Beiträge von Manius Flavius Gracchus

    Das Zimmer des jungen Serenus glich dem Schauplatz eines Schriftrollenkrieges. Quer durch den Raum verteilt lagen Rollen, stapelten sich auf dem Boden, sortiert nach Nummerierung, darin inmitten, vor einer Kiste, saß Gracchus auf einem kleinen Schemel, holte Rolle um Schriftrolle daraus hervor und sortierte sie in die bereits Eingeordneten ein, während Sciurus an der Türe Schmiere stand - nicht, dass dies notwendig gewesen wäre, doch Gracchus glaubte, dass dies so besser sei. Schließlich jedoch waren alle Schriftstücke der Truhe entnommen, gähnende Leere starrte Gracchus hämisch entgegen, so dass er den Blick abwandte, sich verzweifelt umsah, noch einmal mit seinem Blick alle Schildchen taxierte, eine Nummer suchend, hoffend, doch letztlich vergebens, so dass er schließlich mit leidiger Miene zu Sciurus aufsah.
    "Sie ist nicht hier. Ich habe die gesamte Kiste durchsucht, doch ich kann Folge 1 nicht finden. Sie muss irgendwo anders sein."
    Sciurus schüttelte den Kopf. "Nein, Herr, der junge Herr ist nicht im Besitz der ersten Folge, wie auch vieler anderer nicht."
    "Was meinst du damit?"
    Mit Unverständnis blickte Gracchus seinen Sklaven an.
    "Weshalb nicht?"
    "Diese Serie ist schon um einige Jahre alt, die Originalabschriften der einzelnen Folgen immer nur in begrenzter Zahl und für kurze Zeit auf dem Markt, weshalb sie schnell zu Raritäten werden. Natürlich gibt es billige Kopien zu Hauf, doch die ersten Ausgaben von 'Sklave Gaius ist der Beste' zu sammeln gilt für manche nicht nur als Leidenschaft, sie sind bereit horrende Summen für diese zu bezahlen. Auch Serenus legt wert darauf, Originalabschriften zu besitzen, obgleich notgedrungen auch einige Kopien in seinem Besitz sind, doch Folge 1 als Orginalabschrift ist nicht nur ein kleines Vermögen wert, sie ist dazu auch noch äußerst selten, weshalb es ihm bisherig noch nicht gelang, in den Besitz einer solchen zu kommen und er weigert sich gerade bei jener ersten Folge, eine spätere Kopie in seine Sammlung aufzunehmen." Wobei unnötig zu erwähnen war, dass er sich selbst eine Kopie mit seinem Taschengeld nicht würde leisten können.
    "Er ist eben ein echter Flavier, das Beste ist gerade gut genug. Allerdings ist dieser Umstand äußerst deplorabel, doch steht es uns eben frei, jenen zu ändern. Du wirst mir eine solche Originalabschrift der ersten Folge besorgen."
    Es war Gracchus unmöglich, mit Genuss die gesamte Serie zu lesen, wenn er nicht Folge eins genau dann las, wann sie gelesen werden sollte, zu Beginn und vor allen nachfolgenden Folgen.
    "Sie sind wirklich sehr teuer, Herr."
    Ein Blick strafte den Sklaven, als hätte jener soeben von seinem Herrn verlangt, sich zu vierteilen und hernach selbst zu verspeisen.
    "Seit wann kümmern dich die Sesterzen, Sciurus?"
    "Nun, nach dem Verlust der Summe, die Quintus Tullius an sich genommen hat ..."
    "Tor! Hättest du mich nicht darauf hingewiesen, ich hätte nicht einmal bemerkt, dass etwas fehlt. Es ist das, was eine patrizische Gens ausmacht, Sciurus. Wir haben die Sesterzen, wir geben sie aus, doch trotz dessen werden sie nicht weniger. Verschwendungssucht mag unser Ruin sein, doch ist es weder ein verdorbener Zwilling, zumindest nicht diesbezüglich, noch ist es eine Orginalabschrift der ersten Ausgabe einer Schriftenserie. Lass den Münzenpegel in der arca also meine Sorge sein und besorge mir diese Ausgabe."
    Obgleich er sich vor seinem Sklaven nicht brauchte zu rechtfertigen, tat er dies.
    "Ich werde sie Serenus zum Geschenk machen, wenn er wieder nach Rom zurück kommt."
    Es war immerhin unmöglich, diese Schundliteratur in seinen eigenen Besitz einzureihen, dennoch, er musste sie einfach haben.

    Mit impenetrabler Miene blickte Gracchus seine Schwester an, nur die die Straffung der Muskeln in seinen Wangen mit welchen er seine Kiefer aufeinander presste, verriet ein wenig der Indignation, welche er in sich aufkommen verspürte. Nicht, um ihren Horizont zu erweitern war sie nach Hispania gereist, einem Mann gefolgt wie eine Trosslupa war sie, doch viel mehr traf ihn, dass sie ihn deswegen hatte versucht hinters Licht zu führen, vermutlich gar ohne ein Quäntchen des schlechten Gewissens. Er schluckte schwer, presste mühsam seinen Ärger, gleichsam seine Enttäuschung hinunter. Vermutlich lag es in ihrer Familie, das Lügen lag ihnen im Blut, ihr, Quintus und auch ihm selbst, wie er durch ihn getrieben feststellen musste.
    "Gab es einen Grund, gab es einen einzigen Grund, weshalb du mir diese Farce vorspieltest? War ich nicht immer konziliant? Was habe ich dir getan, Minervina? Was, dass du es für notwendig erachtest, mir den unbändigen Drang deines Wissens als Vorwand für diese überaus gefähliche Reise aufzubinden? Bin ich der Tyrann in diesem Hause? Ist es das, was ihr in mir seht, gleichsam in mir sehen wollt, von mir verlangt? Oder trägst du den Vorwurf deines Vaters in dir, dass ich nicht fähig bin, für diese Familie Sorge zu tragen, bis sie selbst für sich Sorge trägt?"
    Langsam schüttelte er den Kopf. Er hatte gut Lust, seinem Vater zu sagen, dass er Recht hatte und dass er sich nun, da es bewiesen war, getrost in den Hades scheren konnte.
    "Wegen Caecilius Crassus ..."
    Als er sie anblickte war sein Blick beinahe ein Starren, als versuche er bis in die Tiefen ihres Kopfes vorzudringen, um ihre Gedanken zu ergründen.
    "Wer glaubst du nur, bist du, Minervina? Und wer glaubst du, bin ich?"

    Ihre Begrüßung, selbst die Nennung seines Namens, zog völlig an Gracchus vorbei. In Gedanken wanderte er in seinem Gedankengebäude herum, irrte durch die weitläufigen Flure und Räumlichkeiten, suchte nach Dingen, von welchen er weder wussten, ob sie überhaupt existierten, je existiert hatten, noch, wo sie zu finden waren. Antoinas Berührung jedoch ließ ihn seine Aufmerksamkeit ihr zuwenden, nicht ohne, dass er ob der Hand auf seinem Arm kurz zusammen zuckte. Soll ich, oder willst du, oder zusammen? Es klang wie eine der heimlichen Fragen, welche die Kinder hinter dem Rücken des Paedagogus auf ihren Tabulae austauschten, und welche er mit ja, nein, vielleicht beantworten konnte. Doch dies war längstens kein solch profanes Anliegen.
    "Wir beide gemeinsam?"
    Obgleich er dies als Tatsache wollte verkünden, so ward ihm letztlich doch eher eine Frage echappiert. Natürlich hatten sie nicht darüber gesprochen wie all dies ablaufen würde, sie sprachen nie über irgend etwas miteinander. Glücklicherweise hatten die Sklaven selbst für die Opfergaben Sorge getragen, denn andernfalls stünden sie vermutlich gar ohne jene vor dem Tempel.
    "Ein gemeinsamer Wunsch bedingt eine gemeinsame Bitte."
    In der Theorie klang es äußerst einfach, doch haftete dem Wort 'gemeinsam' in ihrer Ehe ein merkwürdiger Beigeschmack an.
    "Den blutigen Teil werde ich übernehmen."
    Womöglich war es nur dies, was sie wollte wissen, was sie hatte befürchtet ausführen zu müssen.

