Noch immer seine Schläfe mit zwei Fingern massierend verfolgte Gracchus das augenscheinliche Duell zwischen Lehrer und Schüler. Es drängte ihm danach, Aristides mitzuteilen, dass Roma kein Ort für einen Jungen war, daher die Anwesenden alle beide aus seinem Officium zu werfen und keinen von beiden überhaupt wieder zu sehen. Im Falle Serenus' war dies leider außerhalb jeder Möglichkeit, bei Theodorus schon eher, doch fürchtete Gracchus keinen zweiten Paedagogus zu finden, welcher nicht nach der ersten Diskordanz seines Neffen verzweifelt von Dannen zog, sondern standhaft blieb, vor allem nicht für 75 Sesterzen die Woche. Mehr noch, als dass er nicht sein Heil in der Flucht suchte, missfiel Gracchus schlussendlich, dass Theodorus die Rezitation der Odyssee augenscheinlich völlig gefühlskalt ließ, denn selbst da die Darbietung seines Neffen zu Wünschen übrig ließ, so erfüllten Gracchus die Worte doch mit einer tiefen inneren Zufriedenheit über solch tiefgründige Wahrheit, solch harmonische Ästhetik und unvergleichliche sprachliche Schönheit. Vermutlich lag diese Absenz der Verzückung an der Tatsache, dass Theororus als Philosoph keinen Sinn für die Eleganz der Welt besaß, bemühten sich Philosphen doch oftmals eher darum, jene Welt nur in ihre Einzelteile zu zerlegen, anstatt sich ihrer Gesamtheit zu erfreuen, ihrer ungleich elysäischen Komposition und ihrem unvergänglich entzückenden Wesen. Wie sollte Serenus einen Sinn für das Wahrhaftige entwickeln, wenn er nur die Wahrheit in Zeichen quetschte, ihre Schönheit dabei gleichsam regelrecht vergewaltigte? Erkenntnis kam nicht von missfälliger Wiederholung, Erkenntnis war ein langwieriger Prozess des Sehens, des Staunens und Erfahrens, dessen war sich Gracchus sicher.
Beiträge von Manius Flavius Gracchus
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Den Helvetier begrüßte Gracchus nur mit einer knappen Nennung des Namens und überließ fortan Furianus den Part des Wortführers, denn immerhin war dieser der Praetor urbanus und dies das Officium des Praetor urbanus. Er fragte sich, ob Helvetia Severina ihren Vetter gebeten hatte, diesen Gang anzutreten, oder ob er dies aus eigenem Antrieb tat. Das eine wie das andere würde für die eine wie die andere Theorie bezüglich der Erbangelegenheit sprechen, doch Gewissheit würde es ohnehin erst geben, wenn Falco sein Anliegen nach Begutachtung des Schriftstückes geäußert haben würde.
"Verzeiht, wenn ich unterbreche, doch gestatte mir eine Frage, Helvetius. Nannte dir deine Base den Namen des Erbberechtigten, das Amt oder beides?"
Er taxiete den Mann mit aufmerksamem Blick, bis ihm plötzlich gewahr wurde, woher die leichte Reminiszenz seines Anblickes stammte, denn jener Mann war einst Praefectus Praetorio gewesen in der Zeit, als Gracchus aus Achaia nach Roma zurück gekehrt war. Augenblicklich versteifte Gracchus sich ein wenig, sein Herzschlag beschleunigte marginal und in unbewusster Manier presste er die Kiefer aufeinander im Versuch seine ureigene Abneigung gegenüber den schwarzen Männern des Kaisers hinabzuwürgen, welche nicht allein daher rührte, dass er sich schon beim Anblick eines Praetorianers schuldig fühlte, obgleich er nichts verbrochen hatte. -
Wie Zephyros schoss Serenus aus dem Raum und kehrte wieder zurück, noch ehe der Lehrer oder Gracchus auch nur reagieren konnten, Gracchus vermutlich deswegen, weil die Konsternierung bezüglich des Dichterfürsten noch zu groß war. Das Lächeln, mit welchem sein Neffe ihn bedachte, beunruhigte ihn zu tiefst, er biss die Kiefer aufeinander und bemühte sich redlich um Ruhe und Zurückhaltung. Die Stimme des Jungen war nicht einmal dissonant, so dass die erste Darbietung nicht unbedingt nachteilig war, doch sie verklang alsbald und ließ nur mehr Raum für Disharmonie und Missklang, eine regelrechte Kakophonie bahnte sich ihren Weg durch Gracchus' Gehörgänge und ließ sein Hirn bis hin zur letzten Zelle erzittern. Ein Stich fuhr aus Gracchus' Backenzahn des rechten Oberkiefers, zog sich an der Schläfe vorbei und schoss zusätzlich in sein Schmerzzentrum hinein. Das filigrane Gedankengebäude, welches er von seinem Neffen errichtet hatte, dem zuvorkommenden, höflichen, schicklichen, um patrizische Haltung bemühten und sicherlich intelligenten jungen Mann, zerbrach mit lautem Bersten beim letzten Schrammel-Klang der Lyra und die scharfkantigen Scherben bohrten sich weit in Gracchus' Fleisch hinein. Er schloss kurz die Augen, seine Finger wanderten an seiner Backe hinauf zur Schläfe und massierten diese. Welche Furien hatte ihn nur geritten, als er Aristides zugesagt hatte, sich um die Ausbildung des Jungen zu bemühen? Dies würde seinen Vetter ein Vermögen an Gefälligkeiten kosten, ein gewaltiges Vermögen.
