Beiträge von Manius Flavius Gracchus

    Da ihm ohnehin nichts weiter übrig blieb, ließ Gracchus seinen Blick durch den Raum schweifen und versuchte abzuschätzen, wieviele Tabulae in den Regalen im gesamten Raum stehen mochten. Da er sich dieser Aufgabe gegenüber jedoch unfähig sah, begann er die Tabulae in einem einzelnen Regal zu zählen, um davon ausgehend die Schätzung über die Zahl der Regale erneut zu wagen. Als er in etwa im unteren Drittel der Einteilungen angelagt war und sich ein Teil seines Selbst bereits fragte, ob der Archivar möglicherweise auf der Suche im Archiv verstorben war, schallte dessen krächzende Stimme zwischen den hölzernen Wachstafeln hindurch.
    "Beide tot!"
    Aus der Zählung gebracht glaubte Gracchus erst, sich verhört zu haben.
    "Wie bitte?"
    Seine Stimme hallte durch das Archiv und wurde von den Gängen verschluckt.
    "Viertes Regal links!"
    Die Angelegenheit derangierte Gracchus und er blinzelte ohne sich einen Schritt zu rühren. Die Stimme des Archivars erklang noch einmal, etwas lauter und fordernder.
    "Ich bin im Gang hinter dem vierten Regal links, wenn du dich vielleicht hierher bemühen könntest, Decemvir litibus iudicandis?"
    Ein äußerst subtiles Seufzen entrang sich Gracchus' Kehle, bevor er die Regale abzählte und nach dem vierten zur Linken in den Gang einbog. Nach jedem Regal folgte ein rechtwinkling abzweigender Zwischengang und an jeder so entstandenen Kreuzung war eine kleine Öllampe aufgestellt, welche den Weg beleuchtete, doch glücklichwerweise kam der Archivar recht bald in Sicht und wedelte bereits mit zwei Tabulae. Einen Augenblick lang fragte sich Gracchus, weshalb der Mann nicht einfach mit den beiden Tabulae zum Eingang gekommen war, doch er verzichtete auf eine Nachfrage.
    "Sie sind beide tot."
    Eine unverschämte Freude haftete der Stimme des Archivars an, als wäre er zum Saturnalienkönig gekrönt worden, doch vermutlich hatte er selten Erfolgserlebnisse, weshalb Gracchus auch darüber hinweg sah.
    "Gnaeus Helvetius Tranquillus, ANTE DIEM X KAL MAR DCCCLVII A.U.C., wie du gesagt hast, und Caius Helvetius Tacitus auch, aber erst ANTE DIEM VI KAL MAR DCCCLVII A.U.C."
    Verwundert nahm Gracchus die beiden Tabulae und betrachtete den Inhalt.
    "Bist du dir ganz sicher, dass diese Information korrekt ist?"
    Beleidigt zog der alte Mann Gracchus die beiden Tafeln aus den Händen und unterstrich seine folgende Worte damit, dass er auf die entsprechenden Eintragungen und Siegel wies.
    "Natürlich, hier steht es doch. Helvetius Tranquillus wurde von der Ala II Numidia aus Germania gemeldet. Das Militär macht keine Fehler. Und Helvetius Tacitus wurde direkt von den Behörden aus Tarraco angegeben. Warst du schomal in Hispania? Die Bürokraten dort machen noch weniger Fehler als das Militär."
    "Gibt es eine Eintragung, ob Tranquillus zum Zeitpunkt des Todes noch unter der Patria Potestas seines Vaters stand?"
    Sicherlich gab es eine Eintragung und hätte der Archivar ihm nicht bereits die Schriftstücke entrissen, so hätte Gracchus dies selbst nachsehen können. Im Grunde hätte er ohnehin ob dieser Dreistigkeit empört sein sollen, doch er vergaß dies völlig aufgrund der veränderten Sachlage im Erbfall Gaius Helvetius Tacitus et liberi. Der Archivar dagegen wurde langsam ungeduldig ob der Tatsache, dass er dem Decemvir alles einzeln aufzeigen musste, die Magistrate der Stadt waren augenscheinlich auch nicht mehr das, was sie einst waren.
    "Natürlich, hier steht es doch."

    Die meisten Archive hatten die deprimierende Angewohnheit in dunklen Räumen ohne viel natürliches Licht untergebracht zu sein, angefüllt mit Regalen über Regalen, die ihrerseits wiederum bis unter das letzte Brett mit Schriften über Schriften, Tabulae, Pergamenten oder Papyrii gefüllt waren. Das Tabularium zu Rom war sicherlich eines der größten Archive der Welt überhaupt, viele Informationen lagerten in den großzügigen, hellen Räumlichkeiten, doch jener Archivbereich, in welchen man Gracchus ob seines Anliegens weiter geleitet hatte, lag in den Kellerräumen des Gebäudes und entsprach daher genau jener Art von deprimierendem Archiv. Dass dort die Todeslisten des Imperium für ein Jahr aufbewahrt wurden und die daraus resultierende Tatsache, dass auf tausenden von Wachstafeln nur die Namen verstorbener Römer und Römerinnen konserviert wurden, dies machte einen Besuch dort ebenfalls keineswegs angenehmer. Doch ein Mann musste tun, was er tun musste, ein Decemvir litibus iudicandis musste Erbschaftsangelegenheiten bearbeiten, und Erbschaften hinterließen für Gewöhnlich nur jene, welche zuvor verstorben waren, weshalb Gracchus sein Weg in eben jenes Archiv führte. Für gewöhnlich sandte er seinen Sklaven um die Listen zu besorgen, doch der Fall Gaius Helvetius Tacitus et liberi erforderte eine besondere Vorgehensweise. Der Archivar, welcher an einem schmalen Tisch neben dem Eingang in eine Abschrift vertieft war, komplettierte das Bild des verstaubten Archives voller Verstorbener, obleich das Zucken seines Mundwinkels darauf schließen ließ, dass er tatsächlich noch lebendig war. Gracchus räusperte sich.
    "Salve, guter Mann. Ich bin Decemvir litibus iudicandis Flavius Gracchus und ich benötige Einsicht in die Akten."
    Der Alte blickte nicht einmal auf, nickte nur unscheinbar mit dem Kopf in den Raum hinein, wo die dämmrigen Gänge zwischen den Regalen sich wie der Schlund der Charybdis auftaten, welcher nur darauf wartete, einen Vigintivir auf seiner Odyssee in sich zu verschlingen. Ein wenig brüskiert blickte Gracchus dem Nicken nach und seine linke Braue wanderte in einer Manier in die Höhe, wie dies nur bei Patriziern möglich ist, die gleichermaßen despektierliches Missfallen wie Mitleid über die Einfalt ihrer Umgebung zum Ausdruck brachte. Er räusperte sich noch einmal und legte eine ungewohnte Schärfe in seine Stimme.
    "Decemvir litibus iudicandis Flavius Gracchus, falls du mich nicht verstanden haben solltest, und ich wiederhole mich nur ungern. Ebenso wie ich nur ungern auch nur ein einziges dieser Regale nach einem Namen absuchen würde, welchen du mir auf Anhieb heraussuchen kannst, denn viel eher würde ich dafür Sorge tragen, dass du die letzten Jahre deiner Existenz in einer viel lebensbejahenderen, lichten Umgebung verbringen würdest - draußen in einem Fass neben den Treppenstufen vor der Rostra beispielsweise."
    Der alte Mann erhob schließlich seinen Blick und raffte sich auf.
    "Verzeih, Herr. Welchen Namen suchst du?"
    Die Bitte um Verzeihung klang nicht sehr aufrichtig, doch Gracchus hatte eine dringlichere Angelegenheit zu kären, als sich über die Unfähigkeit eines Archivars zu echauffieren.
    "Es geht um den Todesfall des Caius Helvetius Tacitus, welcher auf der Liste der Lectio nicht verzeichnet war. An seiner Statt fand der Name seines Sohnes Gnaeus Helvetius Tranquillus seinen Weg auf die Liste."
    Als wäre er nicht ganz bei Sinnen blickte der Archivar ihn an und schüttelte den Kopf auf eine nachsichtige Weise.
    "Das ist nicht möglich. Kein Name landet auf dieser Liste, ohne dass der zugehörige Bürger auch wirklich verstorben ist."
    "Dann geh, und prüfe den Eintrag. Der Name ist Caius Helvetius Tacitus oder Gnaeus Helvetius Tranquillus, das zugehörige Todesdatum ANTE DIEM X KAL MAR DCCCLVII A.U.C.."
    Gracchus hegte das Gefühl, der Mann wolle ihn nun sekieren, da er ihn in seiner Ruhe gestört hatte, doch da sich der Archivar schlurfend auf den Weg zwischen die Gänge machte, unterdrückte er seinen Ärger und wartete ungeduldig am Eingang des Archives.

