Beiträge von Manius Flavius Gracchus

    Als er die Stimme seiner Schwester vernahm, kräuselte ein freudiges Lächeln Gracchus' Lippen, er hob seinen Blick von der Tabula, deren Inhalt er noch eben überflogen hatte, trat vor und schob den Sklaven unwirsch bei Seite.
    "Im Auftrag des Decemvir litibus iudicandis Flavius sind sie unterwegs."
    Obwohl es eines der geringsten der Ämter des Cursus Honorum war, sprach er nicht ohne Stolz in seiner Stimme, immerhin war dies bereits seine zweite Amtszeit. Er hatte nicht zu hoffen gewagt, dass er Agrippina würde bei dieser Gelegenheit sehen können, so verband sich denn der offizielle Anlass auf wunderbare Weise mit dem eines brüderlichen Besuches.
    "Agrippina, wie geht es dir? Ihr hattet sicherlich viel zu tun während der Parentalia?"

    Nachdem die Salii Collini in diesem Jahr bereits während der Quirinalia zum Einsatz gekommen waren, war der Tag des Regifugiums jener erste Tag im Jahr, an welchem auch die Salii Palatini ihrer traditionellen Pflicht nachkamen, hinzukommend war es einer der wenigen Feiertage, welche beide Sodalitäten gemeinsam bestritten und dabei gleichsam in sublimen Wettstreit miteinander lagen. Voll inbrünstiger Überzeugung, dass die Salli Palatini ohnehin die wichtigere der beiden Sodalitäten war, führte daher Gracchus als Magister jene in den tänzerischen Wettstreit. Die heiligen Schilde des Mars waren bereits am Vortag zum Kultraum auf dem palatischen Hügel gebracht worden, so dass die Sodales vor dort aus gehüllt in ihren roten Tuniken, ausgestattet mit den archaischen Rüstungen, bewaffnet mit Schwert und eben jenen Schilden, den Ancilia, ihren Marsch zum Comitium ohne Umweg durchführen konnten. Wie eine kleine Armee marschierten die zwölf Patrizier, und obwohl die sie begleitenden Hornbläser noch keine Musik spielten, sondern das Nahen der Salier nur mit lauten, durchdringenden Tönen ankündeten, gab das Aufstampfen der mit Nägel besohlten Stiefel bereits einen Takt vor, und auch das Schlagen der Schwerter auf die heiligen Schilde alle paar Schritte trug zum unverkennbaren Klang der Salii bei. Bereitwillig stoben die Menschen vor ihnen auseinander, um sie zum Comitium hindurch zu lassen. Kinder blickten mit staunenden Augen zu den Kriegern einer längt vergangenen Epoche hinauf, Männer und Frauen grüßten sie ehrfürchtig und manch einer versuchte eines der heiligen Ancilia zu berühren, in der Hoffnung Mars möge ihm Stärke und Standfestigkeit verleihen. Am Comitium angelangt stellten sich die Salii Palatini den Collini gegenüber. Beide Sodalitäten hatten ihre eigenen Hornbläser, die, nun verstummt, ebenfalls in heimlicher Konkurrenz zueinander standen. Ein Herold des Cultus Deorum blickte vor dem Altar über die Menge hinweg, wartete, bis beide Sodalitäten auf ihren Positionen standen, und schlug dann hart mit dem Ende seines Stabes auf den Boden. Gracchus war ein wenig nach vorn getreten, taxierte sein Gegenüber mit abschätzigem Blick. Er war sich der Sodales hinter sich sicher, er musste nicht sehen, um zu wissen, dass sie jeden Schritt beherrschten, dass jeder Schlag ihrer Schwerter auf die Schilde ein einziger Gleichklang würde sein, dass jeder Ton, jedes Wort aus ihren Kehlen dem Mars zur Ehre gereichen würde. Die Collini konnten lange nicht mit ihnen mithalten, dies war schon auf den ersten Blick zu sehen. Als die Hornbläser endlich mit ihrem Spiel einsetzen, fiel alle Anspannung von Gracchus ab, ebenso, wie die Collini und der Vergleich mit ihnen kaum mehr von Bedeutung war. Im Takt der Musik setze er seine Füße im traditionellen Dreischritt, schlug mit seinem Schwert den Takt und stampfte fest mit seinen Stiefeln auf den Boden, auf dass die Welt unter den Füßen der Krieger des Mars möge erzittern. Tief und volltönend sang er die uralten salischen Verse und neben ihm, hinter ihm und um ihn herum stimmten die Soldales ein und während die Menge der Zuschauer in stilles Schweigen verfallen war, schien es, als würden die Gesänge der beiden salischen Sodalitäten über dem gesamten Forum schweben.

    Da die Telefongesellschaften mich deplorablerweise noch ein paar Wochen ohne Anschluss verweilen lassen, werde ich bis Montag wieder fern des Internets weilen. Zudem liegt mein vorläufiger Anschlusstermin mittlerweile in der ersten Woche des März, bis dahin werde ich darum auch unter der Woche weiter nur begrenzt online sein, auch wenn ich mich womöglich nach einer besseren Alternative für den Abend umschauen werde.

    "Womöglich wird dies auch die patrizischen Familien wieder stärken, und auch wieder mehr in die Verantwortung nehmen. Zu viele junge Männer unseres Standes ruhen sich nur allzu gerne auf den bequemen Klinen und an den reichlich gedeckten Tafeln ihrer Vorväter aus, ohne sich noch um das Wohl des Reiches zu sorgen und dafür Sorge zu tragen, wo es doch unser erstes Ziel sein sollte, die uns gegebenen Möglichkeiten zu nutzen, nein, es sollte nicht nur Ziel sein, es muss selbstredend Verpflichtung sein."
    Er hörte sich schon bald an wie sein Vater. In einigen Jahren würde er seinem Sohn, so Antonia ihm diesen endlich schenken würde, erklären, was es bedeutet ein Flavius zu sein, dass er nicht nach seinem eigenen Willen dies oder jenes anzustreben brauche oder gar konnte, sondern sein Weg als erstgeborener Nachkomme des Flavius Gracchus bereits vorgegeben war, durch Legion und Cursus Honorum hindurch im Senat enden würde, um dort seinen Vater eines Tages abzulösen. Im Stillen hoffte Gracchus, dass er dies, gegensätzlich zu seinem eigenen Vater noch erleben mochte. Womöglich würde er seinen Sohn auch nicht gar so festlegen, wie sein Vater dies mit seinen Söhnen versucht hatte, er würde ihm die Freiheit einräumen, zwischen dem militärischen und dem kultischen Weg zu wählen, doch mehr würde auch seinen Nachkommen nicht gegeben sein.