    Wie zu erwarten fand Gracchus seinen Leibsklaven in seinen Räumlichkeiten vor. Obwohl es ihn danach drängte, sofort in Aktion zu verfallen, nahm er ganz beiläufig in einem Sessel mit gekreuzten, hölzernen Füßen und in dunkles Rot gefärbter Lederbespannung Platz, lehnte sich zurück und legte die Schriftrolle neben sich auf einen zierlichen Beistelltisch ab.
    "Sage mir, Sciurus, kannst du mit dem Titel 'Gaius ist der Beste' etwas anfangen?"
    Der Sklave nickte ohne zu zögern. "Natürlich, Herr. 'Sklave Gaius ist der Beste' ist eines von jenen Schundblättern, welche regelmäßig von kleinen, billigen Verlegern publiziert werden. Geschichten ohne Tiefgang, für anspruchsloses Pubilikum und pubertierende Kinder geschrieben. Angeblich verfasst der Sklave 'Gaius' sie selbst, doch da die Sicht eines Sklaven eher schlecht getroffen ist, würde ich dies bezweifeln. Dein Neffe Serenus liest dieses Zeug."
    "So, so, Serenus also."
    Aufgrund der Tatsache, dass sogar Sciurus sich in solch negativer Art und Weise über diese tatsächlich äußerst anspruchslose, aber gleichsam nichtsdestotrotz durchaus fesselnde Literatur äußerte, beschloss Gracchus ihn ob seiner Pläne in Unkenntnis zu lassen. Dass der Sklave selbst augenscheinlich mindestens ebenfalls eine Ausgabe gelesen haben musste, denn woher sonst mochte er um die unzulänglich realistische Perspektive wissen, bemerkte Gracchus indes nicht.
    "Weißt du, wo Serenus seine Schriftrollen aufbewahrt? Ich fand diese hier zufälligerweise in der Villa und sie muss augenscheinlich von ihm stammen."
    "Er hat eine Truhe voll davon. Ich werde sie aufräumen."
    Hastig griff Gracchus nach der Rolle und blinzelte.
    "Oh, nein, ich werde sie direkt mitnehmen. Da ich ohnehin noch in seinem Cubiculum nach Hinweisen auf seinen Fluchtort sehen wollte, wird dies kein Aufwand sein."
    "Die Truhe ist verschlossen, Herr."
    "Tatsächlich?"
    Nachdenklich hob Gracchus die freie Hand und begann an seiner Unterlippe zu kneten. Schließlich blickte er aus ein wenig zusammengekniffenen Augen zu seinem Leibsklaven auf, der beiläufige Tonfall war gänzlich vergangen.
    "Du bist doch in der Lage, Schlösser zu öffnen, nicht wahr, Sciurus?"
    "Ja, Herr."
    "Ja, das dachte ich mir bereits. Nun, kannst du sie auch in solcher Weise öffnen, dass sie hernach wieder verschließbar sind?"
    "Es kommt auf das Schloss an, bei denjenigen einfacher Bauart bricht leicht ein Haken im Schließmechanismus. Doch jenes an der Truhe deines Neffen mit den 'Sklave Gaius ist der Beste'-Schriftrollen ist ein hochwertiges Schloss, dieses könnte ich öffnen, so dass keine Spur bleibt."
    Gracchus ließ seine Hand sinken und tippte auf die Schriftrolle in der anderen.
    "Gut, ich sehe, wir verstehen uns. So lass uns gehen."
    Er erhob sich und wies mit der Rolle 'Sklave Gaius ist der Beste', Folge 164 zur Türe.

    Üblicherweise war der Gang in einen Tempel für Gracchus weder ungewöhnlich, noch sonderlich bedrückend, doch jeder Gang, welchen er gemeinsam mit seiner Gattin antrat, war dies, so dass es auch der heutige war. Kurz nur hatte er vor der Villa Flavia einen Blick auf Antonia erhaschen können, sodann waren sie beide in den Sänften verschwunden, ohne ein Wort, ohne eine vertraute Geste, selbst ohne dass sie ihn auch nur in ihrer Aufmerksamkeit hätte wahrgenommen. Das Anliegen, zu welchem sie sich zu Bitten am Tempel der Iuno Sospitas eingefunden hatten, wurde darum nur um so dringlicher. Nach seiner Gemahlin verlässt auch Gracchus seine Sänfte, lässt sich die Toga richten, und tritt sodann zu ihr heran, um hier in der Öffentlichkeit des urbanen Lebens jene Farce aufrecht zu erhalten, welche sie seit dem ersten Tag zelebrierten, an welchem sie sich im Gedanken an ihre gemeinsame Zukunft zum ersten Mal hatten getroffen. Ohne Zögern konnte Gracchus sich eingestehen, dass sie beide diese Farce perfekt beherrschten, dass sie noch immer in der Öffentlichkeit ein äußerst passables Paar abgaben, denn würde er nicht Antonias frostige Art ihm gegenüber kennen, manches mal könnte er beinahe selbst glauben, sie würde dies alles mit jener Zufriedenheit ausführen, welche sie auf ihrem Gesicht zur Schau stellte.

    Langsam wanderte Gracchus' Augenbraue stetig in die Höhe und er fragte sich, ob sein Vetter ihn mit seiner Aussage sekieren wollte, doch zeigte sich keinerlei diesbezügliche Regung auf Aristides' Gesicht, auf welchem sonst sich eher deutlich seine Gemütslage abzeichnete.
    "Tiefe Verehrung?"
    echote Gracchus darum fragend.
    "So denn sie mich nicht einfach nur ignoriert, scheint ihr einziges Gefühl mir gegenüber Verachtung zu sein. So denn ich die eheliche Pflicht erfüllen will, gleich, in welcher Hinsicht, gibt sie mir ganz das Gefühl ein Unmensch zu sein, ihr Leben ins Verderben zu stürzen, und wahrlich, manches mal glaube ich bereits daran. Wenn nur endlich die Götter uns ein Kind gewähren würden, es würde alles so viel einfacher machen."
    Gracchus schloss sich dem schweren Seufzen seines Vetters an und hob hernach die Augenbraue erneut, als Aristides ihn in Bezug auf seine Wortwahl rügte.
    "Entschuldige, Marcus, obgleich ich erst kürzlich einen Cursus über die Kunst des Redens absolvierte und darin wohl die Kenntnis auffrischte, dass bei jeglicher Rede hinsichtlich der Wortwahl auch auf die Art des Publikums Acht zu geben ist, so fürchte ich, fehlt mir derzeitig die notwendige Konzentration, auf solcherlei zu achten. Manches mal weiß ich schon nicht mehr, wo mir der Kopf steht, und manches mal bin ich tatsächlich erstaunt, wenn ich ihn noch immer auf meinem Hals vorfinde."
    Tatsächlich hatte Gracchus das Gefühl, dass wenn es schlimm kam im Leben, dass dann immer alles auf einmal einzustürzen drohte, oder gar in Kumulation bereits auf einem Schutthaufen lag.
    "Serenus begleitete mich übrigens zu diesem Cursus, auch wenn er nicht an der Prüfung durfte teilnehmen, so denke ich doch, hat es ihm ein wenig Wissen eingebracht. Er scheint mir so talentiert, Marcus, und so untadelig. Ich wollte einen Paedagogus für ihn anstellen, doch ich verdarb alles, als ich ihn anwies, sich schrecklich zu benehmen, dabei wollte ich doch eigentlich schicklich sagen und glaubte dies auch getan zu haben. Es ist wahrlich eine Misere."
    Noch einmal echappierte ihm ein tiefes Seufzen.
    "Nein, Marcus, danke mir nicht, denn meine Hilfe gereichte nur immer zum Schlimmeren."
    Sinnierend betrachtete Gracchus seinen Vetter dabei, wie dieser seinen Kopf durch die Tunika wand und schließlich durch das offene Rund hindurch steckte. Er brachte ein freundloses Lächeln dazu, seine Lippen zu kräuseln.
    "Familienloyalität scheint in dieser Gens nicht sonderlich stark ausgeprägt zu sein. Es ist deplorabel, doch ein jeder Flavier scheint vom Zwang beherrscht zu werden, die Welt im Alleingang zu erobern. Doch womöglich war es nur Furcht, welche Serenus leitete, unbegründete, kindliche Furcht. Furcht kann äußerst heftige Reaktionen hervorbringen."
    In diesem Metier kannte Gracchus sich selbst gut aus, zu gut, so dass er zu dem Becher mit Wein griff und einen Schluck trank, um eventuell aufkommende diesbezügliche Regungen zu verbergen.

