Beiträge von Manius Flavius Gracchus

    Gracchus kannte die Braut nicht - eine Enkelin des Menecrates war alle Information, die ihm bekannt war -, konnte darob auch nicht abschätzen, ob sie Gefahr lief sich von Prisca den Rang der schönsten Dame auf der Hochzeit ablaufen zu lassen. Zweifelsohne würde sie jünger sein. Die Aussicht, den morgigen Tag ganz entspannt zu genießen sagte dem Flavier durchaus zu, denn nach den langen Wochen der Einsamkeit freute er sich nun doch ein wenig auf die gesellschaftliche Kurzweil, insbesondere zu diesem familiären Anlass.
    "Polla?"
    fragte er sodann, die linke Braue etwas empor hebend.
    "Oh ja, sie ist eine überaus angenehme Person."
    Zwar hatte Gracchus sie schon eine Zeit lang nicht mehr gesehen, doch auf familiären Feierlichkeiten gehörte Polla zweifelsohne zu jenen Frauen, welche etwas zu geistreicher Unterhaltung hatten beizutragen statt nur dekorativ neben ihrem Gatten zu sitzen. Weiters indes hatte er nichts zu ihrer Ankunft zu sagen, ging er in diesem Augenblick doch davon aus, dass sie zu Scatos Hochzeit war angereist.
    "Nun, so will ich dich nicht länger von deinem Schlaf abhalten"
    , lächelte er sodann wieder liebevoll und hob noch einmal die Hand, um über ihre Wange zu streichen, da es ihn drängte die verspürte Verbundenheit mit Prisca noch einmal inniglich zu genießen.

    Priscas Worte hallten nach in Grachhus' Sinnen und nährten in ihm weiter das Sentiment heimeligen Wohlbefindens.
    "Und ich schätze mich wahrhaft glücklich, dass du Teil meiner Familie bist"
    , quittierte er ihre Worte indem er seine eigenen Gedanken aussprach, ehedem ein schelmisches Lächeln seine Lippen kräuselte.
    "Ich werde morgen ein wenig an mich halten müssen, schlussendlich soll es doch Scato sein, welcher der glückli'hste Mann auf der Hochzeit ist."
    Letztlich musste Glück nicht zwangsläufig mit einer Eheschließung einhergehen, dennoch war es einer der guten Wünsche, welchen die Gäste dem Brautpaar mit auf den Wege gaben.
    "Gibt es noch etwas, das ich wissen sollte, ehedem wir uns morgen gemeinsam in die römische Gesellschaft wagen?"
    In Baiae hatte Gracchus Informationen jeglicher Herkunft keinerlei Aufmerksamkeit geschenkt, gegenteilig sie nicht einmal hatte vernehmen wollen, ob dessen er abgesehen von den Gegebenheiten in der flavischen Villa kaum über Neuigkeiten in Rom war orientiert. Gleichwohl vertraute er Prisca, dass jene seine Interessen konnte abschätzen und vor etwaigen Fauxpas ihn würde bewahren können.

    In ihrem seidenen Nachtgewand, von erster Nachtruhe noch leicht benetzt, das Haar nicht in Unordnung, doch auch nicht gebändigt, glich Prisca einer epiphanen Erscheinung, einem transluzenten Wesen aus zarten, zerbrechlichen Traumgefilden entstiegen. Gracchus war nicht sicher, was er hatte erwartet, doch ihr minniglicher Empfang, ihre behutsame Berührung vermochten den anheimelnden Augenblick des Nachhausekommens weiter zu steigern.
    "Ich habe erwartet, dass du während meiner Absenz ein wenig älter geworden bist, doch es scheint mir, dass du keinen Tag ohne mich hast ver..lebt, dass du die Zeit nicht in Alter wandelst, sondern in Anmut."
    Er fasste ihre Schultern und zog sie sanft zu sich, ihr einen Kuss auf die Stirn zu hauchen. Ihr Haar duftete nach einem zarten Hauch von Pfirsich, ihr Körper berührte warm und weich den seinen und in diesem Augenblicke der Verzückung schien es der einzig passende Leib, um in seinen Armen zu liegen.
    "Ich hatte nicht erwartet, dass es mich so sehr nach euch sehnt"
    , gestand er leise.
    "Das Haus in Baiae ist formidabel, die Landschaft schon immer wunderschön, die Luft frisch und rein, das Meer endlos und die heißen Quellen eine Wohltat. Doch ohne meine Familie war es letztli'h nur eine triste Einöde, welche nicht vermag die Sinne zu klären, gegenteilig sie verklärt und verquert. Ich habe euch so sehr vermisst, dich und Minimus, Scato, meine Heimstatt."
    Die Erkenntnis dessen war ein langsamer Prozess gewesen, doch spätestens mit Minors Besuch ihm bewusst und nach dessen Abreise schmerzlich gewesen. Letztendlich waren es allfällig nicht einmal einzelne Menschen, welche dies Sentiment in ihm formten, es war das gesamte Konstrukt aus vertrautem Raum, vertrauter Gesellschaft, vertrauten Konstellationen und Mechanismen, ein Netz aus familiärer Obhut, in welches er war eingewoben, welches selbst ihn in seiner Rolle als pater familias und Herr des Hauses sicher und geborgen trug. Behutsam strich Gracchus eine Haarsträhne hinter Priscas Ohr und berührte dabei ihre Wange. Sie war noch immer so schön - insbesondere wenn sie lächelte wie in diesem Augenblicke -, so wunderschön dass allein ihr Anblick ihn enthusiasmierte. Der Grund ihrer Ehe mochte ein rational zwingender gewesen sein, doch in diesem Moment schätzte Gracchus sich überaus glücklich ob seiner wundervollen Gemahlin.

    Obgleich in den Wirtschaftsräumen zweifelsohne noch geschäftiges Treiben herrschte waren die Wohnräume der flavischen Villa von einer behaglichen Stille erfasst, untermalt von dem leisen Knistern der Kohlen in den Feuerschalen, dass selbst Sciurus' sonstig unhörbaren, leisen Schritte den Flavier aufmerken ließen.
    "Deine Gemahlin ist noch wach, Herr. Soll ich sie herunter beordern?" fragte der Sklave ohne Umschweife.
    "Aber nein"
    , schüttelte Gracchus vergnüglich den Kopf.
    "Ich möchte ihr keine Umstände bereiten. Ich werde sie aufsuchen."
    Beschwingten Schrittes strebte er dem seitlichen Flügel zu, nahm die Treppenstufen ehrfürchtig und achtsam als besteige er einen heiligen Berg, sog auf der letzten Stufe noch einmal tief die Luft ein, jene traute Melange aus römischer Pracht und flavischer Herrlichkeit. Mit jedem passus, welchen er weiter in das Innere des Hauses vordrang, wurde das heimelige Gefühl größer und größer, bis dass er vor jener Türe zu stehen kam, deren hölzerne Maserung ihm so traut war. Noch immer kannte er jedes einzelne Detail, jede dunkle Anhöhe, jede helle Vertiefung, jede Linie und jede Rundung. In seinem Gedankengebäude gab es einen Raum, welcher diese Maserung exakt in ein Labyrinth projizierte, welches er so oft hatte durchschritten - zögernd, hoffnungsvoll, freudig oder gar voller Furcht -, dass er die einzelnen Gelegenheiten längst nicht mehr aufzuzählen wusste. Er kannte jede Faser, jede Rundung, jede Gerade und jede Abzweigung des hölzernen Weges bis zum Türgriff empor und selbst darüber hinaus. Auch nun betrat er diesen in sich verschlungenen und gefalteten Wege von der Schwelle her, folgte der ersten Geraden, nahm sodann die Abzweigung links bis hin zu einem Riss, kaum sichtbar und doch eine rechte Fallgrube für jeden unbedachten Geiste. Gracchus indes war nicht unvorbereitet, setzte mit einem behänden Schritt hinüber und setzte unbeirrt seinen Weg fort. Alsbald angelangt auf halber Höhe der Türe zögerte er nur einen kurzen Moment, klopfte sodann, und als er vermeinte eine leise Stimmen zu hören trat er sogleich in das Gemach Aurelia Priscas ein, ungeachtet dessen dass er den tatsächlichen Wortlaut der Antwort nicht hatte vernommen.
    "Teuerste Gemahlin"
    , grüßte er eben jene wohlgemut.
    "Ich hoffe, ich störe dich nicht zu so später Stunde, doch drängt es nach meiner Rückkehr primär deines Wohlbefindens mich zu versi'hern."
    Gracchus' eigene Erscheinung zeugte nicht von jener Konvaleszenz, welche in Baiae er sich hatte erhofft, lag noch immer ein diffuser Schatten über seinem Antlitz. Auf Wochen und Monate des Trübsinns und der Melancholie waren die mehr als zehrenden Tage der Erkenntnis seiner surrealen Imagination gefolgt, durchbrochen von klärenden Tagen im Beisein Minors, welche alsbald indes wieder waren übergegangen in ein Stadium physischer Malaise. Gracchus' Antlitz war fahl, leichte Schatten lagen unter seinen Augen, doch in ihnen glimmte ein Funke unbändiger Euphorie über die Rückkehr nach Hause und auf seinen blassen Lippen trug er ein sublimes Lächeln.