    Wie ein feines, seidenes Band woben die Moiren die Schicksalsfäden der beiden Männer in diesem Augenblick zusammen und wären diese Fäden sichtbar für das menschliche Auge, so hätte man sie womöglich zwischen den Augen der beiden sich so ähnlichen Männer sehen können, denn gleichsam wie Tullius ihn taxierte, wandte auch Gracchus seinen festen Blick dem Bruder zu, ohne auf seinem Gesicht kenntlich zu zeigen, ob ihn die Existenz des Zwillings mehr erfreute oder ob in ihm die Befürchtungen über einen unzureichenden Peregrinus als Doppelgänger wuchsen. Fakt jedoch blieb, dass ihrer beider Leben womöglich um einiges anders verlaufen wären ohne die Frau, die Tullius so lange hatte glauben lassen, seine Mutter zu sein, für diesen ganz sicherlich, doch womöglich auch für Gracchus. Vermutlich wären sie gemeinsam in Achaia aufgewachsen und auch, wenn Gracchus um nichts in der Welt seine Zeit mit Aquilius wollte missen, so wäre sie womöglich doch in doppelter Ausführung seinerseits ein wenig anders verlaufen. Gemeinsam hätten sie den Weg geteilt, welchen ihr Vater sicherlich für sie beide vorgesehen hatte, womöglich wären sie viel früher nach Rom zurück gekehrt, hätten gemeinsam die Quästur abgelegt, nun das Vigintivirat. Im Aedilat hätten sie sich gemeinsam unterstütz, mit Freuden hätte Gracchus die erste Amtszeit an einen Bruder abegtreten. Laevinia hatte nicht nur Quintus Tullius' Zukunft geraubt, sie hatte das Imperium um einen fähigen Mann betrogen, dessen war er sich sicher. Ihr Schluchzen füllte den Raum und mit jedem Herzschlag störte es Gracchus mehr, störte, dass sie das Opfer miemte, während sie ein Leben in Bahnen gelenkt hatte, welches dort nicht hätte verlaufen dürfen, das Leben eines Flavius, seines Bruders, seines Zwillings. Sich seiner Beherrschung nun wieder völlig sicher, trat trat Gracchus auf die noch immer zitternde Frau zu, hob die Hand und ließ seine Handfläche in einem festen Schlag auf ihre Wange klatschen.
    "Dies ist nur der Anfang, Weib, denn ich werde dafür Sorge tragen, dass man dir den Prozess macht. Niemand vergreift sich an einem Mitglied der flavischen Familie, niemand."
    Er schüttelte langsam den Kopf, doch seine Stimme war beherrscht und ruhig, auch wenn sich eine leichte Spur von Zorn wie ein roter Faden durch jedes Wort hindurch zog. Was mit seinem Bruder geschehen würde, dies wusste Gracchus noch immer nicht, doch er hatte einst die Verantwortung für die Flavia Vespasianus übernommen und dies bedeutete nun gleichsam, das Verbrechen strafen zu lassen, welches Laevinia vor Jahren begangen hatte. Er betrachtete wieder seinen Zwilling, den all dies noch viel mehr tangierte als ihn selbst, dann dessen vermeintlichen Sklaven.
    "Zwei Hälften von was? Was kann dies noch werden?"
    Was es auch jemals gewesen sein mochte, es war längst zerbrochen, und so eilig wie es zerrissen worden war, so eilig konnte es nicht wieder geflickt werden.

    Das Volk war in Gracchus' Vorstellung ein nicht unwesentlicher Bestandteil des Imperium Romanum, ohne seine Bürger hätte das Reich niemals seine Größe erreichen können, wie auch nicht ohne auf dem Schweiß tausender Sklaven errichtet zu sein. Die Arbeit der Sklaven wurde selten honoriert, verstrab einer, so folgte ein neuer, doch das Volk musste bei Laune gehalten werden, denn nicht immer verstand es, was jene Männer für es entschieden, welchen die Führung des Staates gegeben war. Die Führung des Staates war dabei denen anvertraut, welche ihr Leben lang für nichts anderes vorgesehen waren, als für eben jene Aufgabe, so war dies gesamte Staatsgefüge denn ein völlig natürliches Gebilde, an dem nichts zu ändern und zu rütteln war. Marginale Änderungen, gleich natürlicher Evolution, konnten immer wieder einmal Einzug darin halten, als Exempel mag das Vordringen der Homini novi in die Politik gelten, welches nicht unbedingt schlecht war, denn betrachtete man sich Staatsmänner wie Cicero, so stammten sie zwar aus einfachen Verhältnissen, waren jedoch gleich patrizischen Abkömmlingen für die Staatsführung geboren worden. Aus diesem Grunde hegte Gracchus nicht Vorbehalte gegenüber dem gesamten Volk, sondern entschied nach Art und Manier des Einzelnen über dessen verdiente Achtung, doch da er nicht von Vorneherein jeden einzelnen genauestens in Augenschein nehmen konnte, generalisierte er doch bisweilen über die breite Masse hinweg. Eine differenzierte Betrachtung jener Thematik hätte sicherlich zu einer äußerst anregenden, bisweilen vielleicht sogar in philosophische Gefilde abdriftenden Diskussion führen können, doch in Anbetracht dessen, dass Minervina bereits bei der Auswahl eines potentiellen Ehegatten auf das Plebejertum verwiesen hatte, kam Durus' Umschwung der Thematik Gracchus gerade recht.
    "Denjenigen, welche bereits eine Quaestur abgelegt hatten, stellte der Imperator in seiner grenzenlosen Güte frei, die Quaestur zu wiederholen oder ein Vigintivirat abzulegen, bevor sie zum Aedilat kandidieren. Relevant für den weiteren Weg im Cursus Honorum sind einzig zwei abgelegte Amtszeiten, für jene Männer außerhalb unseres Standes zudem das Militärtribunat, wobei soweit ich dies verfolgt habe, auch hinsichtlich dessen den entsprechenden Kandidaten freigestellt wurde, ob sie dieses vor oder nach ihrer zweiten Amtszeit ablegen. Nach Abschluss meines Vigintivirates zuzüglich einer pausierten Amtszeit sollte es mir demzufolge möglich sein, die Kandidatur zum Aedilat anzustreben. Ein wenig diffizil ist dies durchaus alles geworden, doch der Imperator tat meines Erachtens gut daran, jene Form der Ämterlaufbahn wieder einzuführen, inbegriffen der Modifikation des Wahlmodus."

    Es grauste Gracchus bereits davor, an diejenigen Spiele zu denken, welche er in ferner Zukunft im Falle eines Aedilates selbst auszurichten verpflichtet wäre. Szenische Darstellungen würden es in jedem Falle werden, doch er wusste, dass dies für die Masse des Volkes nicht würde ausreichen, für eben jene Masse, deren Stimmengewalt es besser war hinter sich zu wissen, denn sich gegenüber. Natürlich konnte man jedwede Planungsverantworung an fähige Männer abgeben, doch die Last der dahinrinnenden Sesterzen musste ein jeder Mann noch selbst auf seinen Schultern tragen. Nicht, dass dies im Angesicht des flavischen Familienvermögens ins Gewicht fallen würde, doch Gracchus mochte weder Verschwendung noch unnötige Ausgaben, und obwohl die Ausrichtung von Spielen natürlich einen Hintergedanken hatte, so schien sie ihm doch wie ein Akt des Fütterns der streunenden Hunde mit besten Filetstücken. Gleichsam wollte sich Gracchus auch nicht auf dem Erbe seiner Familie ausruhen, doch der Dienst im Cultus Deorum war nicht unbedingt dazu geschaffen, um eine Laufbahn im Cursus Honorum zu finanzieren. Wie alles im Leben war es ein Hin und Her der Gedanken und Überlegungen und somit betrachtet war das notwendig gewordene Vigintivirat nicht einmal zu bedauern, verschaffte es Gracchus doch noch ein wenig mehr Zeit zur Planung.