    Obgleich er sich nicht dessen sicher war, ob Minervina ihm tatsächlich Glauben schenkte, so war dies ohnehin derzeitig einerlei. Früher oder später würde sich Quintus durch diese Familie fressen, durch die gesamte Gens und ebenso, wie niemand jene vergessen konnte, die dem Vergessen diktiert worden waren, so würde auch er sich nicht mehr aus dem Bewusstsein der Flavia tilgen lassen, gleichsam würde er auf immer an Gracchus' Person hängen, denn wer ihm ein einziges Mal würde begegnen, der würde nur allzu schnell sie beide miteinander assoziieren. Gleichsam konnte Gracchus jedoch auch den Worten seiner Schwester nicht ganz folgen, umtrieb ihn doch weiter die Sorge um Leontia und die Familie, zudem schien alles so zusammenhanglos. Ishtar, er erinnerte sich, dass sie darüber gesprochen hatten. Weshalb war sie dort gewesen? Weshalb war sie nach Hispania gereist? Tropfen der Erinnerung fielen auf Gracchus' heißen Geist und verdampften in Bruchteilen eines Augenblickes in substanzlose Nichtigkeit.
    "Es tut mir Leid, Minervina, doch ich kann dir nicht gänzlich folgen."
    Der Dampf der Erinnerung, des Wissens, des Erkennens und Verdrängens hüllte ihn in einen feinen Nebel und es war ihm unmöglich, noch irgend eine klare Kontur darin zu erkennen.

    Nach Gracchus' Wissen war Leontia zu ihrem Vater nach Ravenna aufgebrochen, deplorablerweise noch bevor er mit ihr sprechen konnte, denn anscheinend hatte ihr Vater eine neue Verbindung für sie ausgesucht, eine Tatsache, welche Gracchus weder schätzte, noch gut heißen konnte, denn gänzlich abgesehen davon, dass er Aetius nicht zutrauen mochte, einen Gatten für Leontia zu finden, welcher diese tatsächlich verdient hatte und ihrem Esprit gerecht wurde, wünschte er ohnehin nicht, dass Leontia irgendjemanden würde heiraten, denn dies würde sie zwangsläufig der Villa entreißen. Natürlich war er sich dessen bewusst, dass er nicht auf Dauer würde verhindern können, dass sie die Villa würde verlassen müssen, doch ein wenig mehr Zeit hatte er sich durchaus erhofft. Er nahm den Brief und begann ihn zu lesen, vermutete dabei seine Erwähnung in keinem guten Zusammenhang, denn vermutlich berichtete Leontia nur über die Abneigung ihres Vaters ihm gegenüber, welchen dieser vermutlich tagtäglich Kund tat und womöglich war dies eben ein Grund, weshalb er Leontia so bald zu sich zurück zitiert hatte, ging der Mann doch aufgrund einer unglücklichen Verkettung einiger harmloser Umstände von der irrigen Annahme aus, Gracchus wäre an Leontia mehr interessiert, als ihm dies als Vetter zustand, hinsichtlich ihrer verwandtschaftlichen Beziehung ohnehin eine völlig absurde Annahme, gleichsam völlig absurd, da Gracchus sich kaum je zu einer Frau hatte mehr hingezogen gefühlt, als in platonischer Freundschaft, doch war dies Aetius nicht bekannt, was eben auch seine Annahme bewies. Doch je weiter er in der Nachricht seiner Base las, desto merkwürdiger schienen ihm die Worte, spätestens als sie ihn in Geschehnissen erwähnte, derer er sich nicht im Mindesten bewusst war. Wann war sie aufgebrochen? Er hatte geglaubt, es wäre geschehen, bevor er zur Subura aufgebrochen war, doch musste es nicht augenscheinlich während seiner Abwesenheit gewesen sein und damit während seiner Anwesenheit? Sie war mit ihm aufgebrochen. Nach Agyptus, vielleicht, vielleicht sonstwohin, die ganze Welt war möglich. Mit ihm. Leontia. Mit einem Mal spürte Gracchus, wie kalter Schweiß seinen Rücken hinab lief, sein Atem wurde schwer, die Luft schien ihm zum Ersticken, Hände wie Schraubzwingen zerdrückten seine Lungen, seine Kehle dörrte aus wie das Land jenseits der afrikanischen Küste, Hitze stieg in ihm empor, umhüllte seinen Geist und für einen Moment wurde ihm ganz blümerant vor Augen. Mit zittriger Hand ließ er den Brief sinken, zwang sich zu Ruhe, zwang sich dazu, durchzuatmen, und griff zu einem Glas mit Wasser. Er trank einige Schluck und blickte zu seiner Schwester, schwankend, was er jener erzählen sollte. Die Wahrheit? Mit jedem Menschen, der die Wahrheit wusste, stieg auch die Gefahr, doch konnte sie in Hinsicht auf Familienmitglieder gleichsam bei deren Nichtwissen steigen. Dennoch war er noch nicht bereit, dies mit irgendwem zu teilen, der nicht Caius war, mit welchem er schon immer alles geteilt hatte.
    "Entschuldige, die Sorge um unseren Neffen schlägt mir auf mein Gemüt. Ich fürchte, ich finde zu wenig Schlaf, dazu die Arbeit, die Hitze, ich schwanke wahrlich zwischen Defatigation und Defätismus,"
    versuchte er die Schwäche zu erklären und fuhr dann fort in seiner Lüge, nicht ohne dabei sich gleichsam noch schlechter zu fühlen ob dieser Unwahrheit.
    "Es war eine spontane Idee, Leontia muss den Brief in ihrem Enthusiasmus sofort verfasst haben, nach dem sie gefasst worden war. Doch letztlich ließ sich meine Abreise nicht bewerkstelligen, du weißt, die vielen Pflichten, die Familie, das Amt. So reiste sie denn allein, natürlich in Begleitung zahlreicher Sklaven."
    Wer wusste schon, wo sie nun war? Vielleicht auf dem Weg nach Aegyptus, vielleicht auf dem Weg in ihr Verderben. Es zog Gracchus das Herz zusammen, seine Base in solcherlei Gefahr zu wissen, welche womöglich deletär würde sein. Wieder wurde ihm blümerant vor Augen, Quintus war ein Episit, er würde in der Lage sein, Leontia zu verschlingen und sie würde in ihrer irrigen Annahme, ihm gegenüber zu stehen, ihre Kehle bereitwillig an sein Gebiss halten. Gracchus fasste sich an die Schläfe und rieb sie vorsichtig, fragte sich nicht zum ersten Mal, womit er solch eine Familie verdient hatte, konnten all seine Makel dies doch nicht aufwiegen. Es musste der Fluch sein, keine andere Erklärung konnte es geben, der Fluch seiner Vergangenheit, welchen er erneut bestärkt hatte durch den Fluch seiner Nichte, der Fluch, der um ihn herum wütete, um ihn herum zerstörte, während er gefangen im Auge des Sturmes gezwungen war, dabei zuzusehen.