    Vor Wochen im fernen Baiae war der Plan zur gemeinsamen Rückkehr der Gracchen gefasst worden, doch das Leben verlief nicht stets in geplanten, geradlinigen Bahnen. Am Tage vor der Abreise umfasste ein Dunst Leib und Seele des Vaters, welcher alsbald als winterliche Grippe sich offenbarte. Zwei Tage noch verharrte Minor in Baiae, am dritten indes mochte er die Reise nicht mehr länger aufschieben, um nicht seiner Pflichten als Magistrat Roms sich zu entziehen. Ungeduldig und missmutig blieb der ältere Gracchus zurück, ließ nach viel zu wenigen Tagen der Ruhe die Warnungen des Medicus außer Acht, um sich erneut auf die Reise vorzubereiten, was indes sein geschwächter Leib mit einem neuerlichen, diesmalig noch heftigeren Aufflammen der Grippe quittierte. Tage und Wochen zogen ob dessen nochmalig in das winterliche Land, ehedem Gracchus endlich den nächsten Versuch mochte wagen - angestoßen durch die freudige Nachricht über Scatos baldige Eheschließung, welche gerade noch rechtzeitig das Landgut erreichte. Die Reise verlief ereignislos, ein wenig gehetzt für Tiere und Kutscher ob der terminlichen Eile, für den Flavier indes geradezu öde, doch eben ob dessen ganz zu seinem Wohlgefallen. Der Reisewagen erreichte Rom einen Tag vor dem Hochzeitstermin zum späten Abend, beinahe schon zur Nacht hin, ob dessen Gracchus bis vor die Tore der Villa Flavia darin konnte verharren. Ein wohliges Prickeln durchströmte seinen Leib als er schlussendlich vor der Türe zu seinem Heim stand, und als er das Vestibulum und hernach das Atrium des heimischen Hauses betrat, glaubte er beinahe seine Sinne müssten zerspringen. Seinen Nasenflügel bebten, sein Herz flatterte und vor seinen Augen flimmerte der Raum als schiebe die Vergangenheit sich über die Gegenwart. Endlich zu Hause. Zu Hause, so süß und berauschend wie der pastellige Duft von Mandelblüten im Frühling, tief golden klingend wie der samtige Schimmer eines Tautropfens am filigranen Blatte einer Rose im transluzenten Morgenlicht, traut wie der mächtige Flügelschlag eines edlen Graureihers, der sich behäbig aus der Flussaue empor hebt und gewichtig in den Himmel davon gleitet, zart umhüllend wie das Tropfen des Herbstregens auf die tönernen Ziegel des Daches. Mit jedem Schritt in das Haus hinein versank Gracchus tiefer und tiefer in einem Meer aus Sentiment, in einem elegischen Choral purpurner Sternhyazinthen, im güldenen Honigtau eines tiefblauen Frühlingstages liebkost vom zarten Kuss der Sonne, im weichen Flaum eines neugeborenen Lammes, in den labyrinthenen Rillen eines alten Pinienstammes, in den bedeutsamen Kraterspuren eines Regenwurms in tiefschwarzer Erde nach einem sommerlichen Schauer. Zu Hause. Die Räume waren bereits präpariert und geschmückt für den kommenden Hochzeitstag, doch Gracchus schien als würde das Haus seine Ankunft feiern. Beinahe überschwänglich trat er zu der Büste seines Vaters und küsste den kalten Marmorkopf auf die Stirn.

    Die Stirn des älteren Gracchus legte sich in Falten als er derangiert seinen Sohn fixierte, die Couleur seiner Stimme mit jedem Worte an Verzweiflung gewann.
    "Valerianus und Vescularius, Minor! Valerianus und Ves..cularius, dies waren diejenigen, welche wir zum Wohle Roms beseitigen wollten. Und die Augusta und der Caesar sollten die einzigen Opfer in unserem Vorhaben sein, die einzigen! Einer von uns allfällig, dies wäre ein annehm..barer Preis gewesen, allfällig auch unser aller Leben - doch ein Bürgerkrieg, Minor! Ein Bürgerkrieg! Unzählige Tote und Ver..letzte, Leid über Tage und Wo'hen und Monate, Leid, welches bisweilen noch bis heute hin na'hhallt! Ein tiefer Riss in der römischen Seele! Und Cornelius ... bei allen Göttern, ich ... war bald nicht mehr sicher, ob Cornelius ge..eigneter war als Valerianus. Anders, zweifelsohne, doch besser?"
    Mit jedem Tage der Herrschaft des Corneliers glaubte er die Gier in dessen Augen zu entdecken, die Kungelei wie eh und je. Doch allfällig war sein Blick nur von ihrer gemeinsamen Schuld getrübt.
    "Hat unsere Konspiration ein gutes Ende genommen? Ich bezweifle es, Minimus"
    , bekannte er traurig.
    "Die Welt wäre ohne uns in eine Misere verfallen, zweifelsohne, sie hätte einen hohen Preis bezahlt, doch irgendwann wäre sie auch daraus wieder erwa'ht. Unser Preis war hoch, viel zu hoch. Ich ... ich kann nicht glauben, dass der Preis eines anderen Verlaufes der Geschi'hte ebenso übermäßig wäre gewesen."
    Er seufzte tief.
    "Darob warte ich, Minor, warte darauf, dass eine ausglei'hende Gerechtigkeit mich ereilt. Doch nichts geschieht. Antonia und Flamma haben den ... Tod gefunden, doch solcherart Sterben umfing mich auch zu früheren Zeiten. Bisweilen erwägte ich, mir schlichtweg ein Gladius in den Leib zu treiben oder ... vom tarpeischen Felsen zu springen, doch ... doch was würde es nützen? Die Menschen würden einen Augenblick in Verwunderung ver..harren, ehedem sie meinen Leichnam in großem Trauerzuge durch Rom würden tragen, mein Leben feiern und mich neben meinen Ahnen bestatten und ehren."
    Allfällig war das Verharren im verborgenen Unrecht, jeder Augenblick, jeder Herzschlag in welchem er das Flüstern der Toten konnte hören seine Nemesis, welche ihn längst mit ihren qualvollen Armen umfangen hielt.
    "Irgendwann habe ich schlichtweg versu'ht, meinen Pflichten weiter nachzukommen, mehr als je zuvor Rom zurückzugeben, was ich genommen hatte. Doch ich bin dieser Pflichten so müde, Minor."
    Seine Schultern sanken herab, wie sein ganzer Leib wieder ein wenig tiefer in das Wasser hin absank. Bisweilen schien ihm, das Leben in Rom raste einer Quadriga gleich durch den Circus des Lebens während er zu Fuß versuchte Schritt zu halten, wieder und wieder nur konnte hernachblicken wenn es in einer weiteren Runde an ihm vorbei zog.