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Tiefe, bedrückende Leere, schummrige Dunkelheit und sich langsam vor alle Empfindungen schiebende Kälte blieben zurück in dem kargen Kellerraum, Gracchus' neuem Zuahuse, und während er noch auf dem letzten Bissen des Mahls herumkauend sich umsah, wurde sich Gracchus dessen Gewahr, dass dieser Raum bis auf marginale Abweichungen genauestens sein Innerstes widerspiegelte. Es beschlich ihn das dumpfe Gefühl, dass nichts, was er gesagt hatte, seinen Zwilling auch nur im Mindesten hatte erreicht, augenscheinlich war es ein Fluch, dass er keines seiner Geschwister mit seinen Worten erreichen konnte, nicht Minervina, nicht Tullius und Lucullus vermutlich ebenso wenig, er war offenkundig nicht dafür geschaffen, der Familie in irgendeiner Weise vorzustehen, wie er nur allzu oft immer wieder feststellen musste. Doch nicht dies war es, was ihn zu tiefst bedrückte, er hatte dies ohnehin niemals gewünscht, es war die Art und Weise wie Tullius ihm zu Verstehen gegeben hatte, dass er nicht sein Bruder, dass er stattdessen sein Feind war, ein Feind auf Leben und Tod. Gracchus wusste, dass es klüger würde sein, gegen jenen Mann zu arbeiten, ihm vor allem anderen zu misstrauen, doch gleichsam wusste er, dass er dies nicht würde tun können, denn er brachte es nicht über sich seinem eigenen Anblick zu misstrauen, weniger noch, als dies sonst irgendwem gegenüber zu tun. Vermutlich war dies seine größte Schwäche, größer noch als jene unbotmäßigen Gefühlswallungen gegenüber Angehörigen des gleichen Geschlechtes, größer noch als jene Affinität zu Caius, doch Gracchus konnte nichts dagegen tun, denn sein Leben galt der Wahrheit, der Schönheit, Gerechtigkeit, Ästhetik, Eleganz und Harmnoie, und in dieser Welt gab es keinen Platz für Lug und Betrug. Die ersten Erfahrungen mit der Disharmonie der Schändlichkeit hatte er auf Creta erfahren und sie hatten sein Weltbild bis in die Grundfeste erschüttert, doch waren sie nicht schwerwiegend genug gewesen, um es zu zerbrechen. Misstrauen widerstrebte seinem Verlangen nach Wahrhaftigkeit, denn es bedeutete gleichsam, einer Person zuzutrauen, dass jene die entgangenen Genüsse der Ästehtik durch die Lüge bewusst würde auf sich nehmen, und dies war für Gracchus unvorstellbar. Doch gleichsam war er sich dessen bewusst, dass es einfach war aus seiner Position heraus auf diese Weise zu handeln, zu denken, ungleich einfacher, als dies in der Subura der Fall sein mochte, die, so nah sie auch an die besseren Viertel der Stadt grenzte, doch eine solch ferne Welt darstellte, deren Leben Gracchus nicht fähig war nur anzudenken, gleichsam er nicht fähig war, das dortige Leben des Quintus Tullius anzudenken, so sehr er sich auch darum bemühte. In diesem Augenblicke wurde Gracchus bewusst, wie unglaublich egozentrisch seine gesamte Welt war, denn während Tullius sich um Gracchus' Vergangenheit und Leben bemüht hatte, so hatte er selbst es vermieden, die Vergangenheit des Zwillings auch nur anzuerkennen, geschweige denn, sich danach zu erkundigen. In einem Akt der Hybris war er so besessen gewesen von der Idee, dass Tullius nichts lieber würde tun, als das patrizische Leben einzunehmen, welches ihm vorenthalten worden war, dass ihm nicht einmal in den Sinn gekommen war, dass dies nicht der Fall sein könnte, dass er nicht im entferntesten angenommen hatte, dass dies für Tullius tatsächlich nur ein Spiel würde sein, ein Spiel, welches es sich lohnte eine Zeit lang zu spielen, doch aus welchem man hernach in sein eigenes, geliebtes Leben zurück kehrte. Quintus Tullius konnte das Leben des Flavius Gracchus nach belieben ruinieren und hinterher glücklich und zufrieden in jenes des Quintus Tullius zurück kehren, ohne eine Spur von Bedauern, während Gracchus hernach vor den Scherben seiner Existenz würde stehen - und was, bei allen Göttern, hätte er anderes verdient? Verdrießlich schob Gracchus den leeren Teller von sich und schämte sich zutiefst seiner selbst, nicht zum ersten Mal in seinem Leben, doch statt mit gewohntem Selbstmitleid viel eher mit ungewohnt selbstkritischer Reflektion garniert.
"Ach, Vanitas Vanitatum. Wer von uns ist auf dieser Welt ganz glücklich? Wem werden alle seine Wünsche erfüllt? Und wenn sie uns erfüllt werden, sind wir dann wohl zufrieden?"