    Verneinend schüttelte Gracchus den Kopf.
    "Nach Mantua, demnächst, in einiger Zeit. Antonia hat dort Grundbesitz geerbt, sie muss einige Dinge klären. Wenn ich nur wüsste, wann dies sein soll, es scheint mir, als laufe die Zeit hinfort."
    Nicht nur die Zeit, auch die Familie, zumindest sein Neffe, was diese Angelegenheit allerdings nicht weniger delikat sein ließ, gerade in Abwesenheit Aristides', welcher derzeitig wahrlich genügend andere Sorgen hinsichtlich des anstehenden Feldzuges hatte.

    Im Studium einiger äußerst desolater Schriften inbegriffen - desolat deswegen, da es sich um Berichte aus der näheren und ferneren Umgebung Roms handelte, welche vom Status des Verbleib Gracchus' Neffen Serenus kündeten, und jener Status noch immer unbekannt war - saß Gracchus hinter seinem Schreibtisch und runzelte ob der Tristesse der immer wieder gleich lautenden Nachrichten die Stirn. Als es an der Türe klopfte, rieb er sich kurz die Defatigation aus den Augen, gab dann einem der Sklaven einen Wink zu Öffnen. Der Besuch seiner Schwester war durchaus agreabel, gab es doch einiges zu Besprechen.
    "Minervina, komm herein und nimm Platz."
    Bis seine Schwester ihm gegenüber saß, ordnete Gracchus die Tabulae sorgfältig zu einem kleinen Turm, dessen Kanten beinahe glatt waren, und schob diesen beiseite.
    "Wie geht es dir? Konntest du ein wenig Ruhe finden?"

    Ein buntes Farbenspiel tanzte vor Gracchus' Augen, ein wildes Flimmern und Flirren aus brennendem Orange, glühendem Rot und strahlendem Gelb, durchzogen, durchbrochen von Schlieren und Funken aus blendendem Weiß. Jede Druckveränderung der starken und gleichsam doch so sanften Finger auf seiner Haut zeichnete sich wie eine Spur durch dieses Gewirr, ließ einen Stern darin neu gebären oder erlöschen, und es schien Gracchus, dass er sich nur müsse in diesen starken Halt ergeben, als müsse er sich nur in Aquilius' Arme fallen lassen, zulassen loszulassen, um dem Funkenwerk Einhalt zu gebieten und Ruhe zu finden.
    "Ich ... weiß es ... nicht."
    Quintus Tullius war nur noch ein Schatten seines Lebens, ein leeres Abbild seiner Selbst, völlig unbedeutend und marginal. Nichts hatte er von seinem Schrecken verloren, doch Quintus Tullius war fort, hatte sich davon gestohlen, einen Teil Gracchus' mit sich genommen, doch er war nicht hier, er hielt nicht Gracchus' Kopf, er drängte nicht seinen Körper an ihn - eine Vorstellung, die unter anderen Umständen gleichsam äußerst verwirrend, kurios, wie auch sicherlich äußerst reizvoll wäre gewesen.
    "Ich war ... nicht hier."
    Wie eine ferne Reminiszenz zog die Erinnerung an die Tage im Keller unter dem namenlosen Weinberg inmitten der italischen Hügel an Gracchus' vorbei, die Erinnerung an den äußerst entwürdigenden Fußmarsch zurück nach Rom, die Furcht allein in der Wildnis, das Zischen und Flüstern der Untergründigen, die Furcht, eine Villa voll kopfloser Verwandter vorzufinden, die Furcht um Caius, darum, dass dieser mit seinem falschen Ich geteilt haben konnte, was er nie hatte zugelassen. Er spürte den drängenden Körper vor sich, spürte Caius mit allen Sinnen, ließ seine Hände über dessen Arme gleiten, hielt sie fest, dass er nicht würde von ihm weichen, verweigerte sich doch gleichsam die Augen zu öffnen, um nicht erkennen zu müssen, was er tat. Die weichen Lippen auf den seinen waren unvermeidlich, es gab keine andere Möglichkeit mehr, denn in allem, was er tat, wusste Gracchus, dass nur er dies konnte verhindern. Doch er verhinderte nichts, hielt sich an seinem Vetter, als würde sein Leben davon abhängen, erwiderte die Berührung drängend und schmeckte die vom Badewasser benetzten Lippen. Seine Hand fuhr über Caius' Schultern hinauf und vergrub sich in dessen feuchten Haar, sein Körper drängte gegen denjenigen seines Vetters, nicht mehr imstande, seine Gier zu verbergen, während seine Lippen längst über Caius' Hals zogen, sich in seine Haut gruben, bis dass sein Kopf endlich einen Augenblick Ruhe fand, dicht an den seines Vetters gepresst, die Lippen knapp unter dem Ohrläppchen verharrend, der Körper in einem feinen Beben inbegriffen, schnaufend als läge schon jetzt ein Gewaltmarsch hinter ihm.
    "Tu das ... nicht ... Caius ..."
    bat er den Vetter flehentlich, gleichsam wissend, dass es vergeblich war, gleichsam nicht wissend, ob dies noch war, was er tatsächlich bitten wollte, welche Worte sein Geist hervorbrachte und welche einzig sein Körper von sich stieß, ob er seinem Geist wollte folgen oder seinem Körper, seinem Verlangen oder seinem Verstand, dem Verzweifeln oder dem Verderben. Niemals in seinem Leben war sich Gracchus weniger sicher und gleichsam ob dessen verzweifelt gewesen - dabei konnte niemand behaupten, nicht einmal er selbst, dass er selten zweifelte und verzweifelte.

    Es war einer jener belanglosen Tage, welche dem Tag der Verlobungsfeier zwischen Flavius Aristides und Claudia Epicharis nachfolgten. Der junge Serenus war aus der Villa geflohen und niemand konnte sagen, wo er sich umtrieb. Beunruhigendes hatte sich in der Acta Diurna gefunden, über eine Überfall, in welchen der junge Flavier womöglich verwickelt gewesen war, doch niemand konnte genau sagen, ob dies Geschriebene überhaupt der Wahrheit entsprach. Längst waren flavische Sklaven und Söldner aller Arten ausgeschwärmt auf der Suche nach dem jungen Patrizier, am ehesten in Richtung Ostia und weiter in Richtung Baiae, denn es war nicht unwahrscheinlich, dass Serenus versuchte, sich zu seiner Großmutter Agrippina in die beschauliche Stadt an der Küste hin durch zu schlagen. Doch gleichsam suchte man auf den übrigen Wegen, welche sich sternförmig von Rom in das ganze Imperium hinaus entfernten, nach dem Jungen. Auch Gracchus war nicht frei von Sorge um seinen Neffen, womöglich sorgte er sich gar nach Serenus' Vater Aristides noch mit am meisten, suchte er die Schuld für jene infantile Disziplinlosigkeit, die degoutante Eskalation und schließlich die überstürzte Flucht im Scheitern der Erziehung - jener Erziehung, welche er nicht war fähig gewesen, dem Kind während seiner Zeit in Rom angedeihen zu lassen. Selbst die Streichung der Spinat und Gerstenbeitrag-Tage ob der Abwesenheit des Kindes gereichte nicht dazu, Gracchus über seine Vorwürfe und Sorge hinwegsehen zu lassen. Augenblicklich jedoch beschäftigte Gracchus solcherlei tatsächlich wenig, war der Moment auf der Latrine doch immer einer jener seltenen Augenblicke, in welchen kaum ein Gedanke die Sinne streifte, in welchen bedingungslose, nebulöse Leere das Denken konnte ausfüllen, der Mensch Mensch sein ohne wenn und aber, und allen unnützen Ballast von sich lassen. Deplorablerweise - womöglich jedoch auch agreablerweise - war es Gracchus an diesem Tage letztlich doch nicht einmal hier vergönnt, gänzlich in Leere zu schwelgen, denn eine achtlos auf dem Boden liegende Schriftrolle, dort, wo die Fließen durch die Wand hin begrenzt wurden, schob sich sukzessive in den Fokus seiner Aufmerksamkeit als er so entspannt da saß - und eine Schriftrolle, gleich welcher Art, war schon immer dazu äußerst geeignet, sein Interesse zu wecken. Er beugte sich ein wenig nach vorne ohne die Berührung mit dem Latrinenloch aufzugeben, streckte sich, streckte seinen Arm, auch seine Finger, bis dass er die Rolle vorsichtig in seinen nähren Aktionsradius ziehen und danach greifen konnte. Er fragte sich, wer wohl ein solches Schriftstück auf der Latrine verloren haben konnte, denn das Lesen auf der Latrine war eine völlig barbarische Unsitte, gleichsam war er sich nicht dessen bewusst, dass irgendwer im Hause einer solchen Unsitte nachging. Vorsichtig entrollte Gracchus das Blatt und hob in Indignation, wie es nur einem Patrizier solcherart möglich war, eine Augenbraue, als er des Titels ansichtig wurde.
    Sklave Gaius ist der Beste
    stand dort, in großen, kapitalen Lettern. Hernach, in der darunter liegenden Zeile folgte, an den rechten Rand gerückt, der Vermerk Folge 164, die Angabe eines Verfassers fehlte hingegen völlig. Dem jungen Römer mochte in diesem Augenblicke das Herz aufgehen, hätte er ein solches Kleinod in Händen gehalten, Gracchus jedoch musterte das Pergament nur mit Unverständnis. Seine Jugend, selbst seine Kindheit hatte den großen Gelehrten gegolten, Platon und Lukretius, den großen Epen wie der Odyssee, der Annalistik eines Fabius oder Valerius, den Rechtsgelehrten wie Cicero und Hortensius, nicht zuletzt auch den Komödien- und Tragödiendichtern wie Plautus und Terentius. Trivialer Kinderliteratur jedoch hatte sie keinen Platz geboten, so dass dies gänzlich an ihm vorüber gegangen war. Dennoch - denn er hatte derzeitig nicht allzu viel zu tun und was er tat, dies verrichtete sein Körper auch ganz ohne die Aufmerksamkeit seiner Gedanken - begann Gracchus, die Zeilen zu lesen.
    Sklave Gaius ist mitten in den Aufstand der Gladiatoren hinein geraten.
    So unvermittelt nahm der Text seinen Anfang und Gracchus verzog missbilligend das Gesicht. Die Schrift war äußerst simpel gehalten, kurze Sätze reihten sich aneinander, in einfachen Worten und einfachen Konstrukten.
    Gorgut hebt sein Schwert und brüllt 'Uah! Uah'.
    Gracchus' Augenbraue hob sich ein weiteres Stück. 'Uah' gehörte nicht unbedingt in jenen Wortschatz, welchen er sich zu lesen erfreute.
    'Nein, Gorgut, tu das nicht!' ruft Gaius seinem Freund zu.
    'Uah! Uah!' brüllt Gorgut und stürmt mit seinem Schwert auf die Männer der Cohortes Urbanae zu.
    Gaius zieht sich in den Hintergrund zurück. Jetzt gilt es auszuharren.'