    "Nun
    , setzte Gracchus auf den Wunsch seines Sohnes also auch den zweiten Teil der Misere fort.
    "Während unserer Flucht aus Rom gab es kaum Gelegenheit zu sinnieren, was geschehen war. Alle Gedanken galten nur unserem Leben, dem Ansinnen dich und Flaccus in Si'herheit zu bringen. In Mantua jedoch, als diese Sicherheit gegeben war, wurde mir schlichtweg das gesamte Ausmaß meines Schaffens und Scheiterns be..wusst. Wir ... wir hatten wahrhaftig einen Bürgerkrieg heraufbeschworen, jenes grauenvolle Ver..hängnis, welches im römischen Gesellschaftsgeiste in seiner Schwere noch weit vor jedem Kriege mit Barbaren, gar selbst vor einem Unfrieden mit den Göttern rangiert. Gleichwohl war ich ma'htlos, ein Theoretiker der Kriegskunst - und kein besonders guter dazu -, ein Mann des Staates und des Cultus, augenscheinlich nicht geschaffen einen Anteil an jener Schlacht zu schlagen, welche unauswei'hlich geworden war."
    Zweifelsohne hätte nicht mehr allzu viel gefehlt, dass Gracchus über diesen Umstand seinen Verstand hätte verloren, insbesondere über die Untätigkeit, welche in Mantua ihm war auferlegt worden.
    "Als jedoch in einem der Berichte aus Rom wurde erwähnt, dass Vescularius Decimus Serapio zu seinem Praefectus Praetorio hatte ernannt, wusste ich, dass dies meine einzige, wenn auch überaus geringe Chance war, die Zukunft noch zu einem besseren zu wenden. Glei'hwohl konnte ich nur allein nach Rom zurückkehren, konnte nicht riskieren, dass du zu einem Druckmittel in den Händen des Vesculariers wurdest. Du warst - und bist - die Zukunft unserer Familie, der wichtigste Antrieb meines Schaffens. Ich war mehr als froh, dass du wohlbehalten in Mantua warst angelangt, und ich war überzeugt, dass es in diesen Tagen für dich nirgends mehr Schutz gab als im Schatten der Legion um Aurelius Ursus. Deswegen ... ließ ich dich dort zurück."
    Hätte nicht Flaccus schon damals mit dem Fieber gekämpft oder wäre gar Sciurus bei ihnen gewesen, zweifelsohne hätte Gracchus seinen Sohn noch weiter fort von Rom hätte wissen wollen.
    "Ich bin zurück nach Rom geritten. Einem Strauchdieb similär schlug ich mich durch die Provinz, nä'htigte unter freiem Sternenhimmel, suchte die großen Straßen zu meiden und schlichtweg die rechte Richtung zu halten. Ich weiß nicht wie, doch augenscheinlich hatten die Götter mich nicht gänzlich verlassen, denn irgendwie schaffte ich es tatsächlich nach Rom. Gleichwohl mich dies in neuerliche Schwierigkeiten brachte, da ich einerseits eine Nachricht zur Castra musste senden, andererseits schlichtweg nicht wusste, wo die Casa der Decimer lag, und darüberhinaus stets musste befür'hten, auf der Straße erkannt zu werden. Allfällig hatten die Götter an mir ihren Spaß, denn irgendwie schaffte ich auch dies zu überleben und an der Porta der Casa Decima anzugelangen."
    Er suchte sich an diese Tage zu entsinnen, doch sie waren verschwommen und blass. Er hatte mit Menschen gesprochen, deren Art er in seinem ganzen Leben nicht eines Blickes hatte gewürdigt, hatte die Existenz seiner Füße und seines Rückens verspürt wie niemals zuvor.
    "Ich wählte einen Namen, von welchem ich wusste, dass Faustus ... dass Decimus Serapio ihn würde erkennen, gleichwohl würde wissen, dass dieses Versteckspiel notwendig war. Wir hatten zuvor uns sehr lange nicht mehr gesehen, dennoch folgte er meiner Bitte ohne ein Aufgebot an Praetorianern mit sich zu bringen."
    Ein schmales, wehmütiges Lächeln umspielte seine Lippen in Gedanken an Faustus. Faustus. Viel zu lange schon waren sie wieder voneinander getrennt, viel zu lange. Gracchus vermisste ihn, vermisste ihn so sehr, dass ihn schmerzte auch nur an ihn zu denken, ob dessen er sonstig sich verbat dies zu tun.
    "Ich suchte ihn davon zu überzeugen, dass es keine rechte Seite gab in diesem Konflikt, indes Vescularius' Ma'henschaften nur in eine düstere Zukunft konnten führen, und dass er, in seiner Position als Praefectus Praetorio die gesamte Zukunft mit einem kurzen Streiche würde wenden können. Ich ... ich gestand ihm nicht das gänzliche Ausmaß, doch genügend um die in ihm bereits vorhandenen Zweifel zu mehren. Indes, Faustus war kein Idealist, er war ein Soldat. Keiner von jenen, welche blindlings Befehlen gehorchen, doch einer, der mit Leib und Seele dem Wohle des Reiches diente - und dieses Reich wurde nun einmal augenscheinlich rechtmäßig von Salinator regiert, welcher einen Augustus hatte beerbt, der samt seiner Familie durch ein heim..tückisches Gift war zu Tode ge..quält worden. Zumindest war Faustus' Vertrauen groß genug, mich nicht auszuliefern, gegenteilig mich in seinem Hause verborgen zu halten als unauffälliger, unerkannter Gast."
    Es war wohl eher die Liebe zwischen ihnen gewesen, welches dieses Handeln hatte evoziert, doch das Gewicht der Wahrheit war an diesem Tage bereits schwer genug als dass der ältere Gracchus gegenüber seinem Sohne noch mehr davon auf seine Schultern mochte aufladen.
    "Gewiss hätte ich ihn persuadieren können, einige Tage noch, ein oder zwei Wochen etwa, doch dann kam der sonderbare Befehl, die Garde müsse Rom verlassen und nach Norden ausrücken. Ich blieb zurück, weiterhin verborgen in der Casa Decima, ein sonderbares Taumeln zwischen Verleugnung und Retardierung meiner Existenz und dem Geschehen außerhalb des Hauses, bis zu jenem Tage an welchem Cornelius' Truppen Rom ver..ver..wüsteten."
    Der Gedanke an diesen Tag ließ Gracchus noch immer erschauen, gleichwohl sein eigenes Grauen des Krieges zweifelsohne nur ein Hauch war gewesen im Vergleich mit dem, was andere hatten erleben und erdulden müssen. Weit schwerer indes als alle bloße Gewalt dieses Tages wog noch immer, dass eben jene Gewalt von Cornelius' Truppen war begangen worden, jenen Männern, welche Gracchus im Zenit der Konspiration hatte auserkoren, Rom Frieden, Wohlstand und eine glänzende Zukunft zu bescheren, jenen Männern, welchen er Rom und seine Bürger hatte anvertraut.
    "Zweifelsohne ist dir jener elysäische Augenblick ver..traut, wenn du aus einem grauenvollen Alb in den neuen Tage erwachst, den Nachtmahren entronnen und erleichtert, dass der Schrecken vorüber ist. Ich erwachte damals aus einem gnädigen Traum geradewegs hinein in den Albtraum, welchen ich selbst hatte ge..schaffen. Gemeinsam mit Decimus Casca konnte ich aus der Casa Decima fliehen, zurück in die Villa Flavia, wo wir auf das Ende des Grauens warteten, denn dort standen wir für diesen Augenblick zumindest wieder auf der rechten Seite. Für Rom kam dieses Ende vorerst mit Cornelius Palma - kein glückliches Ende, doch zumindest ein erträgliches. Ich selbst indes suchte zurück in Verleugnung zu ver..sinken, doch letztendlich wartete ich tagein, tagaus nur auf die Nemesis."
    Er senkte den Blick, die Last seines Lebens schwer auf seinem Leib spürend.
    "Letztendlich ... habe ich niemals davon abgelassen."
    Womit der Kreis geschlossen war zu all dem Wahn, welcher noch immer sein Herz trübte und ihn Rom entzog. Er versuchte ein verbrämendes Lächeln sich abzuringen, doch wollte es nicht recht ihm gelingen.

    Gracchus hob irritiert eine Braue.
    "Aber nein"
    , schüttelte er den Kopf.
    "Vinicius war nur als Sündenbock auserkoren. Ich weiß nicht, ob Vescularius Salinator ihn von Beginn an dafür hatte ausersehen oder ob Tiberius' ihn hatte ausge..liefert. Wäre Vinicius in Vescularius' Plan eingeweiht gewesen, hätte er eben so schnell nach dem Attentat verschwinden müssen wie Durus. So indes konnte der Vescularier ihn im Carcer schma'hten lassen, da keinerlei Gefahr von ihm ausging - dann hätte er gestanden, so hätte Vescularius nur das Geständnis eines Verschwörers erhalten, während Tiberius' Geständnis ihn selbst in Misskredit hätte gebracht."
    Er bewegte mit seinen Händen ein wenig das Wasser vor sich.
    "Ich frage mich noch immer was der Vescularier Durus verspro'hen hatte, um ihn zu einem Verrat an seinen Freunden und Klienten zu verführen."
    Nicht lange ließ er die Frage im Raume stehen.
    "Doch wir werden dies wohl niemals erfahren."