Von einem tiefen Seufzen begleitet verschränkte er die Arme vor sich auf dem Tisch und ließ langsam seinen Kopf drauf nieder sinken. Sein Leben war mitnichten schlecht, respektive sicherlich mit eines der besten Leben, welches man im Imperium Romanum leben konnte. Die Magistratur verlief nicht schlecht, seine Quaestur hatte er tadellos hinter sich gebracht, womöglich würde er die Ziele, die sein Erbe ihm auferlegt hatte, ohne größere Probleme erreichen, doch zu welchem Preis? Jeder Tag, der verstrich, machte ihn mehr und mehr zu einem Abbild dessen, was sein Name ihm diktierte, was seine Herkunft von ihm verlangte, doch jeder Tag entfernte ihn mehr und mehr von jener Person, die er im Grunde seines Herzens mit sich trug. Zudem stürzte er immer wieder die Menschen um sich herum ins Unglück, gleichsam mit sich selbst. Der alte Sciurus hatte seine Nähe mit dem Leben bezahlt. Caius, den einzigen Menschen, den er jemals geliebt hatte, hatte er verstoßen, würde er niemals gewähren, was ihm zustand. Claudia Antonia musste um seinetwillen eine Ehe leben, die ihr tagtäglich das Unglück vor Augen hielt, in welcher sie niemals würde glücklich werden können. Und Quintus Tullius - was aus Quintus Flavius Tullius ohne ihn nicht alles hätte werden können, darüber wollte er besser nicht allzu tief sinnieren. Mochte es ein Spiel um Leben und Tod sein, in diesem Falle wusste Gracchus, welche Seite er zu wählen hatte, nicht aufgrund dessen, was sein Name, seine Herkunft ihm diktierten, sondern einzig aus sich selbst heraus. -
Alles in Gracchus drängte danach bei den Worten seines Neffen den Mund zu öffnen und ihn in Staunen offen stehen zu lassen, doch obgleich er niemals würde aufhören können über die Welt zu staunen, so hatte er doch bereits in jungen Jahren gelernt, dies hinter geschlossenen Lippen zu verbergen. Es war Aquilius' und sein Lehrer Kephalos gewesen, welcher seinen jungen Schülern damit gedroht hatte, dass bei zu langem Staunen mit offenem Munde der intelligente Geist aus dem Körper entweichen könne, und ogleich Gracchus natürlich über jenes Alter hinaus war, dies zu glauben, so hob er nur seine Hand und begann an der Unterlippe zu kneten, um seinen Neffen nicht allzu entgeistert anzusehen. Agrippina hatte augenscheinlich ganze Arbeit in ihrer Erziehung geleistet, denn es war ein offenes Geheminis der Flavia, dass sie ein wenig zu sehr für den der Damnatio memoriae Anheim gefallenen Domitianus schwärmte und sich ähnlich positiv und sogar öffentlich über den letzten Kaiser der iulisch-claudischen Dynastie äußerte. Mochte einer alten Frau in Baiae so manches Wort verziehen werden, doch hatte sie offensichtlich vergessen, dass solches Wort einem jungen Flavius in Rom nicht unbedingt gut zu Gesichte stand, gegenteilig, sogar äußerst gefährlich werden konnte. Natürlich war Neros Beitrag zur Kunst und vor allem zur Schönheit und Pracht Roms nicht zu unterschätzen, geradezu wert zu schätzen, und man konnte dies durchaus in geeignetem Kreise äußern, doch ein eben erst in die Villa eingelassener Peregrinus gehörte sicherlich nicht zu diesem Kreis. Zudem tat Serenus dem größten aller Dichter natürlich Unrecht, denn an die Leistung Homers, welcher den Menschen nicht nur die lebenslange Suche nach Schönheit, sondern in seiner Dichtung gleichsam eine Ahnung dieser Schönheit gegeben hatte, hinter dieser Leistung musste selbst die Pracht und Herrlichkeit Roms zurückstehen, würde es noch in tausenden Jahren müssen.
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Zögerlich schüttelte Gracchus den Kopf.
"Der Name sagt mir nichts, aus der Familia Helvetius Tacitus stammt er zumindest nicht. Einzig so dieser Helvetius bei Erstellung des Testamentes anwesend war, könnte dies womöglich weiter helfen."
Mit einem Wink bedeutete er einem Sklaven die Abschrift des Testamentes des Caius Helvetius Tacitus Furianus vorzulegen.
"Dies ist, was seine Tochter nach Rom brachte, augenscheinlich aus familiärem Pflichtgefühl, doch bin ich mir dessen nach längerer Überlegung nicht mehr gänzlich sicher. Es besagt, dass der Erblasser seine gesamte Hinterlassenschaft bis auf einen geringen Teil einem gewissen Agrippa vermacht, allerdings ohne diesen durch nähere Angabe des Praenomen oder vor allem Nomen gentile zu identifizieren. Helvetia Severina, seine Tochter, erwähnte, dass ihr Vater sein Vermögen dem Proconsul Matinius Agrippa vermacht hatte, daher fiel mir diese Ungenauigkeit im Gespräch mit ihr deplorablerweise nicht auf. Doch ich kann und werde nicht aufgrund einer mündlichen Nennung das gesamte Vermögen eines Mannes einem Mann übereignen lassen, welcher zufällig den im Testament erwähnten Cognomen trägt. Ohne auch nur den Verdacht einer Erberschleichung andenken zu wollen, so scheint mir ein solches Vorgehen rechtlich gesehen doch untragbar. Allerdings fehlt mir der notwendige juristische Weitblick, was nun mit jenem Testament und dem zugehörigen Erbe weiters zu tun ist." -
"Einerseits bringe ich die Berichte über die abgearbeiteten Erbfälle wie es meine Pflicht ist, andererseits benötige ich dein juristisches Sachverständnis und eine richterliche Entscheidung bezüglich eines ein wenig delikaten Erbfalles. Ich würde gerne mit Letzterem beginnen."