    Die Stirn in Falten gelegt flog Gracchus' Blick über die Zeilen hinweg, mehr und mehr vertiefte er sich in die Lektüre und verfolgte, wie Sklave Gaius den Aufstand mit Raffinesse und Tücke überlebte und auch seinen Freund Gorgut vor dem Schwert bewahrte. Beide konnten sich vom Kampf absetzen, doch wurden sie von den Soldaten verfolgt und trennten sich ob dessen, nicht ohne einen Treffpunkt zu verabreden. Schließlich, nach einer rasanten Verfolgungsjagd durch die Gassen Roms, stand Gaius vor den Toren der Gladiatorenschule. Ohne dies zu bemerken, hatte sich Gracchus' Mund ob der aufkommenden Spannung ein wenig geöffnet, seine Stirn war nun wieder glatt, die Augen in Staunen auf den Text gebannt.
    Leise schleicht sich Sklave Gaius durch die enge Gasse. Er umrundet einen Vorsprung und steht dann vor der Tür, die ihn in die Gladiatorenschule hinein führen wird. Dreimal klopft er kurz, dann zweimal lang und noch einmal kurz. So hat er es mit seinem Freund Gorgut verabredet, auf dass der ihn einlassen würde. Auf einmal hört Gaius hinter sich ein Rascheln, gefolgt von einem Schlurfen. Plötzlich fühlt er Kälte, die auf seine Schulter tippt. Gaius dreht sich um und starrt in fünf grimmige Mienen, die zu fünf furchtbar böse ausschauenden Soldaten der Cohortes Urbane gehören. Die Schwertspitze, die eben noch gegen seine Schulter tippte, ist direkt vor seiner Nase.
    Damit endete das Blatt. Gracchus, dessen Herzschlag während der letzten Sätze ein wenig schneller zu schlagen begonnen hatte, drehte verzweifelt das Pergament um, doch natürlich war es nicht rückseitig beschrieben. Er beugte sich vor und blickte über den Boden der Latrine. Irgendwo musste der weitere Teil dieser Geschichte sein. Doch es war nichts zu sehen. Eilig rollte er das Pergament zusammen und beendete seine Sitzung auf der Latrine. Nachdem er aufgestanden und sich noch einmal geflissentlich vergewissert hatte, dass kein weiteres Pergament im Raum versteckt war, verließ er diesen, die Rolle fest in der Hand. Sciurus würde Rat wissen, denn wo Folge 164 existierte, da musste auch 165 und dort würde sicherlich nachzulesen sein, wie Sklave Gaius den Soldaten konnte entkommen. Zudem musste auch Folge 1 bis 163 existieren, denn wie überhaupt war Gaius in den Aufstand der Gladiatoren gekommen, was hatte ihn dorthin getrieben und was hatte es mit Gorgut, dem mächtigen Gladiator auf sich?

    Vorsichtig, beinahe ein wenig zögerlich, betrat Gracchus das Cubiculum seines Vetters und ging zu den Klinen hin, stockte keinen Moment im Angesicht des halb entblößten Vetters. Gegenteilig zu Aquilius hatte Aristides Gracchus noch nie um seine Räson gebracht, obwohl sein Körper durchaus dazu geeignet schien, doch womöglich war er einfach nur zu alt oder jene natürliche Sperre, welche familiäre Bindungen dieser Art normalerweise zu verhindern wusste, existierte tatsächlich mehr als ausgeprägt, versagte einzig nur bei Aquilius aus unerfindlichen Gründen. Gracchus hatte nie über dererlei nachgedacht, hatte der Anblick seines Vetters doch gleichsam nie zu solchen Gedanken geführt, darum soll dies auch hier kaum weiter Beachtung finden.
    "Danke."
    Er ließ sich den Becher Wein anreichen, bemerkte mit einem Blick, dass die Färbung jener von Aristides bevorzugten entsprach, und ließ sich mit einem Wink noch etwas Wasser nachgießen, war es doch für eine solche Mischung noch viel zu früh am Tag. Sinnierend blickte er hernach in die helle, rotfarbene Flüssigkeit, kippte den Becher ein wenig und beobachtete, wie die Oberfläche der Neigung widerstrebte und ihre Horizontale hielt. Für einen kurzen Moment ließ er sich ablenken und dachte darüber nach, dass ein Reisewagen, dessen Personenkabine in einem Becken voller Flüssigkeit auf dem eigentlichen Karren schwamm, jegliche Unebenheit des Geländes würde für die Passagiere ausgleichen, zumindest jene, die eine Neigung der Achsen hervorrief. Hernach würde nurmehr dafür Sorge getragen werden müssen, dass die Kabine nicht allzu unkoordiniert zur Seite driftete und schon könnte eine Reise getätigt werden, welche durchaus als kommod anzusehen sein würde. Andererseits würde dies womöglich zu einem dem bei Seereisen ganz ähnlichen Empfinden führen. Gracchus hob den Becher und spülte seine absurden Ideen die Kehle hinab, eine Reise zu Pferd war tausend und noch tausend mal mehr angenehmer als eine auf der See. Beinahe hätte er ob seiner abstrusen Gedanken auf sein eigentliches Ansinnen vergessen, doch Aristides holte ihn mit seiner Frage zurück in die Wirklichkeit.
    "Frage nicht, Marcus. Es ist der Tartaros, ganz, wie du dies prophezeiht hast. Es ist nicht, dass wie dem Tityos mir ein Raubvogel wieder und wieder die Leber aus dem Körper schlüge, es ist eher die vergebliche Mühe des Oknos, der Danaiden, oder viel mehr noch das Darben des Tantalos."
    Sein Blick glitt in die Ferne, durchbrach die Decke und glitt in eine Welt, die weit unter ihm lag.
    "Mitten im Teiche stand er, das Kinn von der Welle bespület,
    Lechzte hinab vor Durst und konnte zum Trinken nicht kommen.
    Denn sooft sich der Greis hinbückte, die Zunge zu kühlen,
    Schwand das versiegende Wasser hinweg, und rings um die Füße
    Zeigte sich schwarzer Sand, getrocknet vom feindlichen Dämon.
    Fruchtbare Bäume neigten um seinen Scheitel die Zweige,
    Voll balsamischer Birnen, Granaten und grüner Oliven,
    Oder voll süßer Feigen und rötlich gesprenkelter Äpfel.
    Aber sobald sich der Greis aufrechte, der Früchte zu pflücken,
    Wirbelte plötzlich der Sturm sie empor zu den schattigen Wolken.

