"Erzähle mir von deiner Famile"
, forderte Callista ihn ein andermal auf, sobald Gracchus neben ihr saß und seinen Blick hinaus in die Ferne richtete.
"Meiner Familie?"
"Aber ja. Du hast doch eine Familie, nicht wahr?"
fragte sie spöttisch als müsste er an sein eigenes Leben erinnert werden.
"Ja. Ja, natürlich"
, erwiderte er ein wenig derangiert.
"Nun, meine Kinder ... meine Söhne ... Minimus und Titus Gracchus. Ich hatte er..wartet, Titus hier in Baiae anzutreffen. Ich habe ihn ... schon lange nicht mehr gesehen. Er lebt bei meinem Vetter und meinem Neffen, wegen ... nun, weil es in Rom ... es ist ... es war schlichtweg besser so."
Er ließ unerwähnt, für wen dies besser gewesen war.
"Doch nun ist er fort, auf einer Reise. Es ist wohl ein Sinnbild unserer Beziehung, dass wir kaum je beisammen an einem Ort sind."
Er seufzte.
"Allfällig wird er nach meinem Tode eine Gedenktafel erri'hten mit den Worten: Meinem unbekannten Vater."
Callista kicherte.
"Und dein jüngerer Sohn, Minimus?"
"Oh nein"
, winkte Gracchus ab.
"Minor ist der ältere. Doch als er geboren wurde ... er war ... so winzig. Wir nannten ihn darob Minimus und dabei blieb es sein Leben lang."
Letztlich war keines seiner Kinder bei der Geburt wesentlich größer gewesen, doch da Gracchus zuvor niemals mit Neugeborenen sich hatte auseinandersetzen müssen schien Minor ihm damalig viel zu klein als dass jemals ein richtiger Mensch aus ihm hätte werden können.
"Lebt er auch hier?"
"Nein, er lebt in Rom. Nun, zur Zeit ist er in ... Germania."
Durchaus schimmerte des Flaviers Abneigung gegen diese Provinz durch die Couleur seiner Stimme.
"Er leistet ein Mili..tärtribunat in der Legion ab."
"Wie tapfer! Du musst sehr stolz auf ihn sein."
Gracchus atmete tief ein, blickte in die Unendlichkeit des Meeres und schwieg. Callista drängte ihn nicht zu einer Antwort, verharrte in gleichem Schweigen neben ihm bis dass er endlich bereit war, fortzufahren.
"Ich habe stets von ihm erwartet, dass er seiner Familie zur Ehre gereicht. Nichts anderes bot seine Zukunft als seiner Herkunft gerecht zu werden, indem er sein Leben Rom darbietet, dass es über ihn verfügt als hätte er selbst kein Re'ht daran. Ich habe von ihm erwartet ein Sklave zu werden seines Namens, den von den Abdrücken der ererbten Kettenglieder gesäumten Fußstapfen seines Vaters zu folgen, welcher jeden Schritt vor ihm tat, um den Weg ihm zu ebenen."
Wieder schwieg Gracchus einige Augenblicke ohne dass Callista sprach. Still lauschte sie dem fernen Rauschen der Wellen, dem leisen Wispern des Windes zwischen Gräsern und Blättern, dem Rascheln eines Vogels, welcher unweit nach Würmern pickte, während der Flavier den fernen Stimmen der Vergangenheit nachhing.
"Dann kam der Bürgerkrieg."
Mörder!
"Ich habe von ihm erwartet den vom Blut eines Imperium gesäumten Fußstapfen seines Vaters zu folgen."
Mörder!
"Und dann habe ich nichts mehr von ihm erwartet. Ich habe ihn seiner Familie, seiner Familienehre, seiner Herkunft beraubt, alle Fußspuren ver..wischt, ausgelöscht. Ich habe ihn, sein Leben ausgelöscht wie das meine. Welcher Sohn würde einem solchen Vater noch folgen?"
Es war eine rhetorische Frage, denn Gracchus kannte die Antwort nur zu gut.
"Dennoch habe ich selbiges später neuerlich von ihm verlangt. Als er dies verweigerte war ich zum Äußersten bereit und - bei den Ketten des Cerberos - ich hätte ihn endgültig seiner Herkunft beraubt, hätte er nicht eingelenkt. Als mir dies bewusst wurde, war es beinahe zu spät. Und als ich endlich erkannte, welche Ketten ich ihm anlegte, da nahm er sie selbst auf."
Langsam schüttelte er den Kopf.
"Früher einmal wäre ich stolz auf ihn gewesen. Heute frage ich mich, ob dies tatsächli'h alles von Belang ist? Oder ob er nicht am Ende seines Lebens wird zurückblicken und all die vertanen Chancen erkennen müssen?"
Neuerliche Stille folgte. Ein kleines Segelboot, ein Fischer allfällig, kreuzte die Wellen, kam einige Zeit auf sie zu, um sich alsbald wieder in Richtung des Horizontes zu entfernen.
"Jede Chance, welche ein Mensch vertan hat, impliziert eine weitere, welche er ergriffen hat. Das gilt für deinen Sohn, ebenso wie für dich, Manius. Du besitzt nicht die Weitsicht der Götter, nicht die Hellsichtigkeit der Parzen. Jeder Augenblick ist eine Entscheidung, doch es gibt kein Gut und kein Schlecht bei deiner Wahl. Akzeptiere deine Entscheidungen und auch die deines Sohnes, dass du nicht der Chance nachtrauerst, welche er vertan haben mag, sondern stolz sein kannst auf die Chance, welche er ergriffen hat."
Das Segelboot hatte jene Linie erreicht, an welcher Meer und Horizont sich begegneten. Einen Augenblick flirrte sein Abbild noch in der Ferne, dann war es verschwunden - als wäre es am Ende der Welt von dieser hinabgefallen und von der Endlosigkeit verschluckt.