    "Ja"
    , entgegnete der ältere Gracchus ohne Zögern.
    "Valerianus' Tod war meine Bedingung, an jenem Unterfangen mitzuwirken."
    Er ließ sich wieder gänzlich zurück in das Wasser sinken.
    "Als ich sie einforderte offenbarte sich indes, ich war nicht der einzige, welcher diese Notwendigkeit sah und... und so wurde ich Teil jener Konspiration, welche zum Ziel sich setzte, zum Wohle Roms den Augustus zu er..morden."
    Einen Herzschlag lang ließ der Flavier diese Worte in sich nachklingen. Auch nach all den Jahren, nach all den Geschehnissen, dem Leid und dem Tod, welche dies hatte letztendlich verursacht - zu jener Zeit und jenen Gegebenheiten war nichts anderes mehr möglich gewesen.
    "Ohne das Wissen darum, was herna'h geschah, würde ich auch heute wieder diese Entscheidung treffen. Und mit jenem Wissen ..."
    Er schüttelte kurz den Kopf.
    "Auch dann würde ich diese Entscheidung erneut treffen, schlichtweg die Vorbereitungen und Realisierung korrigieren, obgleich wir auch damals nicht unbeda'ht zur Tat schritten. Wir trafen uns einige Male, ersannen Pläne und Strategien, durchdachten Möglichkeiten und Optionen, erwogen Risiken, Vor- und Nachteile. Keine Entscheidung war lei'htfertig getroffen, eine jede wurde nach Für und Wider beurteilt. Es ist wohl eine Ironie des Schicksales, dass gerade auch die Gefahr eines dräuenden Bürgerkrieges uns überaus präsent war, dass darob alles auf solidem Grund sollte er..richtet werden. Über Wochen und Monate hinweg trafen wir Vorbereitungen, suchten weitere Gesinnungsfreunde, nicht alle davon in alle Details eingeweiht, doch genügend dass wir darauf konnten ver..trauen eine solide Basis für unser Vorhaben geschaffen zu haben. Letztendlich war der Plan gefasst, der kaiserlichen Familie ein ... Gift durch einen der Haussklaven verabreichen zu lassen."
    Bedauernd schloss Gracchus kurz seine Augen und sog tief Luft in seine Lungen.
    "Ein Gift, welches schnell und ohne Schmerzen sollte töten. Der Mord schlussendlich sollte Vescularius angelastet werden, was durchaus riskant war, da er nicht wenige Leibwä'hter und Soldaten hatte um sich versammelt. Um hernach ein fruchtbares Fundament für Roms Zukunft zu schaffen, fälschten wir zudem das Testament des Augustus. Für Tiberius als Pontifex pro magistro war es nicht allzu schwer, dieses Testament gegen das originäre zu tauschen. Weitaus delikater war die Wahl eines viablen Mannes, welcher Rom in seine Zukunft konnte führen. Letztendlich ent..schieden wir uns für einen Mann außerhalb unseres originären Kreises, für Cornelius Palma."
    Auch dies schien damals eine gute Entscheidung gewesen zu sein, später war Gracchus sich dessen nicht mehr gänzlich sicher.
    "Ich wollte zudem für das Konsulat kandidieren. Dies ... dies hätte alles so viel einfacher und sicherer gemacht. Doch Vinicius ..."
    Ein verächtliches Schauben echappierte ihm.
    "Vinicius Lucianus suchte ein weiteres mal das Konsulat zu erlangen nachdem wir ihn nicht hatten zum nächsten Augustus designiert. Tiberius bat mich ob dessen nicht in Konkurrenz zu ihm zu treten. Bis heute werfe ich mir vor, dass die Partizipation des Viniciers mich von Beginn an hätte stutzig machen müssen, denn wie hätte im wahren Leben ein Mann wie Tiberius Durus dem Vinicier ver..trauen können!"
    Wieder seufzte er.
    "Nun, er wurde selbstredend nicht gewählt, und wir mussten uns auf jenes Konstrukt verlassen, welches wir sonstig hatten geschaffen. Als wir ein letztes Mal zusammen kamen schien dieses Konstrukt durchaus solide. Indes, als die Zeit der Ver..änderung kam, schlug alles fehl. Das Gift tötete nicht schnell und schmerzlos, die Nachricht des kaiserlichen Todes gelangte nicht direkt zu uns, sondern zu Vescularius, dass bis wir konnten reagieren er längst seine eigenen Pläne hatte verfolgt, das Testament war nicht getauscht worden, respektive gegen eines das Saliniator be..günstigte."
    Gracchus sank noch ein wenig tiefer in das Wasser hinein, ließ seinen Kopf zurücksinken bis dass er auf dem Beckenrand zu liegen kam, und starrte zur Decke empor.
    "Wir waren verraten worden. Erst sehr viel später realisierte ich, dass die gesamte Konspiration von Beginn an eine Finte des Vesculariers war gewesen, um nicht nur sich des Augustus zu ent..ledigen, sondern einiger seiner Opponenten dazu. Wir waren nur Marionetten gewesen in einem Stück, geschrieben und dirigiert von Vescularius Salinator, ausgeführt und gelenkt von seinem Puppenspieler Tiberius Durus."
    Er senkte seinen Blick wieder und fixierte Minor.
    "Durus hätte sich niemals selbst geri'htet nur weil die kaiserliche Garde vor seiner Türe steht! Sie haben ihn exekutiert, noch in seinem eigenen Hause, da er der einzige war, welcher die gesamte schändliche Wahrheit hätte ent..hüllen können. Bis heute indes weiß ich nicht, welch abominabler Zwang Tiberius in die Fänge des Vesculariers hatte getrieben, doch aus seinem Verrat resultiert alles Scheitern."
    Gracchus mochte nicht weiter über Durus sinnieren. Ungeachtet all des Leides, welches der Bürgerkrieg, welches er hatte verursacht, lastete der Verrat seines Freundes ihm schwer auf der Seele, hatte er bis zu diesem Tage jegliches Vertrauen in das Konzept der Freundschaft verloren.
    "Was hernach folgte ist offiziell Geschichte"
    , schloss er sein Bekenntnis ab, denn die Konspiration war mit Valerianus' Tode zerschlagen worden. Die nachfolgenden Geschehnisse mochten durchaus durch ihre Vorarbeit beeinflusst worden sein, doch nichts geschah mehr im Verborgenen.

    Nur marginal hob Gracchus' Mundwinkel sich mit den tröstlichen Worten seines Sohnes, ehedem die Wellen dessen Bewegung ihn ein wenig aus seiner Erinnerung rissen, dass er den Blick wieder erhob. Nie zuvor hatte er einem Uneingeweihten die perniziösen Details jener Geschehnisse berichtet, schlussendlich lag in deren Brisanz noch immer ein Funken Gefahr solange er würde leben. Gleichwohl dräute jene Fährnis ebenso seinem Sohn, allfällig nicht in aller Konsequenz und Härte, doch auch der Sohn eines Kaisermörders würde im Angesicht dieser Wahrheit fallen.
    "Ich habe stets versucht dich und deine Geschwister zu schützen"
    begründete er sein bisheriges Schweigen.
    "Doch ... zweifelsohne bist du nun genügend umsichtig, um mehr Si'herheit aus der Wahrheit zu gewinnen als aus dem Unwissen."
    Der ältere Gracchus ließ ein wenig sich tiefer sinken in das Wasser, dass sein Kinn beinahe schon die schimmernde Oberfläche berührte. Unbeachtet von ihm sandte indes Sciurus mit wenigen leisen Worten die Sklaven aus dem Raum, welche abgestellt waren für das Wohl ihrer Herren Sorge zu tragen. Zuletzt postierte der Vilicus sich neben der Türe, so dass niemand ohne sein Einverständnis würde hinein- oder hinausgelangen.
    "Alles nahm seinen Anfang mit Valerianus. Aelianus Valerianus"
    , präzisierte Gracchus, waren jene Aelier an sich doch bereits für jeden Flavius ihrer Familie ein Grund Misstrauen und Ressentiments zu hegen, da einer ihrer Vorfahren maßgeblich für den Sturz der flavischen Dynastie war verantwortlich gewesen.
    "Zu Beginn seiner Regentschaft schien er durchaus adäquat, letztendlich hatte Iulianus ihn lange Zeit gewissenhaft auf diese Pfli'ht vorbereitet. Doch sukzessive, schleichend zuerst doch alsbald mehr als deutlich, begann der Augustus ver..antwortungslos zu werden, seine Pflichten zu vernachlässigen, in gleichgültige Lethargie zu verfallen, sich nicht zu scheren um das Wohle Roms und seiner Bürger, gar die Götter zu ignorieren. Er ... er retirierte aus dem Leben, zog in Isolation sich zurück und, was noch weitaus bedenklicher war, bestellte einen herrschsü'htigen Kretin zu seinem Stellvertreter. Mehr noch als Valerianus' Absenz untergrub die Macht- und Habgier des Vescularius kontinuierlich die Stabilität und das Wohlergehen des Imperiums. Zu Beginn war dies alles unscheinbar, unauffällig, und als seine Absichten offenbar wurden, da war es längst zu spät ihm offen Einhalt zu ge..bieten, da er bereits in beinahe allen relevanten Ämter seine Handlanger hatte positioniert. Die einen fraßen dem Vescularier aus der Hand, genossen Ver..gütungen und Privilegien - zumeist ohne den zugehörigen Pflichten nachzukommen -, die anderen schwiegen oder wurden zum Schweigen gebracht. In diesen Tagen schwieg ich viel zu oft."
    Er seufzte einen Augenblick, ehedem er fortfuhr.
    "Eines Tages lud Tiberius Durus zu einer Cena, alles war ganz unverfänglich bis im Laufe des Abends das Thema auf die Ma'henschaften Vescularius' und Valerianus' Anteil daran kam, und einige von uns ihrer Empörung Ausdruck verliehen. Andere sahen dies eher gemäßigt und wurden nach dem Mahl verabschiedet, während den übrigen schlussendlich ein Eid zum Schweigen wurde abver..langt."
    Mochte alles mit Valerianus seinen Anfang genommen haben, dieser Abend war es gewesen, welcher Gracchus in den Sog von Verbrechen oder Triumph hatte gezogen.
    "Tiberius eröffnete uns seine großen Bedenken und letztlich, dass er nur einen einzigen Ausweg sah: Vescularius Salinator zu beseitigen. Sogleich wurden jene Pläne vertieft, doch ich muss gestehen, zu diesem Zeitpunkt war ich noch gänzlich uneins mit mir selbst. Der ... Mord an dem Praefectus Urbi war schlussendlich Ho'hverrat, wiewohl mir der Vescularier ohnehin nicht die Ursache jener Probleme schien. Ich erbat Bedenkzeit und verließ die Zusammenkunft. Indes war der Samen des Zweifels gesät, ich konnte nicht länger meine Augen abwenden von den Kalamitäten, welche Rom in ihrem Griff hielten, von der enormen Gefahr, welche davon ausging. Und es gab keine Ausflu'ht mehr, dass ich allein nicht in der Lage würde sein, dies zu ändern. Gleichwohl stand für mich außer Zweifel, dass es nicht Vescularius allein war, welcher würde weichen müssen, sondern allem voran ... der Augustus."
    Er sprach dies gänzlich nüchtern, als wäre dies alles nur ein Bericht über ein beliebiges politisches Geplänkel, die Erzählung einer belanglosen Reise. Sodann hob er die Hände, um sein Gesicht mit Wasser zu benetzen, ehedem er sich drehte und nach einem Becher am Rande des Beckens griff und einen Schluck verdünnten Wein zu sich nahm.