Gracchus tat dies nicht, um den Sklaven zu sekieren, welcher die erledigten Fälle trug und sie so weiter würde halten müssen, sondern, da jene Berichte ohnehin kaum weiterer Prüfung bedruften und dies, so sich Furianus dennoch dazu entschloss, eine äußerst ennuyante Arbeit werden und ihnen bereits den Geist würde aufweichen, so dass die tiefgehende Auseinandersetzung mit der Erbsache Helvetius danach nur um so viskoser würde werden. Er blickte seinen Vetter an und bemerkte nun, dass jener nicht gerade den Anschein höchster Konzentration gab, sondern gegensätzlich ein wenig lasch wirkte. Obwohl Gracchus nichts von einem aufsehenerregenden Gerichtsfall bekannt war, so musste doch auch die Routine der Praetoren augenscheinlich recht anstrengend sein, oder aber Furianus war dem einfach nicht gewachsen, doch Gracchus war bestrebt nur das Beste über Felix' Sohn anzunehmen.
"Es geht dabei um das Testament des Caius Helvetius Tacitus. Jener verstarb am sechsten Tag vor den Kalenden des Martius* in Hispania und hinterließ nicht nur zwei Kinder aus seiner Patria potestas, sondern gleichsam ein augenscheinlich erst wenige Tage zuvor verfasstest Testament, welches seine Tochter aus Hispania mit nach Rom brachte. Da keine Gattin bezüglich einer Dos zu berücksichtigen ist, ist die Erbverteilung hinsichtlich des Testamentes nicht unrechtmäßig, doch darin liegt auch nicht die Problematik begründet.
In diesem Augenblick klopfte ein Scriba und melete einen Helvetius Falco, welcher nicht nur den Praetor, sondern auch Gracchus selbst sprechen wollte, eben jener Erbangelegenheit wegen. Verwundert zog Gracchus eine Augenbraue in die Höhe - der Name regte eine leichte Remineszenz in ihm, doch er war sich sicher, dass ein Falco nicht in die Familienstruktur des Helvetius Tacitus mit verwoben war - und blickte ein wenig derangiert zu seinem Vetter, dem Praetor hin.*24.2.
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Aus dem Officium des Scriba weiter geleitet, ließ sich Gracchus bei seinem Vetter, welcher eigentlich sein Neffe war, in einer offiziellen Erbschaftsangelegenheit melden. Vermutlich wäre die ganze Angelegenheit bereits erledigt, hätte er sich statt den offiziellen Weg zu gehen beim Abendessen mit Furianus bezüglich der Arbeit unterhalten, doch Gracchus legte Wert darauf, trotz allem den offiziellen Amtsweg einzuhalten. Nachdem einer der weniger bepackten Scribae angeklopft und ihn mit wenigen Worten bei Furianus gemeldet hatte, betrat Gracchus den Raum und nickte seinem Vetter zu.
"Salve, Furianus."
Das gräumige Officium war geschmackvoll eingerichtet und er fragte sich, ob dies der Verdienst seines Vetters war oder ob jeder Praetor es derart übernahm, wie er es vorfand. Zumindest war es ein einem Magistraten angemessenes Officium und Gracchus sehnte sich bereits nach der Zeit, in welcher er selbst über die niederen Fuß-Ämter hinaus wäre, für welche ihm keinerlei amtliche Räumlichkeit gewährt wurde. Als Quaestor Principis hatte ihm immerin ein Amtszimmer im kaiserlichen Palast zur Verfügung gestanden und womöglich hätte er doch besser die Quaestur wiederholen sollen, anstatt sich um das Vigintivirat zu bemühen, obgleich andere Quaestoren-Ämter den Vorzug der Räumlichkeit ebenfalls nicht boten. Doch es war müßig nun darüber zu sinnieren, so wandte er sich gänzlich wieder seinen Aufgaben und damit seinem Gegenüber zu. Ein subtiles Lächeln kräuselte seine Lippen.
"Wahrlich, dieses Amt steht dir ausgesprochen gut zu Gesichte, Vetter."
Ohne darauf zu warten, dass Furianus ihm dies anbot, denn sein Vetter würde dies zweifellos ohnehin tun, weshalb nichts dagegen sprach dem vorzugreifen, nahm er diesem gegenüber Platz.
"Wie du unschwer erraten wirst, bringen mich die Erbangelegenheiten des Imperium zu dir."
Für alles andere wäre immerhin die Villa Flavia der geeignetere Ort. Der Sklave mit den Schriftrollen trat neben seinen Herrn und hielt sich bereit, diese vor dem Praetor auszubreiten. -
Zitat
Original von Tiberius Caecilius Metellus
"Aha. Dann begib dich doch bitte zum Officium des Praetor Urbanus." sagte er und erblickte schon den nächsten Bittsteller.
"Danke."