    Noch bin ich kein Greis, doch ich sehe mich bereits in ferner Zukunft noch immer Dürsten, wenn nicht dann längstens der Felsen auf mein Haupt hinabgedonnert ist und mich erschlagen hat."

    Nachdem er den Becher auf der durch ein in Grün- und Blautönen gehaltenes Mosaik des Bacchus verzierten Platte des Beistelltisches hatte abgestellt, zog Gracchus die Füße auf die Kline hinauf und legte sich bequem auf die Lehne zurück.
    "Doch ich bin nicht hier, um zu klagen, schon gar nicht über die Ehe, für welche du dich erst gestern hast wieder entschieden. Ich bin wegen Arrecina hier, und auch Serenus. Deplorablerweise muss ich dir mitteilen, dass ich weder in Hinsicht auf den Fluch deiner Tochter etwas konnte erreichen, noch auf die Erziehung deines Sohnes."
    Ohne sich dessen bewusst zu sein, begann Gracchus seine Finger zu kneten.
    "Um gänzlich ehrlich zu sein, ich habe auf ganzer Linie versagt, Marcus. Ich assekuriere dir, ich habe mich wahrlich bemüht und es ist indispensabel, dass ich meinen indisputablen Anteil der Schuld auf mich nehme und mich dafür diskulpiere, doch obgleich ich nicht will lamentieren, es war ... es hat mich tatsächlich mehr als nur ein wenig überfordert. Alles begann mit diesem unsäglichen Fluch, wahrlich, Marcus, es war grauenhaft. Es war ganz, wie du vermutetest, doch ich hätte nicht versuchen sollen, diesen Fluch zu lösen, denn dies ist nichts, mit was ein rechtschaffener Römer sich auseinander setzen sollte, wir hätten an anderer Stelle Rat suchen müssen, denn ich fürchte ... ich fürchte, ich habe alles nur schlimmer gemacht."
    Wie schlimm tatsächlich, dies wollte er seinem Vetter nicht gänzlich gestehen. Aristides würde in den nächsten Tagen bereits wieder gen Legio aufbrechen, sein Überleben als Ziel in Gedanken, und dies sollte alles sein, was ihn müsste belasten, war dies doch bereits mehr als genug zu tragen. Bedauernd schüttelte Gracchus den Kopf und hielt im Tun seine Hände zu bearbeiten inne, da er sich dessen gewahr geworden war.
    "Sie erinnert sich noch immer an nichts."

    Gracchus nickte und rang sich ein aufmunterndes Lächeln ab. Er wollte sie nicht drängen, waren ihre Erlebnisse doch sicherlich äußerst indelikat, notfalls würde er sich darauf verlassen müssen, was Caecilius berichtete, doch gleichsam wäre es vermutlich einfacher mit jenem zu sprechen, wenn er ein wenig mehr darüber wusste, was genau vorgefallen war, denn bis auf den Umstand, dass irgendwelche Dickhäuter Minervina hatten geraubt und der schwarze Skorpion sie hatte befreit, wusste er nicht wirklich viel. Ein wenig unentschlossen stand er im Atrium, versuchte zu Ordnen, was weiters zu tun war, entschloss sich sodann sein Cubiculum aufzusuchen, in welchem er Sciurus hatte zurück gelassen.

    Jenes Bild, welches Caius eben noch von ihm zeichnete, stand so vollkommen und gänzlich jenem entgegen, welches Gracchus von sich selbst hatte, war so unglaublich und gleichsam unglaubwürdig, dass er dies weder sonderlich ernst nehmen, noch eben glauben konnte. Seinem Vetter stand es ohnehin nicht zu, als neutraler, wertfreier Beobachter aufzutreten, konnte Caius ihn doch nur mit dem Blick eines Verlorenen sehen - ebenso wie er Caius nie würde sehen können, wie jener tatsächlich war, sondern nur immer durch einen verklärten Schleier des Sehnens und Verlangens. Für Caius mochte er der perfekte Mensch sein, den jener in ihm sah, doch für niemanden sonst konnte dies möglich sein, stand dies doch seinem Wesen gänzlich entgegen, und keinesfalls mochte Antonia ihn je so sehen, trug jene nicht einmal den täuschenden Schleier der Familie vor Augen, und es mochte der Fluch der Ehe sein, dass sie mehr noch als alle anderen geeignet war, die zahlreichen Unzulänglichkeiten und Defizite an ihm zu detektieren, doch war dies unveränderlich, war er doch ein durch und durch fehlerbehafteter Mensch. Die schmeichelnden Worte seines Vetters prallten darum nur an einer dicken, lange gehegt und gepflegten Mauer aus Hader und Zweifel ab. Doch war es längstens nicht dies, was ihm durch die Sinne zog als er wieder auftauchte, halb von Caius hinauf gezogen, als er Luft in seine Lungen ziehen wollte, doch dies ob des Anblickes beinahe vergaß. Zuerst brach ein Schrecken in seine Gedanken, blickte ihn doch Aquilius an, als wäre er eines Larven angesichtig geworden, und Gracchus konnte erst nicht einordnen, woher jenes Erschrecken rührte. Kurze Zeit darauf hatte er nicht mehr die Gelegenheit darüber nachzudenken, denn Aquilius' Nähe und seine Berührung entrissen ihm vollends die Contenance.
    "Alles ... bestens,"
    stammelte er, wusste doch im gleichen Moment, dass dem nicht so war, dass er nicht so war. Er war verdorben, verzweifelt, verloren. Hitze stieg in Gracchus' Körper auf, nicht vom ihn umgebenden Wasser abgegeben, sondern tief aus ihm emporwachsend, er spürte Caius' Hände an seinen Armen wie glühende Kohle, spürte Caius' Körper nah an dem seinen - zu nah - gleichsam dörrte seine Kehle aus wie eine Frucht in der Sonne, und es drängte ihn danach, erneut unter Wasser abzutauchen, das Becken gleichsam auszutrinken.
    "Völlig verdorben ..."
    wiederholte er und griff langsam zu Aquilius' Händen. Alles in ihm drängte danach, der Versuchung nachzugeben, niemand würde es je wissen, nur Caius und er, und doch würde er es wissen, gleichsam wie das Verlangen ihn würde aufzehre, würde gegensätzlich das Wissen ihn aufzehren, es gab keinen Ausweg aus jenem Dilemma. Doch was würde gewichtiger wiegen, das Bedauern jener Dinge, die nie getan wurden, oder jenes jener, die getan worden waren, unumstößlich, nie wieder umkehrbar? In seinen Gedanken, in seinem Hader gefangen nahm er Aquilius' Hände von seinem Körper, hielt sie jedoch vor sich, hielt sie fest und ließ sie nicht los, blickte auf sie herab, als würde er in den feinen Linien der Haut eine Antwort finden können. Dann hob er sie empor, legte sie um sein Gesicht, presste sie mit den eigenen Händen an seine Wangen, schloss die Augen und biss die Kiefer zusammen. Verdorben, verzweifelt, verloren.
    "Er war hier,"
    flüsterte er ohne die Augen zu öffnen. Es war einfacher, von verdorbenen Taten zu sprechen, als jene zu tun.
    "Hier in der Villa."