    "Ganz deines Vaters Sohn"
    , flüsterte der ältere Flavius leise und fügte etwas lauter hinzu:
    "Das ... wusste ich nicht. Weshalb hast du dies nie erwähnt?"
    Noch ehedem der Satz verklungen war, wurde Gracchus sich der Entbehrlichkeit dieser Frage bewusst. Hatte er nicht selbst nach dem Bürgerkriege jeglichem Interesse an seiner Familie ermangelt, hatte Minor auf Distanz gehalten, ihn letztlich unter dem Vorwand der Bildung neuerlich fortgesandt bis dass ihr Verhältnis zueinander beinahe verödet war? Doch letztlich war dies nur ein kleiner Tropfen im oceanos, welcher gespeist wurde aus seiner Verfehlung. Er seufzte tief, schlug die Augen nieder und verlor seinen Blick in den Tiefen des Badebeckens, welche in diesem Augenblicke ihm ebenso unendlich erschienen als triebe er inmitten dieses Ozeans, Salzwasser in seinen Augen, kaum Atem in den Lungen. Unwillkürlich befeuchtete er mit der Zungenspitze seine Lippen.
    "Ich ... habe ihn ... begonnen, Minor, ... jenen Konflikt"
    , sprach er gedehnt, ohne seinen Blick zu heben. Allfällig waren es die Folgen der Einöde und der langen Stille, welche ihn zu diesem Bekenntnis bewogen, allfällig das Ebenmaß und der Liebreiz der Wahrheit, nach welcher so sehr er sich sehnte, allfällig die Leichtigkeit, mit welcher Callista ihn durch die vergangenen Wochen hatte getragen, allfällig die gewichtige Last einer weiteren Lüge.
    "Valerianus und seine Familie, und der Ves..cularier - dies sind nicht diejenigen, welche mich torquieren, war ihr Ableben doch unabdingbar und unauswei'hlich. Gleich wie oft ich diese Tage reflektiere, gleich wie oft ich nach einem anderen Wege suche - es gab keinen anderen als jenen, welchen wir ge..nommen haben. Doch wir waren wie Kinder, naiv und unschuldig hinsichtlich jener abge..feimten Taten, welche wir intendierten, nicht genügend erfahren oder auch nur kundig in dem Metier der Kabale, nicht genügend sa'hkundig eine adäquate Ausführung zu konzipieren, nicht fähig zu überblicken, was zwischen Beginn und Ende des Weges uns würde er..warten, und viel zu furchtsam, einen Manne in unseren Kreis zu in..kludieren, welcher bewandert war in diesen Dingen."
    Traurig schüttelte er den Kopf. Selbst Tiberius, der doppelte Verschwörer, war letztendlich ebenfalls nur ein doppelter Dilettant gewesen.
    "Großes Unheil ... bleibt großes Unheil, so hehr auch die In..tention und das Motiv mögen gewesen sein, ob dessen ich jeden einzelnen Toten in meine klandestine Ver..antwortung muss nehmen, jedes einzelne Unglück, welches aus diesem Kriege erwa'hsen ist, all das Leid und all das Sterben. Nicht einmal die Götter können solch gewaltige Dysbalance abgelten, insbesondere so sie nurmehr in mir selbst ver..borgen liegt. Diese Toten überdauern Jahre, Minimus, halten mehr als nur ein einziges Leben vor, das Herz der Pfli'ht zu entziehen."

    Der ältere Gracchus zögerte einige Herzschläge, welche er deutlich in seiner Brust konnte verspüren, mochte er doch einerseits seinem Sohn keine Antwort schuldig bleiben, andererseits indes dieser Frage nicht näher nachgehen. Keine Lügen mehr, dies hatte er sich zum Ziele gesteckt in Hinblick auf seine Familiaren, gleichwohl konnte er Minor unmöglich von Callista berichten - jener verständigen und klugen Callista, mit welcher er so viel Zeit hatte verbracht in den zurückliegenden Monaten, welche er Tag um Tag am Meer hatte getroffen, um seine Seele, sein Herz und seinen Verstand ihr zu offenbaren, jene Callista, welche aus seiner Vergangenheit heraus die Gegenwart hatte invadiert, in welcher sie längst nicht mehr existierte - zumindest nicht in jener Gestalt. Gleichwohl - war sie nicht ohnehin nur ein Spiegel gewesen, eine Konfrontation all des Haders und all der Qualen, welche noch immer ihn torquierten nach all den Jahren, welche ihn stets hatten torquiert in der ein oder anderen Weise?
    "Es ist"
    , setzt er an und zögerte noch einmal.
    "Es ist stets die Ver..gangenheit, die Folgen einstiger Taten oder unterlassener Handlungen, welche suchen sich meiner zu bemächtigen. Immer schon haben die Konsequenzen meines Tuns mich heimgesu'ht, insbesondere jene, welche in widersinnigem Sterben ihren traurigen Höhepunkt fanden, gleichwohl in jenem Exitus meine desolate Errettung liegt, da der Toten Stimme und Antlitz aller irdischen Faktizität ent..behrt, dass der Wahn zwar nicht minder schauervoll, doch zumindest als solcher erkennbar bleibt. Wenn indes das Gewesene oder gar nur die Imagination erdenkli'her Realität derart gegenwärtig ist, dass ich nicht mehr vermag zwischen Wahrheit und Trug zu differenzieren, dann ... dann ist dies jener Wahn, welcher mich zweifeln lässt an allem und mir selbst, und höchstlichst vermag mich in Furcht zu ver..setzen."
    Von klaren Worten umhüllt klang dies lediglich wie eine nüchterne Abhandlung über die Betrachtung der Welt, über welche Gracchus beinahe mochte vergessen, dass dies seine eigene Welt war. Gleichwohl schien diese Introspektion ein neues Licht auf Callista zu offerieren - denn hätte er nicht den Trug ihrer Existenz erkennen können sofern er nur diese Existenz in all ihrer Konsequenz hätte bedacht? Hätte er nicht all jene Zweifel bereits zuvor in sich finden können, welche letztlich erst Sciurus' Worte ihm hatten offenbart? Tot oder vergangen - war nicht beidem gemein, dass es die Gegenwart exkludierte?

    Ein wenig freudlos zuckte der ältere Gracchus mit den Schultern und unterdrückte ein Seufzen.
    "Die medici sind allenthalben ohne Unterschied in ihren Bestrebungen, letztendlich kommensurabel zu den Priestern. Während letztere um einen gedeihli'hen Konnex der Götter zu den Menschen sich bemühen, suchen erstere einen gedeihlichen Konnex des Körpers zum Menschen zu erwirken - doch beide haben im Grunde keine wahrhaftige Macht, können nur be..schwichtigen und ersuchen, offerieren und um Gunst angehen. Zugestanden mögen die Säfte in meinem Leibe durchaus in Dysbalance sich befinden, in effectu liegt die Ursache meines Missbehangens indes ... hier."
    Er hob seine Hand und legte sie auf die Brust, dort wo er sein Herz schlagen spürte, den Sitz des Verstandes und der Seele, und sein Blick verlor sich in den sanften Wellen, welche über die Oberfläche des Wassers sich kräuselten.
    "Es ist Teil unserer Familiengeschichte, unserer Tradition, dass wir jene Konspiranten vera'hten, welche den Wahn des Domitianus in ihren Mahnungen potenzierten, um letztendlich eine Exkulpation ihres Ver..brechens vorschützen zu können. In letzter Zeit jedoch muss ich wohl eingestehen, dass sie allfällig Recht getan haben in ihrem Handeln, ist doch der ... klandestine, subtile Wahn weitaus gräulicher als jener, welcher offen zutage tritt und darob ersi'htlich ist."
    Sukzessive hob Gracchus seinen Blick und wandte einen Moment lang ihn durchdringend Minor zu, ehedem er den Raum um sich her musterte. War es vorstellbar, dass er seinen Sohn sich nur imaginierte aus Sehnsucht nach seiner Familie? Doch zweifelsohne stammten die Bewegungen des Wassers nicht einzig von ihm allein, zudem lagen zwei Stapeln von Tüchern zum Trocknen bereit für zwei Personen, und auch die Platte voll köstlicher Kleinigkeiten war zuviel für ihn allein. Leicht irritiert schüttelte er den Kopf, um jene Vorstellung von sich abzuschütteln, ehedem er wieder seinen Sohn fokussierte und an einem schmalen Lächeln sich versuchte.
    "Rom oder Baiae, es macht kaum einen Unterschied - nur dort wartet die Pfli'ht, hier die Einöde. Indes ist meine Sehnsucht nach der Familie wohl weitaus größer als ... mein Hader hinsichtlich der Pflicht. Wenn du nach Rom zurückkehrst, ... werde ich dich begleiten."