    Nur ein unmerkliches Aufleuchten in Gracchus' Augen kündete von der Begeisterung, welche in seinem Inneren über den durch die Wogen der Fortuna an die Gestade der Flavia angespülten Paedagogus erwuchs. Zwar widerstrebte es ihm, den erstbesten Submittenten einzustellen, der sich ihm vorstellte, doch wenn jener Mann hielt, was er versprach, so würde er in Rom kaum einen zweiten seiner Qualität finden, ohne ihn von irgend einer anderen Familie abzuwerben. Seine größte Sorge dabei galt einzig der Tatsache, dass er genau wusste, dass er künftig selbst die ein oder andere Arbeit aufschieben und sodann die banalsten Vorwände würde suchen, um in der Nähe der Ausbildung seines Neffen zu verweilen, denn wie sehr sehnte er sich manches mal nach einem verständigen Geist im Hause, welchem nicht nur das Wohl des römischen Staates am Herzen lag, sondern gleichsam auch die die Welt umfassenden Gedankengebäude. Gracchus war bereits dabei, sich über die Parallelen des Plato zu Polybius Gedanken zu machen, als Theodorus aus eigenem Antrieb von jenem Themengebiet abwich, und so auch Gracchus sich schlussendlich wieder auf das eigentliche Anliegen besann.
    "Es wird sich sicherlich Zeit finden, die Parallelen zwischen Plato und Polybius zu erörtern."
    Jene Conventi kamen ihm in den Sinn, welche vor nun bereits länger zurückliegender Zeit feingeistige Menschen zusammen gebracht hatten, um über sich Schönheit und Kunst auszutauschen, wobei bisweilen nur fassbare Werke Beachtung gefunden hatten, doch mit einem Philosophen in ihrer Mitte würde sicherlich auch ein schriftliches Werk bei solcherlei Anklang finden.
    "Ich erwarte, dass du zwei mal in der Woche hier erscheinen wirst. Wie du dir die Zeit zwischen Roma und Ostia koordinierst, bleibt dir überlassen. Wenn ich jedoch feststellen muss, dass du ob deiner anderen Verpflichtungen die Bildung meines Neffen vernachlässigst, wirst du deine Anstellung in diesem Hause schneller aufgeben, als du Kalokagathia buchstabieren kannst. Für den Anfang erhältst du 75 Sesterzen pro Woche, sollte deine Ausbildung mehr wert sein, so können wir nach gegebener Zeit, währenddessen ich dies beurteile, erneut in Verhandlung treten. Weiters steht dir für notwendige Literatur unsere Bibliothek zur Verfügung, was du dort nicht findest und dennoch für notwendig erachtest, werden wir besorgen."
    Gracchus sah bereits die Liste mit Schriften vor seinem geistigen Auge, welche unabdingbar für die Bildung eines jungen Mannes waren und damit notwendigerweise angeschafft werden mussten, gleichsam endlich die flavische Bibliothek ein wenig würden ausweiten, die zwar so viele Schriften fasste wie kaum ein Haus in Rom, doch für Gracchus' Geschmack noch immer zu wenig.

    Nachdem Helvetia den Raum verlassen hatte, trat Gracchus von der Türe weg zu dem Sklaven heran, welcher die Hummel entsorgt hatte, blieb vor ihm stehen und musterte ihn regungslos. Dann hob er jählings seine Hand, zog den Handrücken hart über das Gesicht des Sklaven.
    "Stümper! Du hättest sie aus dem Zimmer bringen sollen! Warum müsst ihr Sklaven gar immer alles vernichten, was euch zwischen die Finger kommt?"
    In einer ruckartigen Bewegung hob er noch einmal an, als wolle er den Sklaven erneut schlagen, ließ jedoch von ihm ab und drehte sich fort.
    "Das widert mich an - du widerst mich an! Geh mir aus den Augen, bevor ich mich vergesse!"
    Mit aufeinander gepressten Kiefern trat Gracchus zu dem Fenster, aus welchem der Sklave das tote Insekt geworfen hatte und suchte mit seinem Blick den Boden davor nach dem kleinen, pelzigen Leichnam ab, bis er ihn unter einer weißfarbenen Blume entdeckte, die ihre frischen Frühlingsblüten zum Himmel empor reckte. Seit Milo den Vilicus der Villa des öfteren von seinen Aufgaben abzog, schienen die Sklaven ein allzu laxes Leben zu führen.

    Gracchus quittierte die Antwort mit einem Nicken, er hatte ohnehin nicht erwartet, dass der Tiberier mit wenig Sklaven gekommen war, doch Gracchus zählte es zu seiner Pflicht als Gastgeber, dass die Gäste sicher nach Hause gelangten, und er würde dieser Pflicht im Bedarfsfall nachkommen, die Sklaven der Flavia waren immerhin bestens dafür ausgebildet, ihren Weg auch des Nachts unbeschadet zurück zur Villa zu finden.
    "Nun gut, so danke ich dir für dein Kommen, Tiberius. Es war mir eine ausgesprochene Freude, dich als Gast in unserem Hause empfangen zu dürfen."
    Es war mitnichten pure Gastgeberpflicht, welche Gracchus zu solcherlei Worten veranlasste, hatte er das nach dem Mahl anschließende Gespräch mit Durus doch tatsächlich überaus genossen.