Mit seinem kleinen Sklavengefolge - neben jenem, welcher die Übersichten trug folgte ein weiterer mit den Unterlagen zur Erbangelegenheit Helvetius Tacitus et liberi und einer mit den üblichen Schreibutensilien - setzte sich Gracchus in Bewegung um das entsprechende Officium aufzusuchen. -
Nachdem dieser kleine Zwischenfall zu einem Ende gebracht war, legte Gracchus wieder die Fingerspitzen aneinander und blickte zu dem Paedagogus, neben welchem ein Sklave sich anschickte, ihm auf und zurück auf den Stuhl zu helfen.
"Er ist wirklich nicht bösartig, solange man ihn nicht provoziert."
Man mochte dies auf Serenus oder Nero beziehen, doch Gracchus sprach natürlich von dem Hund. Zudem hatte Theodorus das Tier de facto nicht provoziert, doch der Hund eines Patriziers hatte noch immer gewisse Vorrechte vor einem Peregrinus, und mochte Gracchus auch einem bedeutenden Philosophen den Vorzug geben, so galt es ein gewisses Maß an Konvention einzuhalten. Eine dieser Konventionen war es denn auch, endlich zur gegenseitigen Vorstellung zu gelangen, weshalb dies Gracchus ohne weitere Umschweife tat.
"Serenus, dies Theodoros, Sohn des Iosephos von Alexandria, er ist ein äußerst gelehrter Mensch und wird dich künftig an zwei Tagen in der Woche unterrichten. Ich brauche gewiss nicht zu erwähnen, dass ich erwarte, dass du dich schicklich benimmst, auf seine Worte hörst und dich als gelehriger Schüler erweist. Dein Vater legt großen Wert auf deine Bildung, also enttäusche ihn nicht."
Ob der Wertschätzung des Aristides war sich Gracchus nicht gänzlich sicher, doch sein Vetter hatte oft genug erwähnt, dass er nur das Beste für seinen Sproß wünschte, und was konnte besser sein, als Bildung? Wie im Cultus Deorum war auch bei der Kindererziehung augenscheinlich alles nur eine Sache der Auslegung und was der Pontifex wusste, dies brauchte das Volk noch lange nicht zu wissen. -
Dido, Dido ... Gracchus suchte in seinem Gedächtnis nach einem Gesicht, welches er mit diesem Namen verknüpfen sollte, doch vorerst wollte ihm kein passendes dazu einfallen. Natürlich schwebte ihm jene schöne Königin Karthagos vor Augen, welche Aeneas an ihrem Hofe aufgenommen und sich ob der unerwiderten unsterblichen Liebe zu ihm schließlich das Leben raubte, doch viel eher war es wahrscheinlich, dass Serenus von einer Sklavin sprach. Vielleicht von dem Mädchen, welches mit ihm den Raum betreten hatte? Einerlei, war das Malheur doch im Spiel geschehen, so dass es nicht weiter zu verfolgen war. Gracchus winkte ab.
"Ich fürchte, ich wäre kein guter Trainingspartner, ich bevorzuge das Ringen, zudem wäre es äußerst unangemessen, wenn ich mein Amt mit einem blauen Auge verrichten müsste."
Gerade wollte er dazu ansetzen, den Paedagogus vorzustellen, als der Hund entschied, dass der Geruch dessen ihm eindeutig zu weit ging. Mit dem Gewicht eines erwachsenen Mannes und mit der Größe eines Kalbes bewegte sich das Ungetüm auf Theodorus zu, welchem dies ein wenig unangenehm zu sein schien und welcher ob dem Versuch dem Tier auszuweichen den Stuhlboden unter seinem Gesäß verlor. Obwohl Gracchus nichts gegen den Hund hatte - bei den Griechen waren Hunde immerhin äußerst eng in das tägliche Leben integriert gewesen und was konnte schlecht sein, solange es von den Griechen kam? - so konnte er nicht tolerieren, dass das Tier sich benahm, als wäre es der Herr im Haus, selbst da es derzeitig ein wenig wild sein mochte, da Serenus den Hund gegen Minervinas Leoparden abrichtete - ein offenes Geheimnis in der Villa Flaiva, welches Gracchus deplorablerweise noch nicht offen zu Gehör gekommen war, weshalb er vorerst vermied, dies zu unterbinden. Die große Katze seiner Schwester war ihm ohnehin nicht geheuer.
"Serenus! Schaffe den Hund aus meinem Arbeitszimmer, und zwar unverzüglich!"
Sein Tonfall ließ keinerlei Widerworte zu. -
Im Allgemeinen war Gracchus meist zu tief in seinen eigenen Gedanken beschäftigt oder überließ es ohnehin den Sklaven, als dass er je auf ein Klopfen schon im nächsten Augenblick reagiert hätte, doch selbst im Gespräch mit dem Paedagogus, dem nun seine Aufmerksamkeit galt, war er nicht so schnell, nicht einmal nach dem dritten Anklopfen seines Neffen, so dass er erst gar nicht zu einer Aufforderung Einzutreten ansetzen konnte, bevor der Junge bereits im Raum stand. Er bedachte Serenus darum mit einem leicht despektierlichen Blick.
"Lucius Flavius Serenus, hatten wir uns nicht bereits über die Gepflogenheit des Anklopfens unterhalten?"
Mit einem Mal war der Paedagogus völlig vergessen und auch die fehlenden Manieren, denn Gracchus wurde des blauen Auges im Gesicht seines Neffen gewahr. Er versteifte sich unmerklich.
"Komm näher. Woher stammt diese Blessur in deinem Gesicht?"