    "Wahrhaftig, es wäre zweifelsohne überaus er..sprießlich, die Familie wieder einmal beisammen zu wissen, doch fürchte ich in diesem Jahre wird sich keine Gelegenheit mehr dazu bieten. Aristides ist noch nicht wieder zurückgekehrt und er wird noch über den Winter fort bleiben."
    Er konnte seinem Vetter nicht verdenken, dass er die Überfahrt über das Meer im Winter nicht wagen wollte, wenngleich die Strecke nicht allzu lang war.
    "Auch Serenus und Titus sind noch auf ihrer Reise."
    Die Brauen des Flaviers zogen sich zwischen den Augen zusammen.
    "Bisweilen grämt mich noch immer Serenus' eigenmä'htiges Handeln und gar ein wenig Zorn wallt in mir empor, doch dann wiederum liegen seinen Briefen einige Zeilen von Titus bei, in welchen dieser etwa von einem Ausflug in das Pindosgebirge schwärmt, von welchem er einen Ausblick auf den göttlichen Olymp konnte erhaschen, oder von den Märkten in Sidon, auf welchen er einen gläsernen Löwen hat erstanden. Stets sind seine Berichte dabei voller Ho'hgefühl und Vergnügen - wie also könnte ich Serenus noch zürnen, der meinem Sohn zuteil werden lässt, zu was ich selbst niemals in der Lage wäre?"
    Nachdenklich wandte sein Blick sich zu Minor hin.
    "Ermangelte es letztendli'h nicht auch dir an jener Erfahrung, dass du das Tribunat in Germania aus freiem Entschlusse wähltest, um zumindest ein wenig die Welt zu erkunden, welche ich dir stets habe vor..enthalten?"
    Die abenteuerlichste Reise, welche sie je hatten unternommen, war die Flucht aus Rom nach Mantua - und zweifelsohne war dies nichts, an das sie mit Begeisterung sich erinnerten.
    "Augenscheinlich hast du durchaus gut daran getan."

    Zitat

    Original von Herius Claudius Menecrates
    Ich habe mal wieder was Unklares gefunden...


    In unserem Kalender steht am 29. Dezember der Hinweis auf die Compitalia. Im Wiki hingegen ist zu finden, dass dieser Festtag zwar bewegt ist, aber zwischen dem 3. bis 5. Januar. Dort steht er außerdem im Kalender. Ist der Dezembereintrag hinfällig oder steckt was dahinter?


    Zitat

    Original von Herius Claudius Menecrates
    Vielleicht interessiert es wen...


    Heute steht im Kalender die Sementivae. Kann sein, dass ich irre, aber ich glaube, das ist ein Eintragungsfehler. Ich kann die Sementivae bzw. Paganalia ausschließlich im Januar (24.) finden. Daher ignoriere ich als Konsul mal den heutigen Kalendereintrag.


    Sowohl die Compitalia, als auch die Sementivae/Paganalia gehörten zu den feriae conceptivae, also den beweglichen Feiertagen. Diese waren nicht im Kalender festgehalten/fixiert, sondern wurden in ihrem Datum jährlich durch Magistrate oder Priester festgelegt.


    Die Compitalia wurden in Rom zwischen dem 17. Dezember und dem 5 Januar abgehalten, das Datum war durch den "Stadt-Prätor" bekannt gegeben. Da dieses Fest ursprünglich das Ende des landwirtschaftlichen Jahres markierte war es allfällig vom Wetter abhängig. Der "willkürliche" Eintrag in unserem Kalender ist darob nicht zwingend falsch, aber auch nicht richtig. Insbesondere da sich das Fest in kaiserlicher Zeit auf den 3ten, 4ten und 5ten Januar fixiert zu haben scheint (was im entsprechenden Theoria-Eintrag angemerkt ist, jedoch sowohl im Forums, als auch im Theoria-Kalender anders eingetragen ist).


    Die Sementivae (Paganalia) waren ebenfalls nicht genau festgelegt, wurden indes indes zwischen dem 24 und 26ten Januar begangen, gleichwohl es nicht gesichert ist, ob es sich um einen oder zwei Festtage handelt. Es wird vermutet, dass es an zwei Tagen gefeiert wurde, mit einem Abstand von sieben Tagen, dabei mit einem Opfer an Tellus am ersten und einem an Ceres am zweiten Tag.
    Hierbei ist unser Forums-Kalender also definitiv falsch, der Theroia-Kalender für die Sementivae ebenfalls, für die Paganalia dagegen und auch den entsprechenden Beitrag korrekt.

    Einen unscheinbaren Moment lang weiteten Gracchus' Augen sich in freudiger Erwartung abenteuerlicher Berichte, waren es doch Narrationen eben jener Art, welche am meisten Pläsier ihm bereiteten, allfällig da ihm eigene Reisen und Ereignisse stets überaus unerquicklich anmuteten, während die Ausführung darüber ihn teilhaben ließ ohne auch nur einen einzigen Schritt vor die eigene Porta wagen zu müssen.
    "Selbstredend inkludiert das Anwesen eine kleine Therme"
    , lächelte er ein wenig spöttisch, schien Minor doch von seinem Erleben in Germania ein wenig verunsichert ob der Adäquanz eines ihm gebührlichen Refugiums. Kein Mitglied ihrer Familie würde wohl einen Landsitz sein eigen nennen wollen, welcher eines Badebeckens entbehrte - selbst in dem Falle dass um die nächste Ecke eine vorzügliche öffentliche Therme zu finden war, lag der Wert eines Bades doch nicht einzig in praktischen Überlegungen sondern viel mehr im Ausdruck der Dignität der eigenen Person. Er legte seinem Sohn väterlich einen Arm um die Schulter und führte ihn durch das Atrium zum hinteren linken Flügel des Hauses.
    "Und es ist ni'ht nur meine neue Villa, Minor, es ist auch deine Villa."
    Theoretisch stand der junge Gracchus zwar noch immer unter der patria potestas seines Vaters und besaß somit keinerlei eigenes Vermögen, praktisch indes tangierten Vermögenswerte den älteren Gracchus wenig, gleichwohl ohnehin all sein Besitz eines Tages an Minor würde übergehen, so dass ihm bereits dieser Tage alle Besitztümer zustanden - zumindest insofern dies mit Sciurus, welcher die Besitzungen verwaltete, nicht konfligierte. Das Bad des Anwesens konnte selbstredend sich nicht mit den öffentlichen Thermen messen, doch beherbergte es alles, was ein ländliches Refugium benötigte: ein kleines Areal mit einem hüfttiefen Becken, sowie diversen Krügen gefüllt mit lauwarmem Wasser zur ersten Reinigung, daneben zwei Liegen, auf welchen eine Massage sich genießen ließ, wie auch ein Becken zur Abkühlung am Ende des Badeganges, welches kaum groß genug für zwei Personen war. Im dahinter liegenden Raum befand sich ein Becken voll warmen Wassers in welchem bequem sechs Erwachsene ihren Platz konnten finden, in einer beinahe geschlossenen Nische zudem ein kleines Dampfbad.
    "Du hast Glück, das Wasser ist bereits gewärmt, denn wärest du nicht einge..troffen, so hätte ich ebenfalls ein Bad nehmen wollen."
    Zwar hätte Gracchus nach dem tonsor zuvor noch eine Massage eingeschoben, doch die Zeit mit seinem Sohn war ihm nun wichtiger - würde er doch während der intensiven Bearbeitung seiner Muskeln sich kaum auf diesen konzentrieren können. Bis die beiden Gracchen am tepidariums-Becken sich grob gereinigt hatten und im caldariums-Becken Platz fanden, hatten die Sklaven dort auch verdünnten Wein und eine Platte mit einigen kalten Kleinigkeiten am Beckenrand angerichtet. Das Wasser war heiß und dampfte, so wie Gracchus es bevorzugte, dass es einfach war darin zu versinken und umschlossen von elysäischer Wärme alle irdische Kälte zu vergessen.
    "Mhm..."
    tauchte der ältere Flavier genüsslich brummend inmitten des Beckens bis zur Nasenspitze in das Wasser hinab und schloss dabei die Augen. Welch eine Wonne musste es sein das Leben als Heißwasserfisch führen zu können. Einige Augenblicke verharrte er in seinem Genuss, ehedem er die Augen öffnend wieder sich aufrichtete und zu einer der im Beckenrand eingelassenen Steinbänke manövrierte, auf welchen man bequem im Wasser konnte sitzen. Wein und Essen ließ er dabei außer Acht, strich nur mit der Hand sein nasses Haar zurück und musterte Minor.
    "Nun, was sagst du zu unserem Landsitz? Gefällt er dir?"