    Die Hände vor sich auf dem Tisch liegend, die Fingerspitzen aneinander gelegt, musterte Gracchus das subalterne Verhalten des Bewerbers. Seine einzige Erfahrung mit Hauslehrern beruhte auf jenen zahllosen Stunden, welche er selbst in kindlichen und jugendlichen Jahren mit eben solchen in Achaia verbracht hatte, und von den dortigen Paedagogi war jener Mann nicht gar allzu weit entfernt, als dass er ihn auf Anhieb des Raumes verwiesen hätte. Als Theodorus sich wieder aufrichtete, wies Gracchus mit einer freundlichen Miene auf einen der Stühle.
    "Salve, Theodoros, Sohn des Iosephos von Alexandria. Es ist mir ebenfalls eine Freude, dein Bekanntschaft zu machen, bitte nimm doch Platz."
    Sogleich eilte ein eifriger Sklave herbei, um Theodorus etwas zu Trinken einzuschenken und ihm anzubieten, Gracchus begann indess ohne Umschweife, denn sollte sich jener Mann als Hochstapler herausstellen, so war es besser er tat dies früher, denn unnötige Zeit zu vergeuden.
    "Da du hier bist, gehe ich davon aus, du schätzt dein Wissen als ausreichend ein, um einen Spross dieses Hauses zu unterweisen. Jener junge Mann, welchen dies betrifft, ist Lucius Flavius Serenus, Sohn meines Vetters Flavius Aristides. Er ist neun Jahre alt, besitzt eine solide Gundbildung und einen äußerst aufgeweckten Geist, der weiter geschärft werden soll. Welche Referenzen kannst du vorweisen, Theodorus, Sohn des Iosephos von Alexandria? Hast du an einer der Akademien studiert? In welchen Familien hast du zuvor bereits unterrichtet?"

    Obwohl immer gestorben wurde, wurde nicht immer ein Erbe hinterlassen, geschweige denn musste dies auf- und verteilt werden, so dass es Tage in der Amtszeit eines Decemvir litibus iudicandis gab, in welchen nur mäßig viel Arbeit wartete. Den Vormittag über hatte Gracchus Todeslisten bearbeitet und Sciurus aufgetragen, welche Erbberechtigungen nachzuprüfen waren, was eine äußerst ennuyante Arbeit darstellte, beinahe ebenso ennuyant wie die Vermögensverwaltung der Familie, welcher er sich augenblicklich widmete, als ein Sklave eintrat und einen Submittenten bezüglich der Anstellung als Paedagogus meldete.
    "Theodoros Iosephos von Alexandria, Herr, er kommt wegen der ausgeschriebenen Stelle als Lehrer."
    Zuerst hatte Gracchus die Auswahl eines geeigneten Paedagogus seinem Sklaven Sciurus überlassen wollen, doch schließlich übernahm er dies doch lieber selbst, da es das erst Mal war, dass er solcherlei tat und deswegen auch nicht darum wusste, wie unsäglich langwierig und umständlich sich eine solche Auswahl gestalten konnte.
    "Nun denn, lass ihn eintreten."
    Der Sklave tat eben dies und bat den Gast herein.