Die Form um Serenus' Auge passte exakt zu einer Faust. Da ein Faustschlag jedoch nicht zur guten Manier der Erziehung passen wollte, schon gar nicht gezielt aufs Auge, blieb nur die Möglichkeit, dass Serenus außer Haus Prügel eingesteckt hatte. -
Ein flavischer Sklave brachte eine Nachricht und beglich die Beförderungsgebühr mit fünf Münzen aus hellem Messing.
Flavia Minervina, Villa Flavia, Tarraco, Hispania
Heil dir, Schwester in der Ferne, Atalante auf der Reise!
Roma erblüht unter den Fängen des Frühlings, jeden Tag ein Stück mehr, und die ersten Blüten verblassen bereits wieder, doch noch war uns keinerlei Nachricht bezüglich deiner Ankunft in Hispania vergönnt. Vermutlich ist dieses Versäumnis beim Transport der Briefe begründet, dennoch möchte ich dich um eine kurze Meldung deinerseits bitten. Ich hoffe, du bist wohlbehalten in der flavischen Villa zu Tarraco angelangt und wurdest angemessen empfangen.
Das Leben in Roma nimmt seinen üblichen Lauf, einige Ämter werden besetzt, einige genommen, doch nichts das Imperium Bewegendes hat sich kürzlich ereignet. Zu den Equirria des Martius begleitete ich unseren Neffen Serenus zu den Wagenrennen im Stadium Domitiani, ein äußerst trubulenter Tag. Manches Mal kommt der Junge doch sehr nach seinem Vater. Unser Bruder Lucullus befindet sich wieder bei bester Gesundheit, wie auch die übrigen Bewohner des Hauses, und auch unsere Schwester Agrippina, welche ich erst kürzlich wieder im Zuge magistratischer Pflichten am Tempel des Vesta aufsuchte. Da es weiters nichts Neues zu berichten gibt, erlaube mir, das Schreiben hier zu beenden. Dir und den Verwandten in Hispania jederzeit Gesundheit und die Gnade der Götter!
M.F.G.
Sim-Off: Überwiesen.
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Mit der Frage seines Gegenübers fiel Gracchus nun auf, dass er augenscheinlich schlecht auf dieses Gespräch vorbereitet war, denn außer, dass er bemerkt hatte, dass Serenus zu einem vollwertigen Mitglied der Geselllschaft noch einiges an Wissen fehlte, worauf hin er beschlossen hatte, dieser Wissenslücke entgegen zu wirken, wusste er nicht, ob das Wissen des Jungen für einen Neunjährigen ausreichend, durchschnittlich oder überdurchschnittlich war, denn was verstand er von Neunjährigen, da er selbst schon einige Jahre darüber hinaus war, ihm bis zu Serenus' augenblicklichem Entwicklungsstand gleischam neun Jahre fehlten? Er traute Agrippina, der Großmutter des Jungen, durchaus zu, für eine standesgemäß angemessene Erziehung Sorge getragen zu haben, doch andererseits verwöhnte sie ihre Jungen zu gern, als dass er sich dessen über alle Maßen sicher sein konnte. In einer unbewussten Manier begann er mit der Rechten an seiner Unterlippe zu kneten, während er über eine passable Antwort nachdachte. Er war eindeutig noch nicht alt genug, um sich über Knabenerziehung Gedanken zu machen, doch immerhin hatte es den Vorteil, dass er bei seinen eigenen Söhnen später vielleicht weniger Fehler machen würde, obgleich er im Grunde auch nicht wünschte, sich vor Aristides für Fehler an der Erziehung dessen Sohnes rechtfertigen zu müssen. Dies war in der Tat eine äußerst prekäre Situation und im Stillen dachte Gracchus daran, dass er dies Aristides auf dessen Schuldschein bezüglich diverser Gefälligkeiten notieren würde.
"Des Griechischen ist er bereits mächtig."
Zumindest wusste Gracchus darum, dass Serenus griechische Texte lesen konnte, wie es um die Güte seiner Sprachkenntnisse bestellt war, dies stand wiederum auf einem anderen Pergament.
"Über seinen Bildungsstand kann ich dir nur wenig Auskunft geben. Er lebt noch nicht lange hier in der Villa in Rom, wurde zuvor bei seiner Großmutter in Baiae erzogen. Am besten stelle ich dich ihm direkt vor, so können wir dies gleich jetzt in Erfahrung bringen."
Ein Nicken zu seinem Sklaven Sciurus hin, und jener machte sich auf den Weg den jungen Flavius heranzuschaffen. -
Gracchus trat nun selbst an den Scriba heran, verzichtete jedoch, ihn über die detaillierten Aufgaben eines Decimvir litibus iudicandis zu belehren, durch welche bereits erklärt waren, in welcher Angelegenheit er einen Praetor aufsuchen wollte.
"Einerseits geht es um die Ablage des Rechenschaftsberichtes bezüglich der für den letzten Monat bearbeiteten Erbschaftsangelegenheiten, nicht nur Bürger, sondern auch Peregrini betreffend."
Mit einem laxen Wink aus der Hand heraus deutete er auf den Sklaven, der hinter ihm einen ganzen Stapel Schriftrollen trug.
