Schlafes suchte, um sich hernach aufzumachen, die Spuren der Auswirkungen der nächtlichen Träume zu beseitigen.

    Obgleich die römischen Badehäuser nicht für die Götter erbaut worden waren, so waren sie doch augenscheinlich meist viel zu überdimensioniert für die menschliche Gestalt, gleichsam war jedoch das römische Volk noch nie sonders bescheiden in seinen Ansprüchen gewesen - allerhöchstens zum frühesten Beginn seiner Geschichte, als das römische Volk noch kaum ein Volk denn mehr ein Haufen unbedeutender Dörflinge gewesen war - so dass kaum irgendwer sich je über die Dimensionen jedweder Thermen wundern mochte. Gegenteilig zu den aedes der Götter - welche bisweilen von viel geringerem Ausmaß nur waren - lagen die Eingänge zudem nicht erhöht, nicht nur durch eine längere Treppenreihe erreichbar und nicht hinter einer Säulenhalle verborgen, so dass der Mensch, welchen es in die Badeanstalt hinein zog, üblicherweise nicht all zu lange auf seinem Weg vor dem Gebäude verharrte, sondern nach zwei, drei Stufen bereits vom Inneren des Erholungstempels verschluckt wurde. Kaum auch verschwendete der Besucher einen Gedanken daran, dass unter ihm, der er auf beinahe gleicher Ebene mit der Erde stand, ein weiteres, verborgenes Geschoss lag, in welchem heißer Dampf dafür Sorge trug, dass der Fußboden gewärmt wurde, so dass das Gehen mit bloßen Füßen zu jeder Jahreszeit angenehm war - nur dann, wenn das Hypokaustensystem einen Schaden aufwies, bequemte sich der römische Bürger einen Gedanken daran zu verschwenden und möglicherweise, so denn es sich um einen Bürger niederen Standes handelte, laut zeternd den zuständigen Verwalter dafür zu rügen und sofortige Behebung des Misstandes zu verlangen. Gracchus indes hatte nie verlernt zu Staunen, gegenteilig konnte er sich regelrecht an solcherlei alltäglichen und doch sublimen Kleinigkeiten laben und obgleich er die Gebäude Roms, welche unzweifelhaft die schönsten, größten und erhabensten überhaupt waren, tagtäglich vor Augen sah, so konnte er immer wieder von neuem ehrfürchtig an ihnen empor blicken, sich in den majestätischen Dimensionen verlieren, ob unter- oder überirdisch, und darüber nachsinnen, wie gering der einzelne Mensch in solch einer Welt doch schien und doch gleichsam der Erschaffer all dessen war. Einige Männer schon waren an ihm vorbeigezogen, bis sich Gracchus endlich aus seinem Nachsinnen löste und das Gebäude betrat. Im Umkleideraum entledigte er sich seines Gewandes, welches er bei einem jungen Sklaven in Obhut ließ, welchen er eigens für diese Aufgabe hatte mitgebracht, ebenso seiner Stiefel. Sein Leibsklave Sciurus folgte ihm ins Innere der Thermen, um seinem Herrn jederzeit dienlich zu sein. Sportliche Betätigung zum Aufwärmen konnte Gracchus an diesem Tage nicht im Mindesten locken, darum strebte er direkt dem tepidarium entgegen, ließ sich dort auf einer der steinernen Bänke nieder und ließ seinen Körper von der angenehm warm temperierten trockenen Luft umströmen.

    ~~~ Gefangen in Morpheus' Reich ~~~

    Feine, graufarbene Staubkörner durchzogen die warme Luft, erfüllten sie mit bleiernem Duft nach Schöpfung und trugen Gracchus in sich hinfort auf ihren Schwingen. In bunten Kreisen drehten sich die Rauchschwaden, überschlugen sich und verwirbelten in einem wilden Tanz anmutig wie die geschwungenen Zeichen einer fremden Schrift. Nie zuvor hatte je ein Mensch dieses Alphabet gesehen, doch Gracchus jonglierte mit den Charakteren, reihte sie aneinander, durchpflügte sie und badete darin wie in seinem natürlichsten Element. Erst als die Melodie der Sätze einer klanglos schwingenden Harmonie folgte, als die Farben prächtig ineinander flossen, die Komposition den Raum in Perfektion erschallen ließ, als die Formen ein gustiöses Prickeln auf der Zunge bewirkten und sie umgeben waren von einem anmutig, sanften Odeur, erst dann blies Gracchus die Worte leise mit einem sanften Hauch in die Gefilde seiner Base hinüber, spürte die erquickende Ruhe und fühlte sich umgeben von brennendem Atem, Sternenhauch, ganz ohne darin zu verglühen. Mit einem hellen Lachen und einem graziösen Wink sandte Leontia das Werk zurück, drehte sich um ihre eigene Achse, schrumpfte alsdann in sich zusammen. Sich aufbäumend schrie Gracchus, rief nach ihr, rief laut ihren Namen in Stille durch die opaque Luft, doch seine Base zerschmolz zu einem einzelnem goldfarbenen Tropfen, welcher schlussendlich traurig zur Erde hinab fiel und dort zerging. Noch ehe Gracchus das Ausmaß jener Misere konnte ermessen, lösten sich gleichsam die Lettern vor ihm, zerfielen zu graufarbenen Staubkörnern, welche ohne Ordnung und ohne Sinn fremdartig um ihn herumwirbelten, die Luft durchwaberten und für immer unverständlich blieben.

    ~~~