    Als wäre dies eine ehrbare Villa, der Raum ein vornehmes Triclinium und Quintus Tullius ein honoriger Gastgeber zog Gracchus in einer unbeschwerten Bewegung den Stuhl zurück und nahm an dem einfachen Tisch Platz, auch wenn das Mahl nicht unbedingt als frugal gelten konnte. Die Verhöhnung seines Lebensweges jedoch, gleichsam seines gesamten Daseins verstimmte ihn erneut.
    "Du pauschalisierst schon wieder, mein lieber Bruder, und ich assekuriere dir, ich finde keinen Gefallen daran, wenn du mich dieserart sekierst. Es mag in deinem Ermessen liegen, dies zu tun, doch es wird schlussendlich zu nichts anderem führen, denn Schweigen."
    Er brach ab, als sein Zwilling begann für einen unmerklichen Augenblick an seiner Unterlippe zu kneten, denn dies war eine Gestik, die ihm von sich selbst solchermaßen vertraut schien, dass sie ihn beinahe schon allein durch das bloße Zusehen zum Nachdenken bewegte, und so folgte denn seine Antwort mehr unbewusst und beiläufig.
    "Derzeitig habe ich das Amt eines Decemvir litibus iudicandis inne. Aufgrund der Gesetzesänderungen hole ich mein Vigintivirat nach, nachdem ich bereits zuvor die Quaestur abgeleistet habe. Zwischenzeitlich und auch zuvor stand ich jedoch im Dienst des Cultus Deorum."
    Um dem sinnierenden Blick seines Spiegelbildes zu entgehen, nahm Gracchus einen Schluck Wein, betrachtete forschend die rotfarbene Flüssigkeit in dem einfachen Gefäß und kam schließlich doch nicht umhin, seine Aufmerksamkeit wiederum Tullius entgegen zu bringen und über dessen Worte nachzudenken. Wie oft hatte er seinem Bruder Animus den Tod gewünscht, war fest davon überzeugt gewesen, ihm selbst den Dolch in sein Fleisch stoßen zu können, wäre er ihm vor Augen getreten, doch tief in seinem Inneren wusste Gracchus sehr genau, dass er niemals fähig dazu gewesen wäre, dass es eine große Erleichterung gewesen war, dass Fortuna selbst dafür Sorge getragen hatte, gleichsam spürte er noch immer den leichten Schmerz über den verlorenen Bruder, nicht nur verloren an die verderbliche Sekte, doch gleichsam verloren an das Leben, obwohl er ihn kaum gekannt hatte. Auch Quintus Tullius kannte er nicht, doch was immer er auch tun würde, allein der Gedanke an Brudermord - mochte er im Blut der Römer auch fest verankert sein - war ihm ein Gräuel und die Tatsache, dass er sich über seinen eigenen Anblick würde hinwegsetzen müssen, unvorstellbar. Womöglich würde er dafür Sorge tragen, dass Quintus Tullius nicht mehr Manius Gracchus sein konnte, würde sein individuelles Abbild einzig für sich allein fordern, doch es gab andere Wege dies zu erreichen, als den Tod.
    "Vielleicht ...",
    war darum sein einziges diesbezügliches Wort, obleich es 'niemals' hätte lauten sollen, bevor er zu dem weichen Fladenbrot auf dem Brett vor sich griff und sich ein Stück davon abriss. Stille legte sich über den dunklen Raum, nur fern war das schwere Schlagen einer Türe aus einem der Gänge zu vernehmen und Gracchus hörte die kauenden Bewegungen seiner Kiefer in seinen Ohren, dann das Schlucken und schließlich vollkommene Stille. Die Villa Flavia war kein Ort des hektischen Lebens, viele ihrer Bewohner traf man höchst selten auf einem der Gänge an, einzig der junge Serenus belegte sie ab und an mit lautem Kinderlärm, doch gleichsam wie sehr sich die vielen Sklaven bemühten, niemals war es völlig still, immer waren von irgendwo Fußtritte zu vernehmen, immer raschelte es, rauschte es von irgendwo her und wenn dies nur aus der hektischen Stadt vor ihren Toren hinein wehte. Einen Augenblick darum saß Gracchus nur da, blickte über den tanzenden Lichtschein auf dem Tisch, sog die Stille in sich ein, die so sehr nach Achaia klang, und ein feines, wehmütiges Lächeln begann seine Lippen zu kräuseln, denn die Remineszenz an einen fernen Abend tat sich in ihm auf, einen Abend auf dem kleinen Landgut, beinahe zu klein um als Gut zu gelten, beschlossen von einem kargen Mahl mit Brot, Käse und einfachem Landwein, ein Abend mit Caius. Es stieg die Frage in ihm auf, ob wohl Quintus diesen Platz hätte eingenommen, nicht in identischer Weise, doch similär, wären sie nicht einander entrissen worden, ob es wohl jener Umstand gewesen war, der jene Leere in ihm geschaffen hatte, dass das Drängen in ihm diese Leere zu füllen so gewaltig gewesen war, und es war dieser Gedanke, der ihn dazu brachte, von seiner, von ihrer Familie zu berichten. Doch seine Stimme blieb nachdenklich, sein Blick mied den seines Zwillings, war auf einen Punkt gerichtet, der weit unter der Tischplatte lag und wenig mit ihr gemein hatte, der nur in seinem Geist existierte.
    "Deplorablerweise wirst du unsere Schwester Minervina nicht antreffen, sie ist erst vor einigen Tagen zu einer Reise nach Hispania aufgebrochen. Auf deine Schwester Agrippina dagegen wirst du nur treffen, wenn du dich zum Tempel der Vesta begibst, sie ist die Virgo Vestalis Maxima."
    Die Erwähnung des Amtes brachte wie immer ein wenig Stolz in Gracchus' Stimme, war Agrippina doch die einzige, derentwegen er sich in der Familie keinerlei Sorgen machte, da sie längst mehr erreicht hatte, als alle ihre Geschwister zusammengenommen. Nun war es an ihm, in unbewusster Manier die Hand zu heben und an seiner Unterlippe zu kneten.
    "Sie ist nur unwesentlich älter als wir beide und wurde schon früh in den Dienst der Vesta bestellt, doch womöglich ..."
    Er stockte, in seinen eigenen Erinnerungen gefangen. Es gab einige verschwommene Fetzen in seinem Gedächtnis, Erinnerungen an gemeinsames Spiel mit seiner Schwester, obgleich sie beide noch sehr jung gewesen waren. Ein Bruder tauchte dabei nicht auf, doch womöglich war jener nur aus dieser Erinnerung gefallen, da es später keine Erklärung mehr für ihn gegeben hatte. Doch Sracchus schüttelte nur leicht den Kopf, und fuhr fort.
    "Deinen Bruder wirst du im Haus antreffen, Quartus Lucullus. Er wuchs in Oberitalien auf, trat schließlich dem Cultus Deorum bei, wie unser Vater dies für ihn vorsah. Wir kennen uns wenig, nur aus belanglosen Briefen und kurzen Gesprächen. Er wird kaum etwas bemerken, manchesmal hege ich den Verdacht, er nimmt es mir übel, dass ich ..."
    Wieder stockte er, blickte für einen winzigen Augenblick auf und Tullius nachdenklich an, schüttelte jedoch wieder nur den Kopf und winkte ab.
    "Belanglosigkeiten. Es wird ihm nicht auffallen, dass ich nicht mehr ich selbst bin. Dies war schon die Familie, ich... wir hatten noch einen Bruder, wesentlich älter als wir beide, doch er verstarb vor Jahren. Weiters lebt in der Villa unser Vetter Secundus Felix, sicherlich wirst du seinen Namen kennen, er ist der Herr des Hauses, doch er lebt recht zurückgezogen. Seine beiden Söhne, Lucius Furianus und Titus Milo, sieht man beinahe ebenso wenig. Furianus wurde erst kürzlich in den Senat erhoben und hat darum viele Pflichten, sein Bruder verreist immer wieder für mehrere Tage. Die Kinder unseres Vetters Marcus Aristides, Felix' Bruder, leben ebenfalls in Rom während ihr Vater seinen Dienst in der Legion in Mantua verrichtet. Dies sind seine Tochter Arrecina und sein Sohn Lucius Serenus. Von all diesen wird ebenfalls niemand Verdacht schöpfen, wenn du ihnen gegenüber trittst, die Bindungen innerhalb der Flavia sind nicht sonderlich ausgeprägt. Vorsehen musst du dich vor unserer Base Leontia, eine äußerst kluge, eloquente junge Frau, und wenn du ihren Argwohn weckst, so bin ich sicher, wird sie urgieren und einen äußerst unauffälligen Weg finden, ihren Verdacht zu prüfen. Und schließlich Caius Aquilius, mein ... unser Vetter."
    Seine Stimme wurde von einem sublimen sanften Hauch unterwandert, der einem feinsinnigen Geist wohl auffallen würde.
    "Er ist derjenige, der deinem Spiel die meiste Gefahr bringt, denn er ist es, der mich von allen am besten, der mich von allen einzig kennt, meine Sprache, meine Gestik, meine Gedanken. Wir wuchsen zusammen auf, wurden gemeinsam in Achaia erzogen, er kennt jedes Detail meines Wesens. Die übrigen magst du täuschen, doch ihn ... wenn du ihn überzeugen kannst, ich zu sein, dann kannst du wahrlich mein Leben behalten."
    Allein der Gedanke daran, dass Caius dieser Täuschung würde erliegen können, zog ihm das Herz zusammen. Er war versucht Tullius zu bitten, Aquilius aus dem Weg zu gehen, doch was würde diesem eine Bitte schon bedeuten, vermutlich würde ihn dies nur um so mehr dazu antreiben, die Konfrontation mit Aquilius in sein Spiel einzubinden. Er hatte bereits zu viel gesagt, so griff Gracchus erneut nach dem Brot.

    Natürlich konnte Gracchus dem nur zustimmen, doch waren Söhne noch nicht mit der Schließung einer Ehe garantiert, eine Erfahrung, welche er zu seinem Leidwesen selbst lernen musste.
    "Hm."
    Er griff nun doch erneut zum Weinbecher und trank behäbig einen Schluck um Zeit zu schinden, fürchtete er doch, das Gespräch könnte eine bisweilen ungünstige Wendung zu Söhnen hin nehmen, Nachkommen allgemeinhin, und während Durus die Beste aller möglichen Ausreden zur Verfügung stand, jene, dass ihm die passende Mutter zu diesen Söhnen fehlte, wäre Gracchus nur um jegliche Erklärung verlegen, vor allem da es bisweilen zu spät und der Wein bereits zu reichlich genossen war, als dass er auf die Schnelle eine favorable Ausflucht würde finden können. Er hatte sich bereits seine Gedanken gemacht, ob es womöglich seine eigene Unzulänglichkeit war, doch schlussendlich war ihm ein äußerst bedenklicher Gedanke hinsichtlich der Herkunft seiner Gattin gekommen. Die Ahnenreihe der Claudia war bisweilen mit jener der Iulia fest verbunden, deren Frauen seit jeher für ihre Unfruchtbarkeit bekannt waren, und es verstimmte ihn ein wenig, dass er daran nicht bereits vor der Vereinbarung der Verbindung gedacht hatte und jene genaue Konstellation des Position seiner Gattin im Stammbaum näher geprüft hatte. Doch natürlich könnte er dies unmöglich vor dem Tiberier ausführen. Es brauchte daher ein gänzlich anderes Gesprächsthema, deplorablerweise wollte Gracchus jedoch kein solches einfallen, so es nicht völlig aus der Luft heraus gegriffen klingen sollte. Somit blieb ihm wenig Spielraum, darum blickte er zum Fenster hin, hob die Brauen und blickte nachdenklich drein.
    "Der Mond scheint nicht besonders hell. Ich werde veranlassen, dass dich ein paar unserer Sklaven auf deinem Nachhauseweg geleiten. Auch wenn der Weg nicht unbedingt weit ist, so sollte man Furrina nicht unnötig herausfordern."