"Zum anderen benötige ich jedoch den Rat speziell des Praetor urbanus hinsichtlich eines delikaten Erbfalles, einen Bürger des Imperium betreffend. Wie unschwer zu vermuten, geht es dabei um die Verteilung der Erbmasse." -
Ihr Bruder begrüßte sie mit einem ebenso erfreuten Lächeln auf den Lippen.
"Salve, Agrippina. Erneut führt mich die Lectio und die nachfolgenden Erbschaftsfälle zu dir. So deplorabel dies auch ist, doch gestorben wird immer, und so makaber es klingen mag, mir versüßt es meinen Weg durch den Cursus Honorum, denn nichts ist mehr fastidös, als ein in Untätigkeit vertaner Tag."
Er ließ sich die Liste mit den Namen der Verstorbenen reichen und gab sie an Agrippina weiter.
"Ich möchte dich bitten, auch zu diesen Namen die Existenz eines hinterlegten Testamentes zu prüfen."~ Marcus Annaeus Metellus
~ Marcus Artorius Uranius
~ Lucius Caecilius Catilius
~ Caecilia Marcella
~ Titus Claudius Imperiosus Iulianus
~ Sextus Germanicus Sollianus
~ Lucius Helvetius Caesoninus
~ Caius Iulius Palladius
~ Iulia Verina
~ Manius Iunius Macro
~ Lucius Matinius Macro
~ Marcus Pompeius Scipio
~ Aulus Sabbatius Philippus
~ Caius Terentius Brutus -
Seine erste Liste mit Erbangelegenheiten hatte Gracchus endlich abgeschlossen, bis auf den Fall Helvetius Tacitus et liberi, darum kam er nicht nur zur Basilica Iulia um den Praetoren Rechenschaft abzulegen, sondern gleichsam um Rat in jenem speziellen Fall einzuholen, denn es fehlte ihm das notwendige juristische Feingefühl, um das zugehörige Testament ohne Bedenken umzusetzen. Gleichsam brauchte er sich deswegen nicht allzu sehr zu sorgen, würde die Angelegenheit doch in der Familie bleiben, denn sein Weg führte ihn zu seinem Vetter Furianus, welcher eigentlich sein Neffe zweiten Grades war, doch da jener nun das Amt des Praetor urbanus inne hatte, würde sich Gracchus nur unbotmäßig alt vorkommen ihn als Neffen zu betiteln, wobei er doch zudem jünger war als Furianus. Auf dem Weg zu seinem Vetter, der eigentlich sein Neffe war, sann Gracchus darüber nach, ob er jenen ganz offiziell mit Praetor Flavius ansprechen sollte, doch da er auch weder seinen Vetter Felix, noch eben jenen Neffen Furianus bisweilen nie als Senator Flavius angesprochen hatte, beschloss er, dass dies sicherlich kaum von Notwendigkeit war, selbst in offiziellem Anliegen nicht. Dennoch bereitete es ihm eine geradezu kindliche Freude, über eine Ankündigung mit einem Hinweis bezüglich des Onkel-Neffen-Verhältnisses nachzudenken, doch schließlich ließ er sich von seinem Sklaven nur in ganz gewöhlicher Art und Weise melden.
"Der Decimvir litibus iudicandis Flavius ersucht um ein Gespräch bei Praetor urbanus Flavius." -
Erneut brachte ein Bote aus dem Hause Flavia eine Nachricht für die Dame Helvetia Severina.
Helvetia Severina, Casa Helvetia, RomaDecemvir litibus iudicandis Manius Flavius Gracchus Helvetiae Severinae s.p.d.
Mit großem Bedauern muss ich dir mitteilen, dass zwar die Erbangelegenheit Caius Helvetius Tacituset liberi an sich nicht korrekt durchgeführt wurde, das Faktum jedoch, dass dein Bruder Gnaeus Helvetius Tranquillus verstorben ist, den Tatsachen entsprach. Sein Tod wurde durch die Ala II Numidia aus Germania für den zehnten Tag vor den Kalenden des Martius* nach Rom gemeldet. Aufgrund der Tatsache, dass die Bearbeitung des Erbfalles Helvetius Tranquillus erst nach der Meldung bezüglich des Todes des Helvetius Tacitus getätigt wurde, geriet die Bestimmung der Erbfolge durcheinander, wofür ich nochmals um Verzeihung bitten möchte.
Nach erneuter Überprüfung wurde die Erbverteilung folgendermaßen bestimmt: Das Erbe des Gnaeus Helvetius Tranquillus fällt aufgrund dessen Familienstand zum Todeszeitpunkt gänzlich an den Besitzer Caius Helvetius Tacitus zurück, welchem zu diesem Zeitpunkt die Patria Potestas über seinen Sohn oblag. Das Vermögen des Gnaeus Helvetius Tranquillus fließt damit in jene Erbmasse ein, welche Caius Helvetius Tacitus bei seinem Tod vier Tage später hinterließ und für deren Verteilung er testamentarisch Sorge trug.
M.F.G.