    Ein wenig fühlte sich Gracchus wie an jenem Tage, als ihm sein Leben in Achaia aus den Händen geglitten war, als es, trotz seiner Bemühung die Kontrolle bei sich zu halten, vor seinen Augen verschwommen und in Bahnen verlaufen war, die mitnichten vorherzusehen, noch zu lenken gewesen waren, denen er nur unwillig und wie ohnmächtig hatte folgen können. Auch in diesem Augenblick versuchte er nicht die Kontrolle über das Geschehen zu verlieren, wichtiger noch nicht den Überblick, doch beides wurde ihm in dem Moment verlustig, als Dardashi, der Amicus des Quintus Tullius, jene Vermutung in Hinsicht auf eine gemeinsame Mutter aussprach, die gleichsam doch nicht Gracchus' Mutter gewesen war, als er dies aussprach, was Gracchus selbst nicht zu tun vermocht hatte, was sich ihm trotz aller logischen Gedankengänge verschlossen gehalten hatte, verschlossen aus blinder Furcht. Noch eben war er den Worten des Mannes in jeder Silbe gefolgt, hintergründig erleichtert, dass Quintius Tullius sich einen gebildeten Sklaven leisten konnte und dies auch tat, hatte wieder und wieder zustimmend leicht genickt, doch mit einem Male hielt er in aller Zustimmung und gleichsam aller Bewegung inne. Gracchus' Haltung versteifte sich, seine Nackenhaare richteten sich widerstrebend auf, ein eisiger Schauer kroch aus seinen Fußspitzen hinauf, umklammerte sein Herz und fraß sich bis in seine Haarspitzen hin vor. Wenn dies wahr sein mochte, was der Parther aussprach, so brach in diesem Augenblick die Welt des Manius Flavius Gracchus in sich zusammen, zerbarst in tausende Splitter und erlosch wie eine des Öls behaupte Lampe. Jegliches Streben war mit einem Male nichtig, jegliche Pflicht vollkommen unsinnig und jedwede Mühe völlig vergebens. Sein Vater mochte ihn von der Erde empor gehoben haben, doch Gracchus würde sich sein gesamtes bisheriges Leben, sein Positon im Gefüge der Welt nur subrogiert haben, nichts dessen, was er bisherig erreicht hatte, würde ihm zustehen, nicht zu denken an jene Dingen, die er erst zu erreichen strebte. All seine Ziele waren mit dem Verlust seiner Herkunft unerreichbar, kein Sitz im Senat würde ihm zustehen, kein Sitz in einem der kultischen Collegien, gar nicht einmal sein Cubiculum in der Villa Flavia wäre ihm noch angemessen, geschweige denn seine Gattin aus dem Hause Claudia - obwohl er dies nur marginal bedauern würde - denn mochte sein Name noch so edel sein, mochte sein Weg der eines Patriziers gewesen sein, als Bastard seines Vaters würde nichts von all dem ihm zustehen und Gracchus würde nichts davon weiter beanspruchen können. Noch wenige Augenblicke zuvor hatte er darüber sinniert, Quintus Tullius sein zu können, doch die tatsächliche Aussicht ein Niemand zu sein, dies raubte ihm jegliche Sinne. Sein leerer Blick folgte beinahe wie von selbst dem seines Bruders in die Dunkelheit hinab, dort, wo das finstere Grauen der Wahrheit lauerte, aus dem es in der unschuldigen Gestalt einer zitternden, derangierten Frau hervor trat. Die Drohungen aus Tullius' Augen gegen seine Mutter, die Schärfe seiner Stimme, diese Diskordanz der Similarität nahm Gracchus nur am Rande seiner Aufmerksamkeit wahr, denn er musste mit all seiner Kraft an sich halten, dass nicht nach den Erschütterungen durch jene Worte des Dardashi nun jene der Worte Laevinias ihn aus seiner Standfestigkeit hinaus rissen, da diese ohnehin kaum mehr gegeben war. Mit jedem ihrer Worte biss Gracchus mehr und mehr seine Kiefer zusammen, bis dass es ihm schmerzte. Mehr noch als die Erleichterung darüber, jener zu sein, der er geglaubt hatte, der er tatsächlich war, überkam ihn der Zorn über die Dreistigkeit und Einfalt jener Person. Die Christianer hatten ihm seinen Bruder und mit ihm sein Leben gestohlen, doch diese Frau, zitterndes, verfallenes Abbild eines jungen Mädchens mit großen Plänen und endloser Sehnsucht, diese Frau hatte ihm sein zweites Ich genommen.
    "Brüder, die sich in allem glichen,"
    repetierte er leise und sein vorwurfsvoller, vernichtender Blick traf jene Frau, die einst auch für sein Wohl Sorge getragen hatte. Sie hatte sich das Recht Fortunas herausgenommen und über ihrer beider Leben entschieden, hatte gewählt, dass Manius Gracchus ein Flavier wurde, Quintus Tullius dagegen in der Gosse aufuchs. Quintus Tullius - vermutlich war dies nicht einmal sein Name, immerhin war er nicht der Fünfte, sondern der Dritte oder Vierte gewesen, doch viel eher als seine Folge in der Familie würde er ob der Ähnlichkeit einen similären Namen getragen haben, Gracchus als Cognomen sicherlich, wie er selbst, dazu einen anderen Praenomen um sie zu trennen.
    "Glichen, oder gleichen?"
    Es drängte Gracchus danach, sich zu setzen, denn er fürchtete, jeden Augenblick der letzten Kontrolle über seinen Körper verlustig zu werden und wie ein misslungener Opferkuchen in sich zusammen zu sinken, doch gleichsam fürchtete er mit jeder Bewegung nur noch mehr aus dem Gleichgewicht zu geraten. Er wünschte sich, Caius könnte hier sein - bei den Göttern, Caius würde ohnehin staunen - doch er verwarf diesen Wunsch eilig, aus Furcht, sein liebster Vetter würde womöglich seine Zuneigung gänzlich von ihm ab und auf Tullius hin wenden.
    "Wie ..."
    Er räusperte sich und suchte einen Augenblick nach der Festigkeit seiner Stimme, doch gänzlich wollte sie sich ihm nicht offenbaren.
    "Wie kommt es, dass dies nicht bereits früher aufgefallen ist. Immerhin ... ich bin nicht erst seit gestern in Rom."
    Zwar besaß vermutlich Laevinia die meiste Kenntnis über die allumfassende Gesamtsituation, doch seine Frage war nicht direkt an sie gerichtet, sondern frei in den Raum hinein gestellt. Obwohl Sacerdotes, Quaestores und Vigintiviri in der Hauptstadt keine übermäßige Bekanntheit genossen, so schien es ihm doch unglaublich, dass niemand ihrer beider Gesichter verglichen hatte, denn selbst die Suburbaner hatten bis vor kurzem an den Wahlen ihren Anteil gehabt.

    Atemlos lag Gracchus neben seiner Gemahlin und starrte durch die Decke ihres Cubiculums, womöglich bis zu jenem Punkt, an welchem der Himmel im Gefüge der Welt befestigt war, und seine Gedanken trieben in der zähen Masse der Endlosigkeit dahin, so dass sein Geist gefüllt war mit einem Zustand nebulöser Zufriedenheit. Nur äußerst langsam und zähflüssig drängten sich gänzlich andere Empfindungen in seine Aufmerksamkeit, doch je mehr er sie bei Seite schieben wollte, desto nachdrücklicher und unnachgibiger forderten sie ihren quälenden Tribut. Da ohnehin Antonia durch ihre hastigen Bewegungen die stille, beglückende Zweisamkeit so jäh zerriss, war es jedoch bald nicht länger notwendig, andere Bedürfnisse weiter auf zu schieben. Während sich seine Gattin herrichtete, stand Gracchus auf und trug ebenfalls dafür Sorge, dass er sich ohne größere Beanstandung vor der Tür zeigen konnte. Ein Umweg über sein Cubiculum würde von Nöten sein, doch der nachfolgend direkte Weg würde ihn in das Triclinium leiten, denn es gelüstete ihn nach einem pikanten Mahl. Bevor er jedoch das Zimmer verließ, stellte er sich dem Blick seiner Gattin, und noch immer von vollster Zufriedenheit erfüllt, ließ er sich denn doch dazu hinreißen, zu tun, was ihm doch so viel mehr entsprach, als sich zu nehmen, was ihm zustand.
    "Zugunsten unseres Erben hoffe ich, dass jene Männer sich irren, welche die Ansicht vertreten, dass das Wesen des Nachkommen einzig und allein dem Samen des Mannes entspringt, denn es wäre wahrlich deplorabel, wenn die Schönheit seiner Mutter nicht auf ihn übergehen würde."
    Ohne ihre Reaktion abzuwarten wandte sich Gracchus der Tür zu, verließ den Raum und suchte sein eigenes Cubiculum auf, nicht ohne einen Augenblick davor zu verweilen und sich mit einem äußerst feinen Runzeln der Stirn die Maserung jener Tür vor Augen zu führen, durch welche er sonst immer nur hastig hindurch schritt.

    Die Ernennungen der neuen Ämter des Cursus Honorum waren augenscheinlich gerade zur rechten Zeit erfolgt, denn Gracchus war noch keinen Tag in seinem Amt als Decimvir litibus iudicandis eingesetz, da lag bereits die neueste Volkszählung samt der zugehörigen Lectiones auf seinem Schreibtisch. Natürlich hatte er keinen offiziellen Arbeitsplatz, Vigintivire waren allgemeinhin nicht wichtig genug, als dass sie mit solcherlei vom Staat ausgestattet wurden, daher war er froh darüber, in der Villa Flavia einen adäquaten Schreibtisch zu besitzen und nicht, wie manch einer seiner aus einfacheren Verhältnissen stammenden Amtskollegen auf eines jener äußerst spärlichen Officien in den öffentlichen Verwaltungsgebäuden zugreifen zu müssen, in denen die Tische aus dünnen Holzplatten mit noch dünneren Beinen bestanden. Die Namen der Verstorbenen waren zwischen den Zehnmännern nach einem Prinzip aufgeteilt worden, welches außerhalb Gracchus' Kenntnis lag. Den Familien nach war es nicht, auch nicht nach Tag des Ablebens oder gar der Geburt, so musste es denn eine eher zufällige Sortierung sein. Da sein erster Weg jedoch ohnehin immer der gleiche sein würde, störte ihn dies vorerst nur marginal, auch wenn sich bei späterer Bearbeitung der Erbaufteilung womöglich Mehraufwand ergeben mochte. Da den Vigintiviren keine staatlichen Amtsdiener zur Verfügung standen, hatte Gracchus seinen eigenen Scriba dabei, und natürlich auch einige Sklaven, von welchen einer ihn nun an der Pforte des Hauses der Vestalinnen in offizieller Angelegenheit anmeldete.