    Langsam kroch der Schatten seines Bruders über den Boden, näherte sich seinem eigenen und es entlockte Gracchus ein feines Lächeln, dass selbst ihr Schatten gleich wirkte, obgleich Tullius die Toga um sich trug und er selbst nur jene schäbige Tunika, dass die Bewegungen seines Bruders ihm so ähnlich, so vertraut waren. Doch der Tonfall, mit welchem der Zwilling in seinem Rücken sprach, brachte erneut Ärger in Gracchus hervor. Er drehte sich um und bedachte Tullius mit kaltem Blick.
    "Dein Leben mag ein Spiel sein, Quintus Tullius, doch das meine ist es nicht. Ich habe ein Pflicht, ein Pflicht gegenüber dem Imperium und gegenüber meiner Familie, und ich nehme diese Pflicht sehr ernst. Vielleicht ergibt das für einen Herumtreiber keinen Sinn. Die meisten von uns können nicht halb so leichtfertig sein, wie sie es gerne wären. Aber auch das dürfte für dich recht schwer zu verstehen sein, der du dein Leben ..."
    Er stockte kurz, legte die Stirn in Falten, doch er wusste nicht, was Quintus Tullius überhaupt je in seinem Leben getrieben hatte.
    "... als Spiel spielst, dir nimmst, was dir gefällt. Die Stärksten stellen die Regeln auf, dies mag die einzige Gemeinsamkeit sein, welche wir in unserem Leben teilen, zusätzlich zu unserem Äußeren, doch darüber hinaus wirst du nie verstehen können, was mein Leben ausmacht. Und das, Quintus, das nenne ich wahrhaft deplorabel, denn es vergeudet alles, was du in dir trägst, alles, was du hättest werden können. Schon deine oberflächliche Betrachtungsweise der Welt schmerzt mir, Schwarz und Weiß, stark und schwach, Patrizier, Nicht-Patrizier, dies scheint augenscheinlich alles zu sein, was du siehst. Wenn dies alles ist, was dein Leben ausmacht, so verwundert mich dein Verbitterung wahrlich nicht, und ich hoffe für dich, ja, ich hoffe dies tatsächlich, dass du eines Tages aus diesem schablonierten Dasein ausbrechen werden kannst."
    Die Tatsache, dass Quintus Tullius von Männern sprach, die durch seine Hand gestorben waren, von Patriziern, dies verwunderte Gracchus nicht mehr, was ihn um so mehr verwunderte, doch es betrübte ihn zutiefst. Er wusste nichts über ihn, nicht das Geringste, wie tief also mochte dieser Abkömmling seines Vaters gesunken sein, womöglich tiefer noch als Animus? Er folgte seinem Zwilling, denn wie fatal diese Situation auch sein mochte, etwas zu Essen im Magen war niemals verkehrt.
    "So ist es denn doch das Spiel um Leben und Tod, welches zwischen uns steht? In diesem Fall kannst du den Gewinn einstreichen, Quintus, denn ich werde dieses Spiel nicht spielen, nicht mit dir. Du magst auch dies nicht verstehen, magst es mir als Schwäche auslegen, doch ich habe bereits einen Bruder verloren, mit dir zwei, und drei sind mir zu viel."
    Er sprach in einem beiläufigen, Tonfall, als würde ihn dies alles nur marginal tangieren, doch im Grunde war er sich nur eines Gefühles sicher, dessen, dass er sich seiner Gefühle nicht sicher war. Womöglich gärte dort ein wenig Furcht unter seiner Oberfläche, ein wenig subkonsziente Wut noch immer sicherlich, vielleicht sogar Verzweiflung neben Verwunderung, Zweifel und Zwiespalt allemal, ebenfalls Hader und Besorgnis, doch dort in ihm drin fand sich noch eine weitere, nur einem äußerst sublimen Gespür zugängliche Emotion, die nicht im Geringsten zu dieser Situation passen wollte, eine Spur von Amüsement, welche partout nicht weichen wollte.
    "Doch wenn es dir eine Freude bereitet, so werde ich darauf verzichten zu versuchen ein Gebet an die Götter zu schicken, ich stand ohnehin lange genug im Dienst des Cultus Deorum um zu wissen, dass auch die Götter nichts mehr ändern können, wenn die Würfel bereits gefallen sind."

    "Aber nicht doch,"
    wischt Gracchus alle Bedenken in einer laxen Handbewegung hinfort.
    "Du hast es doch nicht etwa eilig?"
    Obwohl Durus sicherlich eine Gattin gut zu Gesicht stehen würde, war er noch nicht in jenem Alter, in welchem das Nichtvorhandensein einer solchen zu einer Peinlichkeit wurde. Dennoch war es wohl besser früher, denn später über solcherlei nachzudenken, und Gracchus war einmal mehr froh darüber, sich nicht weiters um solcherlei sorgen zu müssen, wenn auch die bestehende Verbindung weitere Sorgen und Verpflichtungen mit sich brachte.

    "Aber natürlich, Helvetia. Ich werde dir ebenfalls eine Nachricht zukommen lassen, sollte sich an der Angelegenheit noch eine Änderung auftun."
    An der Echtheit des Testmentes war wenig Zweifel, da sie selbst es vorgebracht hatte, obgleich sie dadurch nicht nur nicht begünstigt, sondern gleichsam benachteiligt wurde, so dass es kaum eine Änderung geben würde.
    "Bist du weiterhin in Rom zu erreichen?
    Er stand ebenfalls auf, um sie noch bis zur Türe des Zimmers zu geleiten, von wo aus ein Sklave sie aus der Villa hinaus führen würde.