    Nur einen Atemzug nach ihren Worten erreichte Gracchus erneut das schlechte Gewissen. Zu lange hatte er sie in Hispania darben lassen, zu wenig Mühe hatte er sich gegeben all den Verpflichtungen zu entkommen, um sie nach Hause zu geleiten, denn obgleich jene Entbehrung seines Leibsklaven letztlich beschwerlicher gewesen war, als dies eine eigene Reise hätte sein können, so wäre es dennoch seine Pflicht gewesen, früher dafür Sorge zu tragen.
    "Du solltest dich ein wenig ausruhen. Die Reise war sicherlich anstrengend. Wenn es dich danach drängt über die Geschehnisse zu sprechen, so werde ich für dich da sein."
    In unumstößlicher Gegenwart seiner Schwester drängte sich der Gedanke in Gracchus' Sinn, dass es nun zwar noch immer importun, doch gleichsam indispensabel war, den Praefectus Praetorio aufzusuchen.

    Die Worte seines Vetters klangen so überzeugt, so überzeugend zugleich, und Gracchus wollte ihnen Glauben schenken, so dass er dies denn bereitwillig tat. Eine kleine Verrücktheit, eine Marotte, dies würde er aushalten - wer, ohnehin, konnte von sich behaupten ohne Makel zu sein? Er ganz sicher nicht, so dass eine kleine Verrücktheit womöglich neben all der Unzulänglichkeiten nicht weiter würde ins Gewicht allen - doch dem Wahnsinn anheim fallen, dies war etwas, was er nicht wollte erleben, sich den Rastlosen anschließen, auf immer gefangen zwischen den Welten. Er schauderte obgleich das Wasser um ihn herum noch immer angenehm warm war, und überging geflissentlich jenen Wink auf ihrer beider Schranken hin, gleichsam drängten sich ohnehin andere Gedanken in seinen Sinn.
    "Ich fürchte, Antonia verabscheut mich. Diese Ehe war von Anfang an eine Farce, doch ich komme mir vor wie ein Ungeheuer in ihrer Gegenwart. Ich will nicht mehr von ihr verlangen, als was ich muss. Wenn erst ein Nachkomme aus dieser Verbindung entsteht, drei oder vier hernach im Gesamten ... es gibt genügend Damen, die fern Roms ihre Zeit in den Landhäusern verbringen, während ihre Gatten ihren Pflichten nachgehen. Ich werde sie nicht zwingen, hier in meiner Gegenwart ihr Unglück zu fristen."
    Ein bitteres Lächeln schob sich auf seine Lippen.
    "Ich weiß, du willst es nicht hören, Caius. Doch ich bringe meinen Mitmenschen wahrlich kein Glück. Dir nicht, ihr nicht, nicht Arrecina, nicht Serenus, nicht meinen Geschwistern, ... was ich diesbezüglich anfasse, verbrennt unter meinen Händen zu graufarbener Asche."
    Kraftlos schüttelte er den Kopf und blickte auf seine Hände, die vor ihm noch immer in unbewusster Weise das Wasser zerteilten, aufwühlten, gleich seinen Gefühlen. Es war wahrlich nicht einfach, all dies aus sich heraus zu bringen. Langsam brachte Gracchus seine Arme zur Seite, legte die Hände auf den Beckenrand und betrachtete, wie sich die Oberfläche des Wassers allmählich glättete, die Umgebung zu spiegeln begann. Er senkte seinen Blick und beugte den Kopf ein wenig vor, besah sein eigenes verzerrtes Abbild, musterte sich derangiert aus so vertrauten und gleichsam unbekannten Augen heraus.
    "Sein Name ist Quintus Tullius. Zumindest nennt er sich so. Seine ... unsere Amme raubte ihn ob des Geldes wegen, doch irgend etwas ging schief, sie floh mit ihm, zog ihn auf. Ich ... ich habe es nicht ganz ... mitbekommen."
    Als jene Frau ihnen erzählte, woher ihre Similarität rührte, hatte es zu viel in Gracchus Kopf gegeben, als dass er ihr hätte in allen Einzelheiten folgen können. Er musste sie finden. Sciurus musste sie finden, womöglich würde sie wissen, wohin Tullius gegangen war. Gracchus legte den Kopf ein wenig schief und betrachtete sein Spiegelbild dabei, doch es war nicht wie an jenem Tag, denn sein Zwilling war nicht sein Spiegelbild, er war sein Abbild und darum ihm gegenüber seitenverkehrt zu einem Spiegel.
    "Er ... und ich ... wir ... er ... beim zweigesichtigen Ianus ..."
    In einer harschen Bewegung zerstörte Gracchus die ruhige Fläche des Wassers vor sich, in dem er mit Linken hindurch fuhr und blickte hernach zu seinem Vetter, die Stirn in sorgenvolle Falten gelegt.
    "Er gleicht mir völlig. Er trägt mein Gesicht, meinen Körper, selbst ... als er anfing zu überlegen, begann er an seiner Lippe zu kneten! Du weißt, dass der alte Sciurus vergeblich versuchte, diese Marotte mir auszutreiben. Er ist mein vollkommenes Ebenbild und doch ... und doch ist er völlig verdorben."
    Gracchus' Schultern sanken herab, dann ging er langsam in die Knie. Rechtzeitig schloss er Mund und Augen, bevor das Wasser über seinem Kopf zusammen schlug. Nur noch gedämpft klangen die leisen Geräusche der Villa an sein Ohr und als er die Augen unter Wasser öffnete, war die Welt davor verschwommen. Dennoch, verschwommen, verzerrt, strahlte Aquilius' Körper eine Verlockung aus, der nur schwer zu widerstehen war, und jene Verlockung, die sich ihm entgegen reckte war nicht so sehr verschwommen und verzerrt, als dass Gracchus nicht all zu deutlich gesehen hätte, wie groß sie tatsächlich war. Er ließ die angehaltene Luft in blubbernden Blasen nach oben entweichen und folgte ihr sodann. Ob es nicht den Versuch wert war, zu erfahren, ob das Leben vielleicht ein wenig einfacher würde sein, wenn der Mensch sich ein wenig Verderbtheit gönnte?

    Ein wenig perplex legte Gracchus eine Hand um Minervinas Schulter, mit der anderen strich er ihr behutsam über ihr dunkles Haar. Es war nicht jene Reaktion, mit welcher er gerechnet hatte, doch vermutlich waren ihre Erlebnisse zu schauderhaft gewesen, als dass sie noch viel Wut in sich bergen konnte. Es war an ihm, die Wut nieder zu kämpfen, jene Wut, welche in ihm schwelte über die Ungeheuerlichkeit des Geschehenen, über die Dreistigkeit der Entführer seine Schwester zu rauben, über die Respektlosigkeit des Lebens seiner Familie gegenüber.
    "Es ist schon gut."
    So standen sie denn inmitten des Atrium, durch die Öffnung dessen Daches das goldene Licht der Nachmittagssonne in den Raum fiel wie zähflüssiger Honig, während der Wasserspeier des Impluviums beruhigend vor sich hinplätscherte und ein großes grünes Blatt einer der Seerosen wieder und wieder mit Wasser bedeckte, bis schließlich das Grün unter die Wasseroberfläche gedrückt wurde, um sich dort den Kräften des Nass zu entwinden, sich zu biegen und wieder an die Oberfläche hin aufzutauchen. Vorsichtig legte Gracchus seine Hand unter ihr Kinn und zwang sie, den Kopf zu heben. Sodann versuchte er mit dem Daumen ihre Tränen von den Wangen zu wischen, doch war dies Unterfangen von Beginn an zum Scheitern verurteilt, waren sie doch bereits von salzigem Nass überzogen. Er blickte zur Seite und winkten einem der stets präsenten Sklaven, welcher sofortig ein Taschentuch heran brachte, wobei sich Gracchus nur im hintersten Winkel seiner Gedanken die Frage stellte, woher Sklaven immer gerade so schnell jene Dinge herbeischafften, die eben gebraucht wurden. Sanft wischte er die Tränen nun mit dem feinen, an den Rändern golden bestickten Tuch fort. Minervinas blaufarbene Augen schimmerten im Licht und Gracchus wurde sich dessen gewahr, dass er - und Tullius - einzig nicht die blaufarbenen Augen ihrer Mutter, sondern jene dunkelfarbenen des Vaters hatten geerbt.