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Gracchus entrang sich ein beinahe unmerkliches Nicken, bezog er ihren Dank doch längst nicht mehr auf die Erwähnung derjenigen Geschehnisse aus seiner Vergangenheit, sondern einzig auf die Einweihung in seine Eheprobleme. Wie ein schattenhaftes Gespenst, die Schultern nicht hängend, doch ebenso wenig gestrafft wie üblich, schlich er aus dem Raum, zog die Tür leise hinter sich zu und ließ Leontia mit ihren eigenen Gedanken zurück, so wie er selbst einige Herzschläge voller Gedanken auf dem Gang verblieb. Bereits hier wurde ihm bewusst, dass all die Dinge, die sie ihm geraten hatte, trotz allem ein großes Maß an Überwindung würden fordern. Doch er war gewillt, dies auf sich zu nehmen, denn war erst einmal der erste Erbe in Aussicht, so wäre das Leben sicherlich ein wenig einfacher. Voller Entschlossheit trat er schließlich den Weg zu seinem Cubiclum an und ließ von ungewohnt optimistischer Aussicht beschwingt das Cubiculum seiner Gattin dabei wieder einmal unbeachtet.
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Der Sohn war also noch vor dem Vater verstorben, so dass nicht die Geschwister als Erben eingesetzt wurden, sondern das Vermögen dem rechtmäßigen Besitzer, respektive dem Vater zuging, welcher selbst wiederum vor seinem eigenen Tode seine Erbverteilung testamentarisch geregelt hatte. Der Fehler hatte also nicht etwa bei einem dilettantischen Scriba im Zuge der Abschrift gelegen, sondern vielmehr bei jenem, welcher die Verwandtschaftsverhältnisse geprüft hatte und welchem nicht aufgefallen, dass der Vater erst wenige Tage nach dem Sohn und nicht etwa schon zuvor verstorben war. Begleitet von einem leichten Aufkommen von Unbehaglichkeit in seiner Magengegend hob Gracchus seine Hand und begann an seiner Unterlippe zu kneten, darüber sinnierend, ob er dies nicht womöglich selbst gewesen sein konnte. Unzweifelhaft war er dies selbst gewesen, war die Prüfung der Abstammung der Verstorbenen doch die einzig interessante Tätigkeit seiner Arbeit, da er dabei völlig ungeniert in die Stammbäume anderer Familien Einsicht nehmen konnte. Wie unsäglich unangenehm, nicht nur, dies vor sich selbst einzugestehen, sondern um so mehr die Aussicht darauf, jenes Eingeständis der jungen Helvetia mitteilen zu müssen.
"Ich brauche eine Abschrift von beiden Tabulae."
"Gewiss. Hast du den Passierschein A38 dabei?"
"Bitte was?"
"Den Passagierschein A38? Andernfalls darf ich dir keine Abschrift mitgeben."
"Bitte wie? Ich bin Decemvir litibus iudicandis, ein Magistrat im Auftrag Roms, es ist meine Aufgabe, für die Verteilung des Erbes der Verstorbenen zu sorgen und dafür benötige ich die Information über Todeszeitpunkt und Famililenstatus. Weiters habe ich diese Information ohnehin bereits und möchte nur eine schriftliches Duplikat der Angaben."
"Richtig, und das ist der stehende Punkt. Die Information kann jeder haben, aber um sie aus dem Tabularium hinaus zu tragen, dafür benötigst du den Passierschein A38."
"Springend ...", korrigierte Gracchus murmelnd und begann sich gleichsam mit den Fingern über die Nasenwurzel zu reiben. Verwaltungsbürokratie war ihm schon immer ein Graus gewesen, weswegen er für gewöhnlich dies auch den Sklaven überließ, doch obwohl er durchaus die Notwendigkeit einer strukturierten Ordnung schätzte, so war er nicht bereit das Archiv ohne eine Abschrift der Tafeln zu verlassen und auch nicht, sich voher mit Formalititäten verwaltungstechnischer Art aufzuhalten. Er blickte den Archivar durchringend an und senkte ein wenig seine Stimme, so dass ihr Laut kaum weit durch die Gänge hallen würde.
"Es gibt zweierlei Möglichkeiten, wie ohne diesen Passierschein zu verfahren ist. Die erste ist diejenige, dass ich dieses Gebäude mit einer Abschrift der beiden Tabulae in meinen Händen verlasse und dabei ein paar Münzen auf deinem Tisch vergesse, denn deine Mühe soll schließlich nicht umsonst sein. Die andere ist diejenige, dass ich heute mit leeren Händen nach Hause zurück kehren, dich jedoch morgen in deinem Fass auf der Rostra besuchen werde, wo du nach einer kalten Nacht die warmen Strahlen der Frühjahrssonne genießt. Die Entscheidung liegt ganz bei dir."
Stille legte sich über den Raum, beinahe konnte man den feinen Staub rieseln hören, welcher sich unablässig auf den Tabulae und Regalen nieder ließ, um selbst die Erinnerung an die Verstorbenen zu bedecken. Die Flammen der Öllampen flackerten in einem feinen Lufthauch und ließen die Schatten der beiden Männer gespenstig durch das Archiv wandern. Störrisch schob der alte Mann sein Kinn vor, senkte schlussendlich jedoch seinen Blick.
"Wie du wünschst, Decemvir litibus iudicandis."
Mit hoch erhobenem Kopf stapfte der Archivar an Gracchus vorbei dem Ausgang zu. Der Decemvir ließ den unmerklich angehaltenen Atem entweichen und dankte den Göttern für die Einsicht des Mannes, welche ihm eine weitaus schwerwiegendere Entscheidung erspart hatte. Wenig später verließ er das Tabularium um ein paar Sesterzen ärmer, dafür um zwei Abschriften und eine Erkenntnis reicher - diejenige, dass er zukünftig wieder seinen Sklaven schicken würde.