    Als die Bänder um seine Hände endlich gelöst waren, rieb sich Gracchus die Handgelenke und ließ sich von seinem Bruder aufhelfen. Der feste Griff, die Berührung der Hände auf seinen Schultern und wieder der durchdringende Blick seines Zwillings, dies alles schein Gracchus so seltsam vertraut, dass es für einen Augenblick seine Sinne straucheln ließ. Die beinahe nicht vorhandene Distanz zwischen ihrer beider Körper, des herbe Aroma, welches Tullius umgab, ließ Gracchus Nasenflügel leicht beben und er musste seine Kiefer aufeinander pressen, musste an sich halten, seine Sinne beisammen zu halten um den Worten seines Gegenübers zu folgen. Gleiches stieß sich einander auf das Heftigste ab, oder es zog sich mit aller Kraft an - er musste nicht lange überlegen, um zu entscheiden, welches Prinzip von beiden in diesem Falle zutraf, und gleich dieser Erkenntnis traf ihn auch jene über die Unmöglichkeit dieser Kraft. Er sog tief Luft durch die Nase um seinen Geist zu klären, doch er sog nur mehr des Duftes ein, schluckte schließlich hart und flüchtete sich in jenes Thema, welches sein Bruder so unbedarft anschnitt, welches doch noch immer jeglich aufkommene Gefühlswallungen in ihm auf einen Schlag beendet hatte.
    "Natürlich bin ich verheiratet, eben aus dem von dir genannten Grund, da es einem Patrizier gebührt und es eine favorable Verbindung darstellt."
    Er legte den Kopf leicht schief, nickte schließlich.
    "Sie hat die Statur einer Venusstatue, ein ebenmäßiges Gesicht, Pfirsichweiche Haut, sie könnte ein Kunstwerk sein, so schön ist sie. Ein äußerst favorable Verbindung."
    Während das sadonische Lächeln die Lippen seines Bruders umspielte, bildete sich spiegelbildlich ein similären Lächeln auf Gracchus' eigenen Lippen ab, nicht ganz so sadonisch vielleicht, mehr berechnend. Würde Quintus Tullius an seiner Statt bei Antonia liegen, so würde dies keinerlei Unterschied für ihn machen, gegenteilig, würde am Ende gar ein Erbe aus diesem Zusammenspiel hervorgehen, so wäre dies der Venuswurf, machte sich Gracchus bisweilen doch schon Gedanken, ob er womöglich nicht fähig war, ein Kind zu zeugen, denn immerhin zeigte Antonia auch nach dem letzen Akt keinerlei Anzeichen dafür, seinen Erben unter ihrem Herzen zu tragen. Ein Kind aus Tullius' Samen würde nicht nur seinem vermeintlichen Vater mehr als genügend ähnich sein, sondern die Blutlinie ebenso fortführen, wie dies sein eigener Spross tun würde. In dieser Hinsicht würde Gracchus äußerst freigiebig über etwaige Bedenken hinweg sehen.
    "Aber nicht mehr als das, nur eine Verbindung. Wenn du mein Leben nimmst, so gehört sie dir, so hast du nicht nur ein Anrecht auf sie, sondern gleichsam eine eheliche Verpflichtung."
    Er verzog das Gesicht zu einer gleichgültigen Mine.
    "Dieses Leben bietet so viele leidliche Pflichten und Verpflichtungen, da magst du wenigstens an dieser einen deine Freude haben. Weiters versuche ich nur mein eigenes Leben zu schützen, Quintus, denn ich gedenke es durchaus zu gegebenem Anlass wieder zu übernehmen. Was du auch tust, es wird auf mich zurück fallen. Was du in der Stadt tust - wen schert das schon, Roma ist groß, nur ein Bruchteil ihrer Bewohner wird mich kennen, und selbst wenn, Roma vergisst schnell. Es braucht nur einen Consul, der auf den patrizischen Stand schimpft, und schon ist alles andere nichtig, vergeben und vergessen. Aber die Familie vergisst nie, Quintus, niemals. Verdrängen, oh ja, darin sind wir wahre Meister, Verbergen, auch das; doch kein Vergeben und kein Vergessen, wenn du in der Familie einen Fauxpas begehst."
    Während der Ernst zurück auf sein Antlitz gleich der Stille zurück in den Raum kehrte, konnte Gracchus spüren, wie der eigentümlich durchdringende Blick seines Zwillings durch seine Augen hindurch in seinen Geist eindrang und jede Kammer seines Bewusstseins zu durchsuchen suchte. Er konnte die Schritte durch die Gänge hallen hören, fühlen, wie das gesamte Gebäude unter diesen Schritten erzitterte, spürte den Odem, welcher jener Türe immer näher kam, hinter welcher sich Caius verbarg. In einer harrschen Geste zog Gracchus eine Hand seines Bruder von seiner Schulter - er war längst nicht der verweichlichte Patrizier, den Tullius in ihm sehen mochte, obgleich seine Kondition durchaus gelitten hatte, seit er das Ringen nicht mehr mit solcher Begeisterung zu tun vermocht hatte, mit welcher er dies gemeinsam mit Aquilius getan hatte. Mit einem Schritt war er aus Tullius Reichweite, dann verharrte er, ihm den Rücken zugewand, war dies doch seine einzige Intention, seines Zwillings Reichweite, seiner Nähe und seinem Blick zu entkommen.
    "Was interessiert es dich, wem meine Sorge gilt? Du nimmst dir doch ohnehin, was dir gefällt. Für dich mag es ein Spiel sein, doch jedes Spiel hat seine Grenzen."
    Zornig starrte Gracchus in die dunklen Schatten auf den Boden des Raumes hinab, gleichsam wissend, dass jener Zorn nicht lange würde vorhalten, was ihn nur um so zorniger auf sich selbst machte. Quintus Tullius hatte ihn niedergeschlagen, hatte ihn wie ein Stück Vieh durch die Gegend transportiert, hielt ihn in einem Keller gefangen und eignete sich sein Leben an, und dennoch konnte er ihm keinen Zorn, keine Wut und keinen Hass entgegen bringen, nur dieses Gefühl, welches jeglicher Grundlage entbehrte, entbehren musste, ob dessen er über sich selbst indigniert war.

    Mit der Hand des auf der Kline abgestützten Armes begann Gracchus seine Unterlippe zu kneten. Bei seiner Gattin würde er sich womöglich getrauen, ihr Vorschriften bezüglich zu erkennender Einsicht zu machen, denn selbst da sie sui iuris und ihm rechtlich nicht zu Gehorsam verpflichtet war, in moralischer Hinsicht war sie es und sich als Claudia ob dessen auch bewusst. Womöglich war es die Sorge darüber, dass sie ihm einer der zahlreichen weiblichen Launen folgend dennoch nicht den notwendigen Respekt erweisen könnte, welche Gracchus allgemeinhin von Forderungen und Vorschriften ihr gegenüber absehen ließ, so lange sie für öffentliche Anlässe zur Verfügung stand und dabei ein passables Bild abgab. Seine Schwester jedoch war ihm gegenüber nicht im Mindesen zu irgend etwas verpflichtet, und ihr eigensinniger Kopf verbot ihr augenscheinlich, Einsicht zu zeigen und sich der Familienstruktur unterzuordnen, sofern es nicht gänzlich gegen ihren Stand lief, obwohl Gracchus noch nicht alle diesbezügliche Hoffnung aufgegeben hatte. Gerade da sie von ihnen allen als längstes unter der Erziehung ihrer Mutter gestanden hatte, hatte er die Vermutung gehegt, dass Minervina sich ihrer Pflichten nur allzu bewusst war, doch womöglich war geardezu das Gegenteil der Fall.
    "Wir werden sehen. Ich werde noch einmal mit ihr sprechen, sobald sie wieder aus Hispania zurück gekehrt ist."
    Bis dahin mochte sie selbst womöglich zu Erkenntnis gelangt sein, denn obgleich sie noch nicht in einem bedenklichen Altar war, so konnte sie dennoch nicht unbegrenzt im flavischen Haushalt und vom flavischen Familienvermögen leben. In diesem Augenblick wurde Gracchus dessen gewahr, dass er nicht einmal wusste, wie lange Minervina gedachte in Hispania zu verweilen und er dies unbedingt am nächsten Tag noch würde in Erfahrung bringen müssen.