    Ein wenig überrumpelt, dass es ihm tatsächlich ohne sein eigenes Zutun antwortete, fügte sich Gracchus den Aktionen seines völlig fremden, und doch so vertrauten Gegenübers, und stand darum alsbald in der kleinen beschiedenen Wohnung, die insgesamt kaum so groß sein konnte, wie das Atrium der flavischen Villa allein. Im fahlen Licht der Sonnenstrahlen tanzten kleine Staubkörner, aufgewirbelt durch jene Hektik, die seit dem Klopfen in diesem Raum entstanden war, und die sich nun anschickten auf dem Fußboden niederzulassen, wo sie kaum würden auffallen. Dass sein Leibsklave Sciurus ihm nicht folgen konnte, dies bemerkte Gracchus nicht einmal, denn seine Gedanken gingen in vollkommen andere Richtungen, als die seines Sklaven. Als Tullius seinen Namen nachfragte, nickte Gracchus und bedachte bei dieser Gelegenheit die übrigen Anwesenden, jene Frau, welche zuvor so derangiert zurück in das Innere der Wohnung geflohen war, und einen Mann, der seinem Aussehen nach nur ein Sklave sein konnte, mit einem freundlichen Nicken, denn auch ob der Verwirrung über jene ihm so similäre Person vergaß er nicht seine guten Manieren, welche den Gruß gegenüber der Dame geboten.
    "Manius Flavius Gracchus, in der Tat."
    Gracchus zwang sich dazu ruhig zu bleiben und klaren Gedanken zu folgen. Trotz seines friedliebenden und auf Harmonie bedachten Naturells war er sich doch der Gefahr bewusst, welche von jenem Mann ausging, der sein Antlitz trug. In einem Anflug patrizischer, geistiger Überheblichkeit dachte er daran, dass es das beste sein mochte, wenn dieser Mann so eilig von der Welt verschwand, wie er soeben in Gracchus' Leben getreten war, denn er war durchaus eitel und wollte sein Gesicht für sich alleine besitzen. Doch jener Anflug verging so schnell, wie er gekommen war, denn allein die Tat weiter zu denken war Gracchus nicht gegeben, davon abgesehen barg er gleichsam die stille, trügerische Hoffnung, dass womöglich jenen Menschen noch mehr mit ihm verband, als jener erste Anblick es ohnehin schon vermuten ließ. Schon immer hatte sich Gracchus unvollständig gefühlt, hatte geglaubt, der Welt nicht genüge zu sein, und womöglich war dies tatsächlich so, womöglich war er nur Hälfte eines Doppels, eines Gesamten, welches nun hier an diesem abstrusen Ort zusammen gefunden hatte. War es nicht immer die Sehnsucht nach Vollkommenheit gewesen, welche sein Streben vorangetrieben hatte? Welch äußerst erbauliches Thema würde dieser Wechsel der Individualität zu einem similären Doppel gar für eine philosophische Betrachtung werden! Er taxierte Tullius bei jedem Schritt wie dieser um ihn herumschlich als wäre er ein Ausstellungsobjekt, während Gracchus still und aufrecht stehen blieb, doch in der Taxierung seines Gegenübers inbegriffen dieses ebenfalls von allen Seiten bestaunen konnte. Zugegeben, er sah wirklich äußerst gut, um nicht zu sagen umwerfend aus. Narzisstisch war Gracchus zwar noch nie veranlagt gewesen, doch er hatte sich auch noch nie mit solcher Deutlichkeit und Intensität in aller Gänze betrachten können, und je länger er sein Gegenüber, und damit im Grunde sich selbst, musterte, desto mehr musste er sich eingestehen, dass er durchaus geneigt war, eine Schwäche für diesen Mann zu hegen. Schließlich jedoch, nachdem dieser sich erdreistete, Gracchus' Äußeres für sich zu beanspruchen, zog jener, beinahe im gleichen Augenblick mit Quintus Tullius, eine Braue nach oben und antwortete ein wenig pikiert.
    "Nicht ich bin es, welcher dir bis ins letzte Detail gleicht, es scheint mir eher der umgekehrte Fall zu sein. Quintus Tullius - verzeih meine Unkenntnis, doch diesen Namen habe ich bisweilen noch nie gehört. Mein eigener Name dagegen steht auf der Bürgerliste der Stadt Rom, sehr weit oben, zwischen bedeutenden Römern, und dieses Gesicht gehört zu meinem Namen."
    Er hob seinen Zeigefinger und deutete auf sein eigenes Antlitz, dann auf das Tullius'.
    "Ebenso wie dieses Gesicht, einmal abgesehen von der unmöglichen Rasur, dem nicht vorhandenen Haarschnitt und ... sind das erste Falten um deine Augen?"
    Er runzelte die Stirn und berührte seine eigenen Augenwinkel, schüttelte doch dann den Kopf und ließ die Hand wieder sinken, denn es gab momentan wichtigere Dinge als erste Anzeichen des Älterwerdens, welche womöglich seine eigene Person nicht einmal betrafen.
    "Wie dem auch sei, dieses Similarität mag kolossal sein, auch wenn dies nicht das von mir präferierte Wort wäre, um dies zu umschreiben, doch sie gefällt mir nicht im Mindesten und ich benötige eine Erklärung, wie es sein kann, dass du mit diesem Gesicht herumläufst, ohne dass ich auch nur das Geringste davon weiß. Da du es ebenfalls nicht zu wissen scheinst, scheint mir logische Eruierung der beste Weg zu sein, dies festzustellen."
    In unbewusster Weise hob er den linken Arm vor die Brust, stützte den rechten Ellenbogen darauf und begann mit der rechten Hand seine Unterlippe zu kneten.
    "Sciurus sprach davon, dass du ihr Sohn bist."
    Er nickte zu Leaevinia, fuhr dann fort, das Ziel bereits vor Augen. So absurd die gesamte Situation auch sein mochte, Gracchus kam nicht umhin als in sein übliches Verhaltensmuster zu fallen, und ohne hinführenden Monolog war kein durchdachter Gedankengang reif dazu in die Welt hinaus entlassen zu werden.
    "Doch ihr siehst du nicht ähnlich. Mir dagegen zweifelsohne, meine Mutter ist sie jedoch sicherlich nicht, denn ich weiß genau, wer meine Mutter ist, man sagt mir dazu nach, ich hätte ihre Stirn und ihre Augen geerbt. Somit hättest auch du dies getan, doch wärest du der Sohn meiner Mutter, so könntest du nicht der ihre sein. Da ich meinen Vater gänzlich aus diese Sache heraushalten möchte, denn abgesehen davon, dass mein Vater keine Bastarde in die Welt setzte, zumindest keine solchen, welche länger als wenige Stunden in dieser Welt geblieben wären, davon abgesehen könnte selbst die Abstammung von gleichem Vater und anderer Mutter nicht zu solcher Similarität führen, wie wir uns ihr gegenüber finden, da sie es üblicherweise nicht einmal bei gleichem Vater und gleicher Mutter vermag, wie gewöhnliche Geschwister allgemeinhin beweisen, bei welcher Gelegenheit ich auch darauf hinweisen möchte, dass mich mit meinen eigenen Geschwistern eine gewisse familiäre Ähnlichkeit verbindet, ich mir dahingehend noch einmal um so mehr sicher bin, meinem Vater und meiner Mutter zu entstammen, welche auch die ihren Eltern sind. Es bleibt also fest zu stellen, dass Mütter in diesem Fall der Wahrheit Kern enthalten müssen und da die meinige nicht mehr in dieser Welt weilt, so mag womöglich die deinige etwas über die Entstehung deines Wesens berichten."
    Während er mit erhobener Braue zwischen Quintus Tullius und dessen vermeintlichen Mutter hin und her blickte, war er sich beinahe sicher, dass sie dies nur vermeintlich war, und obwohl er diesem Wissen nachfolgend noch nicht einordnen konnte, weshalb dieser Mann nicht den Namen Flavius trug, so dachte er doch bereits einen Schritt weiter, was mit ihm nun geschehen mochte, denn wer wusste schon, zu welchen Subreptionen Quintus Tullius mit einem derartigen Äußeren fähig war, würde Gracchus ihn denn einfach weiter in der Subura hausen lassen, ganz abgesehen davon was geschehen würde, wenn irgendwem irgendwann diese prekäre Ähnlichkeit auffallen würde, was zweifelsohne früher oder später passieren musste. Man würde ihn in die Familie holen können, doch der Name Flavius war äußerst verpflichtend und es war fraglich, ob jenes Subjekt sich diesem Namen stellen wollte und konnte, denn auch wenn Gracchus' Vetter Felix seinen Sohn nach Jahren des Plebejertumes in den Schoße der Familie zurück geholt hatte, so bezweifelte Gracchus doch, dass ein Mensch, der dem Namen und selbst der Abstammung nach ein Patrizier war, diesem Stande jemals auch ganz und gar in seinem Herzen gerecht werden konnte, da ihm so viel an Jahren fehlte. Sicherlich bestimmten die Ahnen und das Blut einen großen Teil der Persönlichkeit, bewogen den Menschen zu Höherem, und er wollte jenem Quintus Tullius nicht absprechen ein sicherlich fähiger Mensch zu sein. Der letzte Schritt jedoch, die letzte Hürde zu meistern und sich dem patrizischen Stande angemessen zu verhalten, dies war eine Folge der Erziehung und Bildung, und etwas, dessen deplorablerweise bisweilen nicht einmal alle gebürtigen Patrizier fähig waren, dahingehend würde es zwar womöglich ohnehin ohne Belang sein, doch es widerstrebte Gracchus auf das Heftigste, selbst zu solch einem Menschen beizutragen, zudem es völlig absurd war, einem Peregrinus, der Tullius augenscheinlich war, das Tor in die flavische Gens zu öffnen. Doch um Quintus Tullius seine Gefährlichkeit zu nehmen, würde sich Gracchus womöglich früher oder später mit ihm in der Familie, womöglich gar in der Öffentlichkeit zeigen müssen, auch wenn es ihm noch nicht gänzlich klar war, welchen Status jener Mann dabei erhalten sollte. Von einer Spur Wahnwitz überkommen dachte Gracchus auch daran, dass Quintus Tullius der Erstgeborene von ihnen beiden sein konnte, dass Quintus Flavius Tullius all jene Pflichten übernehmen könnte, welcher er selbst sich nur allzu gerne entledigen würde, dass Quintus Tullius ganz einfach Manius Flavius Gracchus werden könnte, und er selbst, Mainus Flavius Gracchus, würde der unwichtige Quintus Tullius werden, und während Quintus Tullius, nun als Manius Flavius Gracchus, seinen Sitz im Cursus Honorum ausfüllen, sich mit seiner Gattin Claudia Antonia vergnügen, in die Rolle des pro forma-Oberhauptes der Familia Flavius Vespasianus gedrängt für die Eheschließung seiner Schwester Minervina Sorge tragen und als Flavius die Pflichten seines Namens und Standes erfüllen würde, würde sich Manius Flavius Gracchus, nun als Quintus Tullius, nach Achaia absetzen und endlich seinem innersten Drängen, seinem tiefsten Wunsche nachgeben, Caius aufsuchen, ihn um Verzeihung bitten und sich nachfolgend nie wieder Gedanken über Rom, über das Imperium, den Fortbestand und die Verpflichtung des Namen Flavius machen müssen. Doch noch im gleichen Augenblick wurde sich Gracchus dessen gewahr, dass auch dies als Möglichkeit nicht gegeben war, und er gleichsam sich niemals von all jenen Verpflichtungen würde lösen können, denn er war eitel genug, um sich dessen sicher zu sein, dass zu Manius Flavius Gracchus ein wenig mehr gehörte, denn das äußer Antlitz und dass sich seine Person nicht eben durch einen dahergelaufenen Suburbaner würde ersetzen lassen, der zufälligerweise das gleiche Gesicht trug wie er, selbst wenn sie denn tatsächlich einem gemeinsamen Samen entsprungen sein mochten.