    Als Sciurus unvermittelt vor ihm auftauchte, war dies für Gracchus nicht sonderlich außergewöhnlich, und es dauerte ob dessen einen Moment, bis er sich der Exzeptionalität dieser Erscheinung bewusst wurde. Ein erleichtertes Aufatmen echappierte ihm, war das Darben der einsamen Nächte doch endlich vorbei, war das Darben gänzlich vorbei, was Gracchus sogleich zum Anlass nahm, eben jenes Darben auf der Stelle zu beenden. Es dauerte daher ein wenig - nicht allzu lange jedoch, war der innere Druck doch zu groß, um ihm lange Stand zu halten - bis Gracchus sich nach seiner Schwester erkundigen konnte, doch sein Leibsklave konnte deplorablerweise nicht sonderlich viel berichten, denn Eiligkeiten und Dringlichkeiten. Kurze Zeit später erschien Gracchus im Atrium. Erleichterung durchströmte ihn beim Anblick seiner Schwester, so war sie doch immerhin am Leben, doch stieg gleichsam in ihm das schlechte Gewissen empor. Er zwang sich dazu, ein marginales Lächeln seine Lippen kräuseln zu lassen und trat auf sie zu.
    "Minervina."
    Kein Wort mehr brachte er heraus, erwartete er doch im gleichen Augenblicke da sie seiner Anwesenheit gewahr wurde, dass sie ihn würde mit Vorwürfen überschütten, so wie er dies gänzlich verdient zu haben glaubte.

    Es schien nicht, als wäre etwas geschehen, was ihm wurde nachgetragen. Womöglich war er nicht einmal lange in diesem Hause gewesen, als dass Gracchus sich müsste sorgen. Dennoch nagte die Ungewissheit an ihm, fraß ihn langsam auf und verspeiste ihn in kleinen Häppchen. Die Antwort seines Vetters erstaunte Gracchus dennoch, auch wenn ihm dies möglicherweise selbst nicht gänzlich bewusst war, denn im Grunde reihte sich in seinem Leben ein Zweifel an den nächsten, jeder Tag war geprägt von tiefem Hader mit sich selbst, doch vermutlich war es ohnehin nicht so subtil, was Caius meinte, sondern eben das offensichtliche. Aus diesem Grunde ließ Gracchus erst gar nicht seine Gedanken in die Tiefen der Zweifel hin abgleiten, nicht diejenigen über sich selbst, denn zu tief konnte er darin versinken, so tief, dass er gar befürchtete, eines Tages nicht mehr daraus empor schwimmen zu können. Gleichsam jedoch gab es dieser Tage weitaus schlimmeres als sein eigenes Leben, obgleich all diese Geschehnisse seine Existenz meist mehr als nur tangierte und immer wieder ins Wanken brachten.
    "Wahrhaftig chaotisch, doch es ist nicht das Haus, Caius, es ist diese Familie. Gerade in der letzten Zeit frage ich mich, ob jene Worte ob der Degeneration der Patrizier womöglich doch wahrer sprechen, als wir dies zugeben wollen, ob es nicht in unserem Blut begründet liegt, am Abgrund des Wahnsinns zu stehen."
    Keinem Menschen gegenüber würde Gracchus je so offen sein, denn seinem Vetter. Er bewegte seine Hand vor sich hin und her und beobachtete die feinen Wellen, die er damit erzeugte.
    "Davon abgesehen, dass es mir schlichtweg nicht einmal gelingt, einen Erben in die Welt zu setzen, frage ich mich beizeiten, ob es tatsächlich klug ist, dies tun zu wollen."
    Obgleich dies etwas war, was Gracchus zutiefst beschämte und ihn gleichsam immer drängender beschäftigte, so sprach er die Worte wie beiläufig, als wäre Caius irgend ein Gesprächspartner in den öffentlichen Thermen. Er wusste, würde er einmal seinem Gefühl erlauben, die Oberhand zu gewinnen, so würde nicht nur jenes aus ihm herausbrechen, welches er ausdrücken mochte, sondern gleich einer Lawine ein ganzer Berg, unter anderem auch jene Emotion, die in keinem Falle duldsam waren. Caius war so greifbar nah, er brauchte sich nur von der Wand des Beckens abzustoßen und würde geradewegs in die Arme seines Vetters treiben. Niemand war hier, nicht einmal ein Sklave, die Tür war verschlossen, niemand würde je davon erfahren, es konnte ein Geheimnis sein zwischen Caius und ihm, auf ewig, wie so viele andere Dinge zwischen ihnen. Gracchus schloss erneut die Augen, doch der Duft der Verführung blieb in seiner Nase, konnte er jene doch gleichsam nicht verschließen. Ein klandestines Seufzen echappierte seiner Kehle, so dass er schließlich die Augen wieder öffnete und seinen Vetter ganz unverholen ansah. Was war es nur, das ihn so besonders machte? Er war schön, das Gesicht in perfekter Symmetrie, als hätten die Götter es selbst aus Anmut gemeißelt, die Augen tief und dunkel, der Blick immer ein wenig verwegen, als könne nichts und niemand ihn aufhalten, doch schöne Menschen gab es viele auf der Welt. Auch Antonia war schön, einer Muse gleich, dennoch drängte es Gracchus nicht nach ihr, nicht danach sie zu berühren, nicht danach sie zu umschließen, nicht danach mit ihr eins zu sein. Selbst andere Männer konnten Aquilius nicht das Wasser reichen, sie waren nur Ersatz, Befriedigung einer Lust, die nicht zu befriedigen war, Stillen eines Durstes, der nie würde verlöschen können. Es konnte das Äußere allein nicht sein. Würde Gracchus' Äußeres ausreichen, Caius Durst zu stillen? Würde sein Äußeres dazu ausreichen können, dass Caius ins Schwanken geriet?
    "Es ist tatsächlich etwas geschehen,"
    begann er schließlich als ihm schien, als würde die Stille sich langsam schwer auf seine Schultern senken.
    "Vor langer Zeit schon. Am Tage meiner Geburt, welche so exklusiv nicht war wie ich bisherig glaubte, wie deine dies beispielsweise war ..."
    Der Anfang schien Gracchus nicht gut gewählt, weshalb er ihn verwarf und noch einmal Luft holte, um von neuem zu beginnen.
    "Wir waren nicht nur fünf anerkannte Nachkommen des Vespasianus, wir waren sechs, nicht nur drei Brüder, sondern vier. Ich habe nie darüber nachgedacht, doch scheint es dir nicht seltsam, dass einzig Quartus Lucullus als Praenomen eine Zahl trägt? Nun, ich glaube er hat ihn deswegen erhalten, um über den verlorenen Sohn, den eigentlich vierten oder vielleicht auch dritten Nachkommen hinwegzutäuschen. Und doch trägt Lucullus ihn zu unrecht, denn obgleich meine Eltern dies annahmen, dies annehmen mussten, so ist jener Nachkomme nicht tot. Er wurde ihnen gewaltsam entrissen, längst ist er kein Flavius mehr, doch sein Leben fand kein Ende. Bis heute nicht."
    Gracchus suchte Auqilius' Blick, um zu sehen, ob dieser annähernd verstand, was er ihm versuchte zu sagen, gleichsam kämpfte er mit sich, in sich, gegen sich, gegen die aufwallenden Empfindungen, die jener Blick in ihm auslöste.