    Wahrlich, diese junge Frau schien wenig von ihrem Vater geerbt zu haben, nicht nur in materieller Hinsicht. Er beraubte sie ihrer Existenzgrundlage und sie fühlte sich seinem Willen gegenüber verpflichtet, tatsächlicherweise verlor darum Gracchus nicht jegliche Achtung vor ihr, gegenteilig, sie stieg mit jedem Wort. Er nahm sich des Schriftstückes an und überflog jene Zeilen. Nun erst, als er den Namen des Verstorbenen vor sich sah, dämmert ihm langsam, woher jene leichte Remineszenz beim Klang dieses Namens herrührte. Helvetius Tacitus war jener Aedilis plebis gewesen, welcher einzig durch ein unrühmliches Edikt bezüglich das Aufrufes zum Boykott germanischstämmiger Händler und des nachfolgenden Prozesses darum in Erinnerung des öffentlichen Bewusstseins geblieben war.
    "Ich werde mich der Vollstreckung des Testamentes annehmen. Nach der Prüfung des Schriftstückes werden die Erbberechtigten benachrichtigt und erhalten die Möglichkeit das Erbe auszuschlagen, nach Verstreichen einer gesetzten Frist wird die Übertragung des Erbgutes schließlich in die Wege geleitet. Dies ist jedoch gänzlich Aufgabe der Decemviri litibus iudicandis, du selbst brauchst nichts weiter zu unternehmen."
    Eine winzige Spur von Bedauern schlich sich in seine Stimme.
    "Da dein Vater weder dich, noch deine Brüder mit einem Anteil bedacht hat, wird euch das weitere Vorgehen nicht einmal mehr tangieren."
    Stille legte sich über den Raum, wurde jedoch jählings unterbrochen, als der die Hummel jagende Sklave unvermittelt mit der flachen Hand auf ein Regal einschlug. Gracchus zuckte bei dem Laut unmerklich zusammen und biss hernach die Kiefer aufeinander, um einen Fluch zu unterdrücken, der sich bereits seinen Weg seine Kehle hinauf bahnte, denn der Sklave hob triumphierend eine kleine pelzige Kugel vom Boden auf und warf sie achtlos aus dem Fenster nach draußen, bevor er sich wieder auf seine Position nahe der Tür stellte und mit der Wand zu verschmelzen suchte.

    Die neue Information bezüglich der Hinterlassenschaft Severinas Vater war derart schockierend für Gracchus, dass seine linke Braue sukzessive in die Höhe wanderte, in einer Langsamkeit, dass sein Gegenüber dabei regelrecht zusehen konnte, bis sie nicht mehr weiter hinaufsteigen konnte. Vor seiner Amtszeit hatte sich Gracchus nie über die Verteilung des Erbes anderer Leute Gedanken gemacht, so dass es ihn nun immer wieder einmal verwunderte, auf welche Art dies bisweilen geschah, doch so Severina die Wahrheit sprach, und daran zweifelte er nicht, war der letzte Wille des Caius Helvetius Tacitus geradezu ein Affront gegen die Mos maiorum. War es eine Sache und sein gutes Recht, den Großteil seines Vermögens demjenigen zu vermachen, welchen er dafür auserkor, so stand es auf einem ganz anderen Pergament geschrieben, dass er sich seiner väterlichen Pflicht entzog und nicht einmal für eine anständige Mitgift seiner Tochter Sorge trug, wodurch sie in die untersten Klassen der Gesellschaft herab zu sinken drohte. Dennoch zwang sich Gracchus schließlich dazu, die Braue wieder herab sinken zu lassen, sobald er dieser Diskordanz seiner Gravitas gewahr wurde.
    "Wenn an der Authentizität des Testamentes kein Zweifel besteht, so fürchte ich, wird an der Vollstreckung dieses Willens wenig zu rütteln sein. Hast du eine Abschrift des Schriftstückes bei dir?"

    "Ich bitte dich, Tiberius, auch wenn der deinige Name keine Kaiser in deiner Ahnenreihe vermuten lässt, so brauchst du ihn längst nicht zu verstecken. Natürlich erfüllt es mich mit Stolz, dir meine Ahnenreihe bis zu den Anfängen der Stadt Rom aufzählen zu können, ich habe sie lange genug auswendig lernen müssen, doch was würde es nützen, außer dass wir noch morgen früh hier säßen? Ich will ehrlich zu dir sein, Tiberius, eine Verbindung in die Tiberia wäre augenblicklich die Vorteilhafteste für unsere Familie. Diejenige zur Claudia ist bereits gefestigt, doch was hat sie uns gebracht? Die Claudia sind längst nicht mehr, was sie einst waren, doch gegensätzlich zu manch anderen, welche dies ebenfalls nicht mehr sind, ..."
    ... die Flavia deplorablerweise eingeschlossen ...
    "... so zeigen sie nicht einmal noch Ambitionen. Der gegenwärtige Quaestor Claudius ist seit langem der erste Claudius, von welchem man in Rom ab und an etwas hört. Aber auch Aurelia, Cornelia, Valeria, Fabia, Iulia - gleich welche patrizische Gens du mir nennst, dieser Tage namhafte Vertreter sind mir kaum im Bewusstsein, der ein oder andere Senator mag vertreten sein, doch ohne großartigen Einfluss. Tiberia fallen mir dagegen auf Anhieb ein paar ein, der Senator Tiberius Vitamalacus, Tiberia Livia, die Gattin des Princeps Senatus Vinicius, und nicht zuletzt du, der du unzweifelhaft ebenfalls nicht mehr lange vor den verschlossenen Türen des Senates stehen wirst. Nein, augenblicklich könnte ich mir keine bessere Verbindung für Minervina vorstellen, doch wie bereits gesagt, meine Vorstellungen sind hierbei augenscheinlich nur von marginaler Bedeutung."
    Er dachte über Durus' Worte bezüglich der Art der Frauen nach, vermutlich war es dies tatsächlich, was kein Mann jemals gänzlich verstehen konnte, obgleich es sicherlich den ein oder anderen gab, der dies mehr als weniger tat.
    "In der Tat, jene kindlichen Vorstellungen von Liebe ..."
    Gerade noch rechtzeitig konnte sich Gracchus beherrschen und ein tiefes Seufzen unterdrücken, der Wein ließ ihn augenscheinlich ein wenig unvorsichtig werden.
    "Die Ratio ist es, welche sich über die Emotio hinwegsetzen muss, denn ansonsten können wir uns direkt in die Reihen der Plebeier einreihen und brauchen erst gar nicht mehr nach den Zügeln des Staates zu greifen."
    Manches mal schienen es ihm die Plebeier wahrlich leichter zu haben, doch Glück war nun einmal nichts, mit dem man sich an der Spitze der Gesellschaft schmücken konnte; und selbst Anerkennung war ein Kraut, das vorwiegend nur auf Gräbern wucherte. Oftmals wurde dem patrizischen Stand vorgeworfen, sich auf seinen Namen auszuruhen, doch was wusste der Plebs schon über dieses Leben und seine Entbehrungen? Gracchus sog tief Luft durch seine Nase und entließ sie in einem nasalen Seufzen, welches nicht ganz so unbotmäßig wie ein orales war.