    Als Sciurus ihn förmlich als Magistrat der Stadt vorstellte, so wie sich dies für seinen Sklaven eigentlich auch gehörte, klappte Gracchus der Mund auf und er vergaß tatsächlich für eine kurze Weile, ihn wieder zu schließen. Womit auch immer er gerechnet hatte, damit hatte er nicht im Mindesten gerechnet, es strafte jegliche seiner Befürchtungen Lügen und Gracchus war sich mit einem Mal uneins, ob er sich daran erfreuen sollte, dass dies nicht das Ende seiner Tage würde sein, oder ob er nun wieder in trübe Befürchtungen ob der flavischen Familienangehörigen übergehen solle, doch unabhängig davon richtete sich seine Gestalt zur üblichen geraden Haltung auf. Dass er keinerlei Ahnung von jener staatlichen Angelegenheit hatte, bezüglich deren er jenen Quintus befragen wollte, dies schien ihm nur marginal, denn Sciurus hatte hinsichtlich solcherlei Dinge schon immer mehr Überblick als er selbst, nicht umsonst kam dem Sklaven neben seiner sonstigen Aufgaben auch jene als wandelnde Agenda zu. Gerade rechtzeitig hatte er seinen Mund wieder geschlossen, als jene Frau völlig derangiert seinen Praenomen aussprach, dessen Nichterwähnung sich Gracchus recht sicher war, und daraufhin eilig wieder die Türe schloss. Wäre er ein wenig mehr wie sein Vetter Aquilius, so hätte er sich vermutlich nun Gedanken darüber gemacht, ob jene Frau eine derjenigen sein konnte, mit welchen er an irgend einem Abend, an den er sich nicht mehr genau erinnern konnte, ein kurzes Zwischenspiel genossen hatte, doch Gracchus war sich sehr sicher, dass er jene Frau nicht kannte und auch nie in seinem Leben mit ihr in Kontakt gekommen war, darum erfüllte es ihn beinahe ein wenig mit Stolz, dass man selbst in der Subura schon seinen Namen kannte, auch wenn ihn ihr Entsetzen hinsichtlich seiner Person doch ein wenig verärgerte. Sein Mund öffnete sich erneut, dieses Mal jedoch, um seinen Sklaven nun endlich zu Fragen, was all dies sein sollte, als die Türe nach einem Poltern erneut geöffnet wurde. Es war nicht die Tatsache, dass jener Mann, der dort im Rahmen erschien seinen Sklaven kannte, welche nun Gracchus seinerseits völlig derangierte. Schon während jene Person noch zu Sciurus sprach, blieb Gracchus Mund wieder offen stehen. Als er sich des stechenden Blickes bewusst wurde, hob er seine Hand und schob Sciurus zur Seite, blickte verwundert in den Spiegel im Türrahmen, doch etwas störte ihn, um nicht zu sagen, etwas störte ihn gewaltig. Zum einen stand er inmitten einer Insula, dort wo kein Spiegel war, zum anderen war das Bild viel zu glatt, viel zu perfekt, und zudem war das Spiegelbild seitenverkehrt - so musste es sein, sich selbst durch die Augen eines anderen zu sehen, doch Gracchus war sich recht sicher, noch immer in seinem eigenen Körper zu stecken, zumindest hatte er dies bis vor eben jenem Moment noch getan. Er hob seine Hand an sein Kinn, denn dort spross ein leichter Bart vor sich hin, doch als er seine Haut berührte war sie glatt rasiert wie immer, ganz davon zu schweigen, dass er zwar seine Hand hob, auch die Berührung in seinem Gesicht spürte, sein vermeintliches Spiegelbild ihm jedoch nicht in jener Bewegung folgte. Als Sacerdos wusste Gracchus, dass sich viele sogenannte göttliche Wunder und Begebenheiten bei genauer Betrachtung auf recht simple Art und Weise erklären ließen, doch für jenen Mann, der da vor ihm stand, fehlte ihm jegliche Erklärung, seine Existenz war geradezu unheimlich, um nicht zu sagen unerhört.
    "Wie ist das möglich?"
    Verwirrung spiegelte sich auf seinem Gesicht wieder und ein wenig angespannt wartete er darauf, ob jenes verkehrte Spiegelbild ihm nun würde antworten, oder ob er es letztlich selbst sein musste, der dies tat, da im Grunde dies doch nur ein Abbild seiner selbst war. Sein Leben lang war Gracchus bezüglich seiner eigenen Person unsicher gewesen, doch in diesem Augenblick hatte er zudem das Vertrauen über seinen eigenen Körper verloren, welcher ihm bisher noch immer, manches mal schmerzlich, bewusst gewesen war.