    Als der Junge Flavius das familiäre Anwesen erreichte war ein Tonsor beschäftigt dem älteren Flavius einen akkuraten Schnitt zu verpassen, weshalb Sciurus mit der Nachricht ob der Ankunft zögerte, um nicht ein Unglück heraufzubeschwören in dem Augenblicke da sein Herr ungeachtet jeglicher scharfen Gegenstände würde von seinem Sitz aufspringen. Gracchus Minor blieb darob genügend Zeit durch den Maior Domus in Empfang genommen zu werden, sich seines Mantels zu entledigen und das Atrium zu betreten. Noch während der Tonsor mit einer weichen Bürste einige Haare vom flavischen Halse fegte erhob Gracchus sich sobald er über den Besuch unterrichtet war in größter Freude und trat eiligen, doch beschwingten Schrittes ebenfalls in das Atrium hinein.
    "Minimus!"
    entbot er euphorisch seinen Gruß und eilte auf eben diesen zu. Das Sentiment in seiner Stimme war durchaus ein wenig widersprüchlich zu seiner Erscheinung, welche ob der zurückliegenden Tage noch immer ein wenig fahl und trüb anmutete. Gleichwohl er wieder mit seinen Sklaven sprach war er noch immer in sich gekehrt, aß wenig und suchte wenig Ablenkung von seiner Grübelei.
    "Minor, welch eine Freude!"
    Tatsächlich war dies nicht nur eine Floskel, denn in der Einöde, welche um ihn her und in ihm herrschte, hatte Gracchus seine Familie zuletzt mehr als nur ein wenig vermisst, und gleich welche Differenzen auch zwischen Vater und Sohn vor einigen Jahren hatten geherrscht, gleich welche Distanz zwischen ihnen noch immer verblieben war, so war und blieb Minor doch ein zentraler Fixpunkt seines Lebens. Als er vor ihm zu stehen kam breitete er darob die Arme aus, um den Sohn erst einmal zu herzen. Erst dann trat er wieder einen Schritt zurück und betrachtete Minor.
    "Du siehst gut aus! Germania hat dir augenscheinlich nicht geschadet. Du musst mir alles darüber beri'hten, über die Germanen und die Provinz, und auch über deinen Wahlkampf und Rom."
    Er stockte als ihm bewusst wurde, dass es auch gegenüber seinem Sohn eine gewisse Pflicht als Gastgeber gab.
    "Möchtest du dich erst ein wenig ausruhen oder stärken nach der Reise?"

    Am siebten Tage nach dem Sturm nahm Sciurus Platz neben seinem Herrn auf dem Felsbrocken am Meer. Schweigend blickte er auf das türkiesblaufarbene Wasser, welches an diesem Tage so ruhig im trüben Licht der Herbstsonne schimmerte als könne niemals auch nur ein Windhauch es kräuseln. Es beruhigte Gracchus seltsam, dass jener Platz, welchen Callista hatte ausgefüllt, nun nicht mehr leer war.
    "Glaubst du, ich verliere meinen Ver..stand?"
    fragte er unvermittelt nach geraumer Weile der Stille.
    "Nicht mehr und nicht weniger als sonst", entgegnete Sciurus trocken.
    Der Flavier blickte zur Seite, konnte keine Regung auf dem Antlitz des Sklaven detektieren.
    "So also denkst du über mich?"
    Sciurus wandte sich um und blickte Gracchus unumwunden an. "Ich bin lange genug an deiner Seite." Allfällig war es ein marginales Lächeln, welches für einen winzigen Augenblick über seine Lippen huschte, allfällig indes auch nur ein trügerisches Spiel aus Licht und Schatten. Gracchus' Mundwinkel indes hob sich ein Stück während beide ihren Blick zurück zum Meer wandten. Obgleich er nicht sich gewiss war, ob dies die Angelegenheit vereinfachte, so hatte Sciurus womöglich recht.
    "Wir sollten nach Rom zurück kehren", bemerkte der Vilicus kurze Zeit später. "Baiae bekommt dir nicht."
    Der Flavier nickte langsam.
    "Callista war similärer Ansi'ht."
    Seine Brauen zogen sich zusammen und er schüttelte langsam, ungläubig den Kopf.
    "Sie war so ... wahrhaftig, Sciurus. Ich ... ich entsinne mich ganz genau ihrer zarten Berührungen, ihrer heiteren Stimme, ihres Duftes nach Pfirsi'hblüten ... Wie ... wie konnte ich all dies erfahren, wenn sie ..."
    Er brach ab, atmete tief ein, um die emporsteigende Furcht in sich zu supprimieren.
    "Sie war nur ein Traum, Herr, ein Tagtraum. Bist du nicht oft genug aus deinen Träumen erwacht und wähntest dich noch immer dort, weil dir alles so real erschienen war?"
    "Zweifellos, doch hernach bin ich fähig, den Traum vom Wachen zu unterscheiden, und wie lange auch sein Widerhall in mir ver..harren mag, niemals waren diese Eindrücke derart fassbar. Bei Callista indes ... wäre ... wäre sie nicht fort seit dieser Na'ht, und wärst es nicht du, welcher ..."
    Gracchus stockte, da ein ungeheuerlicher Gedanke ihm zu Sinnen kam. Sein Leib versteifte sich und er wandte seinen Blick wieder dem Sklaven zu.
    "Sciurus, du ... du hast doch nicht etwa ... Callista ... be..seitigt?"
    "Aus welchem Grund hätte ich dies tun sollen, Herr?" erwiderte der Vilicus ohne Regung und ohne seine Aufmerksamkeit von den Wellen des Meeres zu wenden.
    "Nun, aus dem glei'hen Grunde wie stets - mich zu schützen, zu meinem Wohle oder dem meiner Familie."
    "Nein Herr, das habe ich nicht getan. Hätte ich es, wäre sie nicht jählings verschwunden, sondern einem Unfall zum Opfer gefallen, dass du dich an ihrer Bestattung hättest verabschieden können."
    Gracchus nickte, denn er wusste, dass Sciurus ihn diesbezüglich nicht würde belügen, gleichwohl er einen Augenblick die Hoffnung hatte gehegt, er würde dies tun, um die Wahrheit ihm zu erleichtern. Langsam erhob er sich.
    "Lasse uns nach Hause gehen."

    Alle Bedenken der Sklavenschaft in Hinblick auf die grauenhafte Wetterlage in den tosenden Wind schlagend stürmte Gracchus in den Hof hinaus und quälte sein Pferd in den kalten Regen. Binnen weniger Augenblicke hatten sie im Galopp jene kurze Distanz überwunden, welche sonstig zu Fuß ihn an den Felsen ans Meer brachte, durchquerten alsbald gen Norden den kleinen Zypressenwald, in welchem die Spitzen der Bäume im Winde sich bedenklich zu den Seiten neigten trunken schwankenden Zyklopen gleich. Nie zuvor hatte der Flavier diese Grenze überschritten, hinter welcher Callistas Anwesen zu finden war. Zu dieser Jahreszeit lediglich karge Wiesen schlossen sich an die Bäume an, hernach eine Aue um einen schmalen Bachlauf, welcher an diesem Tage an einigen Stellen bereits über die Ufer trat. Unbeirrt trieb Gracchus das Pferd durch das Wasser, querte brach liegende Felder, einen Baum hier, einen Baum dort, umwand eine aus unförmigen Steinen errichtete Umzäunungsmauer, doch nirgends war ein Dach zu sehen, welches auch nur einem Bauern eine Behausung mochte bieten, geschweige denn der schönen Callista. Callista, welche keinen Augenblick gealtert schien in all der Zeit seit ihrem Zusammentreffen Jahrzehnte zuvor in Rom. Der Wind peitschte um ihn her und zerrte an seinem Mantel, an der nassen Mähne des Pferdes und jedem Halm, welcher seinen Weg säumte. Nirgendwo auch nur eine Spur von Callista. Callista, die nichts erschüttern oder überraschen konnte, da sie stets alles bereits zu wissen schien. Weit draußen am Horizont, über dem tiefschwarzen Meer, flackerten Blitze und erhellten für einen kurzen Augenblick das dunkle Wolkengetürm. Callista, die immer schon auf dem Felsen ausharrte oder einen Augenblick nach ihm kam, gleich zu welcher Stunde. Als würde der Regen sie hinfortspülen wich die von Ingrimm genährte Spannung aus Gracchus, was gleichsam auf das Pferd sich übertrug da er die Zügel lockerte, wie auch seine Oberschenkel sich nicht mehr in die Flanken des Tieres pressten. Callista, die seine Vergangenheit kannte wie sonst niemand, die von Ereignissen Kenntnis besaß, von welchen niemand außer er selbst wusste ohne dass ihm dies war sonderbar erschienen. Ohne dass er das Pferd weiter antrieb verlangsamte dies seinen Schritt, tänzelte nervös auf der Stelle inmitten eines von Stoppeln überzogenen Feldes, unschlüssig wohin sein Reiter in diesem Gewirr aus Regenfetzen und Donnergrollen es wollte lenken, überhitzt und ausgekühlt zugleich. Callista, die selbst keine Vergangenheit und keine Gegenwart ihr Eigen nannte. Gracchus spürte nicht die kalten Tropfen, nicht den zerrenden Wind, hörte nicht das nahe Tosen und ferne Grollen, sah nicht seinen getreuen Sciurus ihm folgen. Callista, die nicht existierte, war alles, was seine Sinne vermochte zu füllen. Callista.