    Während Severina die Augen einen Moment lang geschlossen hielt, huschte erneut ein unwirscher Blick durch den Raum. Nicht nur, dass jener eine Sklave unfähig war, das brummende Flugtier einzufangen, zudem hatten die übrigen es noch immer versäumt, dem Gast etwas zu Trinken anzubieten. Gracchus nickte beinahe unmerklich zu der Kanne Wasser hin und augenblicklich eilte ein anderer Sklave herbei, um der Dame ein Glas einzuschenken und ihr anzubieten, während der Vigintivir sich unterdessen ihre Angaben bezüglich des Bruders notierte. Schließlich winkte er ab.
    "Aber nicht doch, Helvetia, es ist nicht an dir, um Verzeihung zu bitten. Ein Todesfall ist immer eine äußerst derangierende Angelegenheit, insbesondere wenn es den Vater trifft, der er dich zudem noch in die für dich völlig neue Situation der Emanzipation entlässt. Es ist an mir, noch einmal um Entschuldigung zu bitten, denn solcherlei Fehler, wie ein jener hier augenscheinlich vorliegt, darf nicht geschehen."
    Natürlich wurden solcherlei unzulängliche oder falsche Aufzeichnungen ständig getätigt, insbesondere hinsichtlich der Bürger außerhalb Roms, denn obwohl die Bürgerzählungen äußerst akribisch durchgeführt und die Bürgerlisten sehr sorgfältig verwaltet wurden, so war es doch ein schieres Unding, alle Bürger des römischen Reiches tatsächlich bis ins letzte Detail zu erfassen. Doch dass statt des Namens des Vaters der des Sohnes auf die Liste der Lectio fand, dies war vermutlich auf die Insuffizienz eines liederlichen Scriba beim Tätigen einer Abschrift zurück zu führen, und solche Nachlässigkeit konnte Gracchus nur aufs schärfste missbilligen, gerade da durch solche Schlamperei nun die Verunsicherung einer jungen Dame gefördert wurde, deren Leben sich ohnehin im Umbruch befand und augenblicklich sicherlich mehr als durcheinander war, zudem sich ihre Brüder augenscheinlich nicht ihrer anzunehmen schienen oder ihr subsidiär beistanden.
    "Zudem hast du die Mühe des Weges hierher augenscheinlich völlig umsonst auf dich genommen. Ich werde dies alles noch einmal genauestens prüfen lassen und mich hernach schnellstmöglich erneut mit dir in Verbindung setzen. Von deinem Bruder ..."
    Er warf einen eiligen Blick auf die bereits durchgestrichenen Aufzeichnungen.
    "... Gabor hat mich indes noch keine Nachricht erreicht, doch ich werde ihn ebenfalls noch einmal kontaktieren, gleichsam wie auch deinen Bruder Tranquillus."

    Die Verwirrung der Helvetia trug wiederum dazu bei, dass sich auch Gracchus' eigene Irritation weiter steigerte. Vater, Bruder, Tranquilius, Tacitus - die gesamte Akte war augenscheinlich völlig inkorrekt, zudem setzte sich nun auch noch die Hummel erneut in Bewegung und summte laut durch das Arbeitszimmer. Mit einer unwirschen Geste nickte Gracchus einem Sklaven zu, dass er das Tier endlich aus dem Raum schaffen solle und strich sodann die gesamten Angaben auf der bereits beschriebenen Wachstafel von links Unten nach rechts Oben mit einer ruckartigen Handbewegung durch, dabei gleichsam darüber sinnierend, wie weiters in dieser Situation zu verfahren war, welche ihm äußerst unangenehm war. Als er zu Severina aufblickte, glätteten sich die Falten auf seiner Stirn und ein entschuldigendes Lächeln kräuselte seine Lippen.
    "Es tut mir aufrichtig Leid, Helvetia, doch ich fürchte, dass hier augenscheinlich ein Missverständnis vorliegt. Der Name auf der Liste der Lectio lautet auf Gnaeus Helvetius Tranquillus, doch wenn es nicht er, sondern euer Vater ist, welcher die Gefilde des Elysiums betreten hat, so hat dies nicht nur Folgen für die Verteilung eines etwaigen Erbes, sondern gleichsam für die Verantwortlichen der Bürgerliste, denn es dürfte äußerst unangenehm für deinen Bruder sein, festzustellen, dass er nicht als verstorben geführt wird. Ich werde dies an die enstprechende Stelle melden und eine erneute Überprüfung veranlassen. Wenn du mir vielleicht sagen könntest, wo dein Bruder sich augenblicklich befindet?"

    Während sich von Gracchus' linker Körperhälfte nur das Sitzfleisch absaß und sein Fuß langsam einschlief, so hatte seine rechte Körperhälfte regelrechte Misshandlung zu erdulden. Die Rippenstöße seines Neffen waren durch dessen Enthusiasmus geprägt von einer Intensität, welche Gracchus dem Jungen in seinem zarten Kindesalter nicht zugetraut hätte, allfällig sollte er ihn doch einmal befragen, wie viele Jahre genau er zählte, womöglich war er doch älter als gedacht und nur ein wenig klein gewachsen. Während also auch der Stoff der Toga nicht verhindern konnte, dass sich langsam blaue Flecken an seiner Seite bildeten, glaubte Gracchus sein rechterseitiges Gehör bereits an das Signalhorn seines Neffen verloren zu haben, womöglich konnte das Instrument nach dem Rennen umgekehrterweie als Hörrohr Wiederverwendung finden, obgleich sich Gracchus beleibe für noch viel zu jung befand, um mit solcherlei durch die Gegend zu laufen. Es war beinahe eine Wohltat, dass die Fahrer der rotfarbenen Factio im Laufe des Rennens weiter und weiter auf die hinteren Plätze zurückfielen, denn so wurde auch Serenus leiser und leiser. Als schließlich die Wägen im Ziel einliefen und das Ergebnis bekannt gegeben wurde, sank sein Neffe enttäuscht zusammen und er tat Gracchus beinahe ein wenig leid, allerdings nur, bis er aufsprang und augenblicklich nach ihm die Sklaven hinter ihnen seine Worte lauthals verkündeten. Gracchus atmete tief durch, stand auf und drehte sich mit despektierlichem Blick zu den Sklaven um.
    "Kein Wort mehr für heute. Kein einziges. Das gilt für euch alle."
    Die Diskordanz seiner Worte im rechten und linken Ohr verwirrte ihn ein wenig, so dass er sich seinem Neffen zuwandte und diesem eine Hand auf die Schulter legte.
    "Lass uns nach Hause gehen, Serenus. Die Ausrichter werden jede Unstimmigkeit aufdecken und beim nächsten Mal werden die Rotfarbenen sicherlich besser abschneiden."


    Sim-Off:

    Bei den Göttern, womit habe ich das nur verdient?