    Viele Treppenstufen hatte Gracchus im Laufe der Zeit schon genommen, immerhin gab es kaum einen Tempel in Rom, der nicht auf einem Podest errichtet war und darum nur über solche zu erreichen, zudem hatte er so manches mal statt die langgezogene Straße zum Kapitolstempel hinauf die steile Treppe nahe dem tarpeischen Felsen benutzt, doch jene wenigen Stufen, welche er nun hinter seinem Leibsklaven Sciurus empor stieg, machten ihm schwerer zu schaffen als jede Treppe zuvor, doch nicht etwa körperlich, sondern gedanklich. Als sein Sklave ein wenig nervös, um nicht zu sagen aufgelöst, am späten Nachmittag in sein Cubiculum getreten war und ihn darum gebeten hatte, ihm aus äußerst wichtigen und dringlichen Gründen zu folgen ohne dabei Fragen zu stellen, hatte Gracchus nicht gezögert dies zu tun. Selten hatte er Sciurus so aufgeregt gesehen, es schien ihm bald als würde selbst seine Stimme zittern, so dass es wahrlich eine dringliche Angelegenheit sein musste. Zudem hatte er keinerlei Anlass, an den Motiven seines Leibsklaven zu Zweifeln, denn wem konnte er noch vertrauen, wenn nicht ihm? Er hatte sich darum in die bereitstehende Sänfte gesetzt, ohne zu fragen, wohin der Weg führen würde, und einzig der kleine Tross an Sklaven - neben den Trägern gleich zehn an der Zahl, vier mit Fackeln in den Händen, sechs weitere mit Knüppeln - hatte ihn ein wenig in Sorge versetzt, und während die Sänfte um ihn herum leicht schwankte hatte er sich, inspiriert von den vielen in früherer Zeit geradezu verschlungenen griechischen Tragödien, bereits alle möglichen furchtbaren Situationen ausgemalt, in welchen Mitglieder des flavischen Haushaltes in Schwierigkeiten steckten, manches Mal Caius den Protagonisten mimte, manches mal Minervina, Leontia oder Serenus, und in selten Fällen sogar Antonia. Erste Zweifel ob der Vernunft seines Sklaven waren ihm schließlich gekommen, als die Sänfte hinter dem Forum Augustum anhielt und Sciurus darauf bestand, dass sie zu Fuß weiter gehen mochten, denn die gewaltige Mauer hinter dem Tempel des Mars Ultor schirmte nicht nur die Kaiserforen vor der Gefahr der Flammen ab, sie trennte gleichsam das begehbare Rom von jenem, in welches sich Gracchus nur ungern begeben mochte, denn die Subura war kein Ort, welchen ein Mann, der es sich leisten konnte dies nicht zu tun, gerne betrat, beileibe nicht im Dämmerlicht. Doch auch als sein Sklave ihm einen Umhang gab, welcher beinahe bis zum Boden reichte und damit nicht nur den Dreck der Straße an seinem Saum haften ließ, sondern gleichsam den goldenen Halbmond an Gracchus' Stiefel verbarg, und ihn aufforderte, zudem die Kapuze über den Kopf zu schlagen, stellte Gracchus noch keine Fragen, denn obwohl sich zunehmendes Unwohlsein in seiner Magengegend ausbreitete, spürte er gleichsam ein leichtes Kribbeln in den Fingerspitzen und all dies erinnerte ihn ein wenig an jene Zeit, als er heimlich mit Aquilius des nächtens die heimische Bibliothek aufgesucht und im verborgenen Schein einer winzigen Talgkerze gemeinsam mit ihm jene Texte gelesen hatte, welche ihnen anderntags von ihrem Lehrer vorenthalten worden waren, darunter einige höchst pikante Auszüge der Ars amatoria des Ovidius Naso. Die Zweifel verstärkten sich erst wieder, als Sciurus drei der sie begleitenden Sklaven in den Eingeweiden der Subura aufforderte, an einer Straßenecke zu warten, drei weitere zur nächsten Ecke weiter schickte und mit den Übrigen bis zum Eingang einer äußerst schäbigen Insula trat, welche ebenfalls nicht im Mindesten dazu geeignet war, Gracchus Vertrauen einzuflößen. Er bemühte sich, die Wände nicht zu berühren, und mit jeder Stufe, welche sie in dem schmutzigen Wohnhaus empor stiegen, stieg ein wenig Ärger mehr in Gracchus auf, denn Sciurus wusste genau, dass Gracchus hier ebenso wenig verloren hatte wie eine jener afrikanischen Antilopen mit langem, spießartigem Gehörn auf dem Kaiserthron, und der Sklave würde eine äußerst gute Erklärung benötigen, dass Gracchus ihm nicht zürnen und sich zu Dingen hinreißen lassen würde, die er im Anschluss womöglich bereute - welche im Vergleich zu denjenigen Dingen, zu welchen Sciurus sich ab und an hinreißen ließ, jedoch völlig phantasie- und harmlos würden sein, doch davon wusste Gracchus nichts. Endlich blieb der Sklave vor einer der schiefen Türen stehen und schickte sich an zu kopfen, noch immer ohne seinem Herrn eine Erklärung bieten zu wollen, was all dies bedeuten sollte, darum hob jener die Hand und berührte Sciurus an der Schulter.
    "Wenn dies ein Scherz sein soll, so sei dir versichert, dass ich nicht die geringsten Spur von Amüsement verspüre, und dass dies Folgen haben wird."
    Seine Stimme war beinahe ein Flüstern, zudem lange nicht so drohend, wie er es sich wünschte, denn es schein ihm, als könnte die ganze Insula zusammen- oder als würden alle Verbrecher Roms über sie herfallen, sollte er auch nur im geringsten Ansatz seine Stimme erheben. Viel mehr noch, als dass dies ein Scherz war, fürchtete Gracchus, dass dies kein Scherz war, er befürchtete dies nicht nur, er war sich dessen vollkommen sicher, war sein Leibsklave doch allgemein hin ein eher humorloser Zeitgenosse. Dies war nun auch endlich der Zeitpunkt, da Gracchus zutiefst bereute, seinem Sklaven gefolgt zu sein, denn so ungern er dies auch glauben wollte, so mehr drängte sich ihm der Gedanke in den Sinn, dass Sciurus gekauft worden war und er ihm nun geradewegs in sein Verderben folgte. In Rom war sich Gracchus keinerlei Feinde bewusst, doch in den Grenzen seiner kleinen, ein wenig naiven Welt war es durchaus möglich, dass jene aus Creta eigens wegen ihm den weiten Weg auf sich genommen hatten und nun vollenden wollten, was ihnen einst nicht geglückt war. So ließ er seine Hand wieder sinken, versuchte mit der Wand hinter sich zu verschmelzen - jedoch möglichst ohne sie dabei zu berühren, unfähig jeder anderer Aktion.