    ~ ~ ~


    Tagelang sprach Gracchus kein Wort, nicht zu seinen Sklaven, nicht zu Sciurus. Er stand auf, aß spärlich, eilte an die Küste und harrte aus auf dem Stein am Meer. Doch niemand kam. In seinem Kopf dröhnte eine dissonante Kakophonie, in seinem Bauch rumorte gefräßiges Natterngezücht und sein Herz war durchbohrt von tausenden Splittern desperater Hoffnung, doch Callista kam nicht wieder. Erst wenn die Sonne sich anschickte unterzugehen kehrte er in sein Haus zurück, aß kaum etwas und starrte in die Flammen einer Feuerschale oder einer Kerze bis dass es Zeit zum Schlafen war. In der Nacht wälzte er sich von einer auf die andere Seite, von Unruhe und Alb getrieben, erwachte des Morgens kaum ausgeruht. Er reagierte nicht auf die Fragen der Sklaven nach seinen Wünschen, nicht auf die Worte seines Vilicus in Hinblick auf Neuigkeiten oder anderweitige Zerstreuung. Er reagierte nicht auf die Untersuchung des Medicus, welchen Sciurus nach drei Tagen einbestellte, welcher indes keine körperliche Insuffizienz - zumindest keine, welche nicht bereits bekannt war - konnte detektieren. So laut die Stille um Gracchus her tönte, umso unermesslich kakophonischer das Chaos in seinem Inneren, in welchem ihm unmöglich war, einen klaren Gedanken zu fassen. Er suchte mit sich selbst ins Reine zu kommen, doch sein Gedankengebäude war ihm verschlossen, die Welt um ihn her verwüstet und öd, die Götter blieben stumm, nicht einmal die wilde Insania bot ihre wirren Antworten ihm dar. Er glaubte sich zurückgerissen in jenen Zustand, in welchem er seine Familie und sein Leben hatte vergessen, war dieser Trug ihm doch ebenso wahrhaft erschienen wie Callista, gleichwohl ihre Existenz weit größere Vehemenz in sich barg, denn mochte eine Vergangenheit, ein Leben sich durch Worte ändern lassen, so war die Schaffung eines Menschen ein Werk weit bedenklicheren Ausmaßes. Ziellos streifte er durch die vergangenen Wochen und Monate, suchte Erleben und Erkenntnis miteinander in Einklang zu bringen, suchte einen Halt, doch verlor Tag um Tag nur mehr und mehr sich selbst.

    Der Herbst schien in diesem Jahre beweisen zu wollen, dass er mächtiger war als alle Götter, er Land und Wasser im Griffe hielt, dass nichts seiner Macht konnte entkommen, nicht einmal das sonst so beschauliche Baiae. Eine Sturm tobte, fegte hinweg über das Land und rüttelte dabei die letzten Blätter von den Kronen der Laubbäume, peitschte die dunklen Wellen auf dem Meer empor, trieb dichte Schleier von Regen vor sich her und verdunkelte den Nachmittag als wäre es bereits Nacht. Gracchus hatte Callista eine Nachricht zukommen lassen, dass unter solchen Umständen sie selbstredend sich nicht am Meer trafen, so dass er wohl oder übel sich mit seinen Sklaven musste vergnügen, denn schon viele Tage nicht mehr waren Künstler aus der Stadt herüber gekommen.
    "Sciurus! Nun hast du mich bereits zum vierten Male ausmanövriert! Wie kommt es nur, dass ich weiland in diesem Spiele stets obsiegte, doch nunmehr keinen Tag gegen dich triumphieren kann? Es scheint mir beinahe als hättest du dermaleinst mich zu meinem eigenen Vor..teile betrogen."
    "Nein, Herr, du lässt in deiner Konzentration nach", entgegnete der Vilicus in seiner trockenen Art, in welcher er kein Blatt vor den Mund nahm.
    Ehedem Gracchus dem etwas konnte entgegensetzen trat ein weiterer Sklave in den Raum und gab ein unscheinbares Signal, auf welches Sciurus hin aufstand und kurz einige Worte mit ihm wechselte. Sodann kehrte der Vilicus zurück zu seinem Herrn. "Dein Sohn hat die Wahl zum Quästor gewonnen, er konnte 82% der Stimmen für sich gewinnen."
    Gracchus atmete tief ein und wieder aus. Er freute sich selbstredend für Minor, verspürte ein überschwängliches Maß an Stolz, gleichsam Sehnsucht nach seiner Familie und Rom. Ein trübseliges Lächeln kräuselte seine Lippen.
    "Er wird kaum die Zeit finden, nun nach Baiae zu reisen"
    , überlegte der Flavier betrübt und blickte zu Sciurus.
    "Callista ist der Ansicht, es wäre an der Zeit für mich nach Rom zurückzukehren, da ich ohnehin nicht gefunden habe, was ich su'hte, und ohnehin dem, wovor ich zu entkommen suche, niemals werde entkommen, da es mir inhärent ist."
    "Sie hat zweifellos recht", stimmte der Sklave ausdruckslos zu.
    Ein wenig verwundert über diese Direktheit - wenngleich nur als Bestätigung einer Aussage - bezüglich seines Sentiments hob Gracchus die linke Braue.
    "Und doch wartet in Rom ebenso, wonach ich nicht im geringsten mich sehne. Viel gewi'htiger jedoch ist, Callista nicht alleine hier zurückzulassen."
    Einen Augenblick der Stille, in welchem nur das Tosen des Windes um das Haus herum zu vernehmen war, musterte Sciurus seinen Herrn eindringlich, ehedem er mit großer Ernsthaftigkeit entgegnete. "Sie wird weder alleine, noch zurück bleiben."
    Zu Gracchus' linker gesellte sich nun auch noch die rechte Braue empor.
    "Wie meinst du das? Was hat sie dir gesagt? Wird sie ebenfalls nach Rom gehen?"
    Ein Schimmer der Hoffnung erglomm in seinem Gemüt, würde dies doch die Rückkehr gleich in doppelter Hinsicht ihm versüßen. Der Sklave indes zögerte, was sonstig nicht seinem Wesen entsprach. "Sie wird nirgendwo hingehen, Herr. Sie existiert nicht."
    Gänzlich derangiert blinzelte der Flavier nun.
    "Was?"
    Sodann lachte er erheitert.
    "Es ist wohl bereits zu spät, ich hörte dich sagen, sie exis..tiere nicht."
    "Das war exakt, was ich sagte, Herr. Diese Callista existiert nicht. Zumindest nicht hier."
    Die Derangierung mischte in Gracchus sich mit leichtem Ärger.
    "Du warst noch nie ein guter Vokativus, Sciurus. Was soll dieses Spiel be..deuten?"
    Der Sklave behielt allen Ernst auf seinem Antlitz, nicht ein Hauch von Humor in seiner Stimme und seinem Blick. "Sie existiert nicht. Hinter den Bäumen gen Norden gibt es kein Gut und kein Haus. Meilenweit nicht einmal die kleinste Hütte."
    Gracchus zuckte irritiert mit den Schultern.
    "Allfällig wohnt sie gen Süden."
    "Niemand in der Umgebung kennt sie, nicht Agrippina und auch niemand in Baiae oder Neapolis."
    Gracchus öffnete seinen Mund, war indes zuerst nicht fähig ein Wort daraus zu entlassen. Die Art und Weise wie sein Vilicus mit ihm sprach gefiel ihm nicht.
    "Du ... du hast Erkundigungen über Callista eingeholt? Sie ... sie hat sich mir nicht noch einmal namentlich vor..gestellt. Allfällig hat sie manus geheiratet und trägt nun den Namen ihres Mannes! Womöglich trägt sie auch aus irgendeinem guten Grunde einen anderen Namen, allfällig dass niemand ihr herna'hspioniert!"
    Verärgerung mischte sich in die Stimme des Flaviers, welche sich auch in Lautstärke ein Stück weit erhob.
    "Was sollen diese Unterstellungen überhaupt be..zwecken!?"
    Sciurus beugte sich ein wenig hinab zu seinem Herrn, kam beinahe bedrohlich ihm nahe. "Ich bin dir an die Küste gefolgt, jeden Tag im letzten Monat, jeden einzelnen Tag an dem du am Abend von ihr berichtet hast."
    Blinzelnd wich Gracchus mit seinem Haupt ein wenig zurück, denn das Gebaren seines Vilicus flößte eine Spur von Furcht ihm ein, war ihm noch immer nicht eingängig, was diese Farce sollte bedeuten.
    "Aber du triffst niemanden", fuhr Sciurus fort. "Du sitzt tagein, tagaus nur auf einem Stein und starrst hinaus auf das Meer, reglos, über Stunden, allein und ohne dass irgendjemand auch nur in deiner Nähe ist! Was soll dieses Spiel bedeuten? Das frage ich dich, Manius, was soll dieses Spiel bedeuten?"
    Dass sein Leibsklave ihn bei seinem Pränomen nannte war zweifelsohne ein Zeichen exzeptionellen Schweregrades, mochte er vorangegangene Gelegenheiten solcherlei Handlung doch an einer Hand abzählen. Dennoch konnte Gracchus nicht begreifen, was der Sinn dieser Worte war, mochte nicht begreifen, was Sciurus ihm vorwarf. Keinen Tag war er alleine gewesen, keinen Tag an welchem er nicht mit Callista an der Küste sich hatte getroffen.
    "Das ist nicht wahr!"
    brauste der Flavier auf und stieß den Sklaven von sich fort, der ihn zweifelsohne zum Narren hielt - aus welchen Gründen auch immer, Missgunst und Eifersucht allfällig.
    "Sie existiert nicht", repetierte der Zurückgewiesene scharf, fachte indes nur mehr den Ingrimm seines Herrn an.
    "Das ist ni'ht wahr! Meinen Mantel und ein Pferd!"
    donnerte Gracchus' Stimme durch den Raum als müsse sie ein aufrührerisches Collegium zum Schweigen bringen, während er selbst energisch sich erhob, Sciurus zur Seite stieß und zum Ausgang strebte. Einen Augenblick nur dachte der Sklave daran, ihn zurückzuhalten, folgte indes sodann ihm hernach.