    Manches mal schien Gracchus sein Sklave reichlich impenetrabel, was einem Sklaven allgemeinhin nicht gut zu Gesicht stand, und manches mal überkam ihn gar das Gefühl, dass Sciurus neben seinem gewohnten Leben in der Villa noch einem anderen Leben nachging, von dem er selbst nichts wusste. Doch schon im nächsten Augenblick konnte Gracchus nur über sich selbst schmunzeln, womöglich war dies ein sublimer Wunsch seinerseits, um ein wenig Aufregung in sein Leben zu bringen, derer er selbst nicht fähig war, jedoch einer jener Sklaven, von welchen man immer wieder einmal hörte, die sich ihren Herren widersetzten und verruchten Taten nachgingen. Im Augenblick, welcher auf diesen Gedanken folgte, war Gracchus jedoch wiederum doch insgeheim froh, dass sein Leibsklave solch ein Muster an Tugend, Unbescholtenheit und Eifrigkeit war, und dies immerhin erst in der zweiten Generation, denn imgrunde schätzte Gracchus Harmonie und Ruhe mehr als Aufregung. Womöglich sollte er bald dafür Sorge tragen, Sciurus eine Sklavin an die Seite zu stellen, denn sobald sich sein eigener Erbe ankündigen würde, musste er auch für ihn über einen standesgemäßen Leibsklaven nachdenken, und wer wäre dafür besser geeignet, als einer von Sciurus' Nachkommen, der gemeinsam mit ihm erzogen wurde? Er würde Sciurus bei seiner Gattin nachfragen lassen, ob jene eine geignete Sklavin mit in die Ehe gebracht hatte, ansonsten fand sich vielleicht im Haushalt seiner Verwandten etwas passendes, womöglich in Leontias Gefolgschaft, dessen man sich bedienen konnte, denn Gracchus selbst besaß keinerlei weibliche Sklaven. Er trank noch einen Schluck, entzündete dann eine weitere Öllampe an der bereits brennenden und stellte diese auf den Tisch, um mehr Licht zu haben und damit möglicherweise auch seine Gedankengänge erhellen zu können.

    Sein Sklave hatte noch nicht mit seiner Frage - welche genau genommen unerhörter weise aus zwei Fragen bestand - geendet, da versteifte sich Gracchus bereits und ließ indigniert seine linke Braue ein Stück in die Höhe wandern. Doch schließlich legte sie sich wieder in gewohnt entspannter Weise über sein Auge und Gracchus deutete seinem Sklaven an, auf dem Stuhl bei ihm am Tisch Platz zu nehmen.
    "Setz dich, Sciurus. Womöglich ist es tatsächlich an der Zeit, dass du über jene Dinge Bescheid weißt, du stehst immerhin lange genug in meinem Dienst."
    Gracchus nahm einen Schluck des verdünnten Weines, welcher in einem Becher auf dem Tisch, jedoch fern der Schriftrollen, seinen Platz gefunden hatte, und richtet seinen Rücken gerade.
    "Animus war um einiges älter als ich. Er befand sich bereits zur Ausbildung fern Roms als meine Schwester Agrippina geboren wurde und auch als ich selbst später das Licht der Welt erblickte. Ich kann mich kaum mehr an ihn erinnern, denn während mich mit Agrippina ein ähnliches Alter verband und wir unsere Kindertage gemeinsam, später auch mit Lucullus, verbrachten, gehörte er bereits zu jenen Jungen, die sich auch zu den Familienfeierlichkeiten nicht mehr mit ihren kleinen Geschwistern abgaben, sondern still und aufmerksam am Tisch der Erwachsenen speisten. Zu Anfang hörte man meinen Vater nur immer voller Stolz über seinen Erstgeborenen sprechen, er trug seine ganze Hoffnung, er war genau jener Erbe, den sich ein Vater nur wünschen konnte, auch in seinen Briefen sprach unser Vater nur immer gut über ihn. Animus stand kurz vor dem Schritt in die Welt der Legio, als er in die Fänge der Christianer geriet. Ich glaube, lange Zeit wusste niemand darum, denn er konnte seinen Werdegang hinauszögern, ohne dass unser Vater auch nur nachfragte, weshalb er dies tat."
    Womöglich war auch dies Animus' Verdienst gewesen, dass Gracchus dies nach ihm nicht mehr so einfach möglich gewesen war, denn regelmäßig hatte er selbst von seinem Vater Vorhaltungen lesen müssen, weshalb er nicht endlich Achaia verließ, um seiner Pflicht nachzukommen.
    "Danach war es ohnehin zu spät. Die Christianer hatten ihn zu ihrem Oberhaupt gemacht, nicht einmal Vater konnte daran etwas ändern. Bischof nannten sie ihn, und auf seltsam abstruse Weise war er ihr Oberhaupt, ohne gleichermaßen über sie zu gebieten. Er war ein törichter Dummkopf, nicht würdig unseren Namen in den Schmutz zu ziehen, und es wäre besser gewesen, wäre er schon als Kind in den Hades gefahren!"
    Wie üblich brachte dieses Thema Gracchus' Gemüt dazu sich zu erhitzen und ihn selbst dazu, dass er sich regelrecht echauffierte.
    "Animus' Andenken mag aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit verschwunden sein, doch es reicht noch immer, die Ehre unserer Familie zu beflecken. Es ist ein Glück, dass er die längste Zeit auf dieser Welt weilte. Er ist irgendwo im Osten untergetaucht, einige Zeit später erhielten wir die Nachricht, dass ihn seine Sektenfreunde zu Grabe getragen haben."
    An jenem Tage hatte Gracchus nicht das geringste Gefühl von Trauer oder Bedauern verspürt, einzig Erleichterung darüber, dass sein Bruder, den er zu dieser Zeit längst nicht mehr als Bruder anerkannte, kein weiteres Unheil mehr anrichten konnte.

    Hochkonzentriert, die Stirn ein wenig gerunzelt und an seiner Lippe knetend las Gracchus den letzten Satz der Schrift und sprach ihn dabei unbewusst leise vor sich hin.
    "Der Mensch indes kennt ungleich unzählige mehr Möglichkeiten, sich selbst zu blenden, ist ihm die Fähigkeit des Truges doch nicht nur hinsichtlich der ihn umgebenden Welt durch die Natur angedacht, doch auch bezüglich seiner eigenen Person."
    Er legte den Kopf ein wenig schief, dachte über eine leichte Variation nach, war sich jedoch des Sklaven zu bewusst, um ihn weiter zu ignorieren, und schaute daher auf, gerade im rechten Augenblicke, wie es schien, denn sobald er seinen Kopf gehoben hatte, tat Sciurus das Gegenteil und begann gleichsam zu sprechen. Die Bitte indes erstaunte Gracchus, denn um eine Banalität in Erfahrung zu bringen, pflegte sein Leibsklave nicht erst um Erlaubnis zu bitten, anderen Fragen jedoch waren oftmals kaum geeignet, von einem Sklaven ausgesprochen zu werden, zudem hatte Sciurus ihm bisweilen noch nie solche eine Frage gestellt. In betonter Langsamkeit ließ Gracchus seine Hand sinken, schob die Schriftrolle bei Seite und antwortete schließlich mit einem Tonfall, welcher beinahe ein wenig gönnerhaft schien.
    "Stelle deine Frage, Sciurus, und hoffe auf eine Antwort, doch sei dir gewiss, dass diese dir nicht in jedem Falle zusteht."

    Der Senat hatte sich für die Verteilung der Ämter entschieden, und es erleichterte Gracchus, dass ihm eines jener Ämter übertragen worden war, um welches er sich im Vorhinein bemüht hatte, denn sich selbst zuständig für die Sauberkeit der Straßen oder für die Verbrecher der Castra zu sehen, dies hätte ihn doch ein wenig bedrückt, wenngleich er auch ein solches Vigintivirat mit aller Energie und Schaffenskraft angeganen wäre. So jedoch konnte er nicht nur voller Tatendrang, sondern gleichsam voller Überzeugung den Amtseid leisten.


    "EGO, MANIUS FLAVIUS GRACCHUS HAC RE IPSA DECUS IMPERII ROMANI
    ME DEFENSURUM, ET SEMPER PRO POPULO SENATUQUE
    IMPERATOREQUE IMPERII ROMANI ACTURUM ESSE
    SOLLEMNITER IURO.


    EGO, MANIUS FLAVIUS GRACCHUS OFFICIO DECEMVIR LITIBUS IUDICANDIS IMPERII ROMANI ACCEPTO,
    DEOS DEASQUE IMPERATOREMQUE ROMAE IN OMNIBUS MEAE VITAE
    PUBLICAE TEMPORIBUS ME CULTURUM, ET VIRTUTES ROMANAS
    PUBLICA PRIVATAQUE VITA ME PERSECUTURUM ESSE IURO.


    EGO, MANIUS FLAVIUS GRACCHUS RELIGIONI ROMANAE ME FAUTURUM ET EAM
    DEFENSURUM, ET NUMQUAM CONTRA EIUS STATUM PUBLICUM ME
    ACTURUM ESSE, NE QUID DETRIMENTI CAPIAT IURO.


    EGO, MANIUS FLAVIUS GRACCHUS OFFICIIS MUNERIS DECEMVIR LITIBUS IUDICANDIS
    ME QUAM OPTIME FUNCTURUM ESSE PRAETEREA IURO.


    MEO CIVIS IMPERII ROMANI HONORE, CORAM DEIS DEABUSQUE
    POPULI ROMANI, ET VOLUNTATE FAVOREQUE EORUM, EGO
    MUNUS DECEMVIR LITIBUS IUDICANDIS UNA CUM IURIBUS, PRIVILEGIIS, MUNERIBUS
    ET OFFICIIS COMITANTIBUS ACCIPIO."

    Obwohl er sich redlich bemühte, es zu verhindern, so war es denn nicht mehr zu verhindern, dass sich Gracchus' linke Braue in jener patrizischen Manier in die Höhe erhob, die gleichsam pikierliches Erstaunen und missbilligende Verwunderung zum Ausdruck brachte. Gleichzeitig revidierte er mit dieser Geste jegliche zuvor gedachten Gedanken, denn Minervinas Ehegatte würde es mitnichten einfacher haben mit seiner Ehefrau, nur würden sich die stillen oder offenen Dispute auf andere Belange verlangern, denn bei Antonia und ihm selbst. Je genauer er darüber nachdachte, desto mehr gelangte er zu dem Schluss, dass eine Ehe vermutlich tatsächlich nicht dazu geschaffen war, einfach und harmonisch zu sein, dass Aristides' Behauptungen also doch der Wahrheit letzter Schluss waren, und um so deplorabler war es einmal mehr, dass Mann und Frau sich zu solcherlei Bündnis zusammenfinden mussten, um den Anforderungen der Gesellschaft genüge zu tun, könnte doch alles so viel einfacher sein, wenn Mann nur seinen persönlichen Neigungen folgen dürfte. Doch es war mühsig, darüber zu sinnieren und bevor Durus auf den Gedanken kam, ebenfalls darüber zu sinnieren, war es besser das Thema wiederum in andere Richtungen zu lenken. Der Abend schien Gracchus darum mehr und mehr wie eine Fahrt durch den Circus, auf welcher nach den kurzen, unkritischen Geraden wieder und wieder die gefährlichen Kurven darauf warteten, die Wägen aus der Bahn zu werfen, und wieder einmal verdammte er im Stillen seinen Bruder, der ihn in jene Position gedrängt hatte als ältester verbliebener Bruder für Minervinas standesgemäße Eheschließung Sorge zu tragen.
    "Tierspiele finden beim Volk immer sehr viel Anklang. Es ist zu deplorabel, dass du Tiberius' Spiele verpasst hast, Minervina, er hatte zudem Naumachia ausgerichtet, welche äußerst famos waren."
    Gracchus selbst hatte keine einzige der Vorstellungen gesehen, er konnte keinerlei kämpferischen Spielen auch nur die geringste Freude abgewinnen, zudem drängte er sich nur äußerst ungern zwischen große, euphorische Menschenmassen - sah man einmal von den Zusammenballungen bei großen offentlichen Opfern ab - doch natürlich hatte er von den Spielen des Tiberius gehört.

    Wohlwollend nickte Gracchus, auch wenn ihm Minervinas hintergründiges Grinsen nicht wirklich gefiel, doch sie war augenscheinlich nicht auf den Kopf gefallen, was jedoch auch weiters nicht verwunderlich war, immerhin war sie eine Flavia. Er griff zu seinem Becher und während er einen Schluck des kühlen Weines zu sich nahm, blickte er wie beiläufig für einen winzigen Augenblick lang zu seiner eigenen Gattin, bezweifelte jedoch, dass sie jemals als starke Frau würde hinter ihm agieren, zumindest nicht zu seinem Vorteil, denn hatten die Claudia sie in die Familie gebracht, um den flavischen Erberfolg zu sabotieren, so konnte man sie in der Tat als durchaus erfolgreich betrachten. Zwar glaubte er nicht an solcherlei, aber Gracchus musste sich durchaus eingestehen, dass ihn jener Gedanke bisweilen schon überkommen hatte. Der Gatte seiner Schwester würde es ungleich einfacher haben, dessen war er sich sicher, wie jeder Mann, der sich einer Flavia an seiner Seite versichert sein durfte, denn jene Frauen waren ungleich unkomplizierter als Antonia, genau genommen waren alle Frauen, die Gracchus kannte oder jemals gekannt hatte, ungleich unkomplizierter als Antonia. Sicherlich, Minervinas Ehemann würde zweifelsohne des Öfteren mit offenem Widerstand zu kämpfen haben, doch nichts war schlimmer als jenes endlose Schweigen und jene tagelange Nichtbeachtung, deren sich Gracchus immer wieder ausgesetzt sah, und über welche er sich so manches mal wünschte, Antonia würde einfach jegliche Gravitas vergessen und laut in die Welt hinaus schreien, was ihr an ihm nicht passte, so dass er es auch endlich wissen würde. Er schluckte diese Gedanken mit dem Wein hinab und blieb mit seinem Blick an der großen Katze hängen, die seit geraumer Weile neben Minervina ruhte. Mit Tieren konnte Gracchus im Allgemeinen wenig anfangen, doch auch wenn ihm Katzen noch lieber waren als Hunde, vor allem jenes zottige Ungetüm seines Neffen Serenus', so war jene Katze doch ein wenig zu groß für seinen Geschmack. Der einzige Vorteil großer Katzen war es, dass man sie in der Arena eines Theaters oder Circus besser sehen konnte, denn dort war seiner Ansicht nach auch der einzig geeignete Platz für solcherlei Tiere, mitnichten jedoch am Speisetisch einer patrizischen Villa. Seinem Neffen Serenus hatte Gracchus dies schon eindringlich verdeutlicht, doch obwohl ihm bereits ein entsprechender Kommentar auf der Zunge lag, vermied er es, Minervina in Gegenwart des Tiberiers zurecht zu weisen. Er würde dies auch später nicht tun, dies wusste er, womöglich würde er eine äußerst sublime Andeutung diesbezüglich fallen lassen, doch alles andere würde ohnehin nur Minervinas Trotz herausfordern, was zwar nicht sonderlich schwer war, Gracchus jedoch als auf die Dauer äußerst ermüdend erschien. Mit einem subliminal belustigten Tonfall wandte er sich Durus zu.
    "Du siehst selbst, Tiberius, Minervina sorgt sich bereits jetzt um die Finanzierung großer Spiele ihres zukünftigen Gatten. Große, fremdländische Tiere sollen immerhin nicht gerade günstig sein, doch für adäquate Spiele braucht mal allgemeinhin einige davon."

    Jene Frage, welche Durus in den Raum stellte, war eine äußerst interessante, denn Gracchus wusste selbst nur wenig von Minervina. Er haderte noch mit sich, was er lieber sehen würde, dass sie dem Epikur zu- oder abgeneigt wäre, denn wie auch mit seinem eigenen Leben konnte Gracchus bei der Philosophie sich noch keiner festen Richtung anschließen. Je mehr und je intensiver er sich mit den verschiedenen philosophischen Richtungen befasst hatte, desto diffiziler schienen ihm die Unterscheidungen, doch desto mehr stellte er fest, dass er keiner Schule gänzlich zustimmen, ebenfalls jedoch keine gänzlich ablehnen konnte. Er war kein radikaler Mensch, der sich einmal einer festen Überzeugung angeschlossen diese bis zum letzten Punkt rigoros vertreten würde, er bevorzugte seine Meinung und seine Handlungen seinem Wissen gemäß zu adaptieren, und so sich dieses änderte mochte sich auch jenes ändern, ganz dem panta rhei des Platon folgend, ohne dabei jedoch wankelmütig zu sein. Dennoch hoffte er, dass Minervina nicht ihren Gatten in den Ränken des Machtkampfes zugrunde gehen lassen, sondern wie einer Flavia würdig hinter ihm stehen und höchstens im rechten Moment von seiner Seite hinfort treten würde, so dass er bei seinem Ruin nicht mehr ihr Gatte war.