Einige Tage lang hatte Gracchus sich gefühlt wie ein Vogel, welcher seinem goldenen Käfig endlich war entronnen, welcher zurück gekehrt war in sein ursprüngliches Dasein, in die Freiheit der Natur, doch alsbald schon musste er sich eingestehen, dass er nur die Art des Käfigs hatte gewechselt, aus der Öffnung des einen in den anderen war hineingeschlüpft. Mehr noch als die trauten Mauern der Villa Flavia war es schlichtweg seine Identität, sein Dasein, welches ihn beengte, welches ihn determinierte und limitierte, selbst da er kaum nur einen Fuß weit in sein altes Leben war zurückgekehrt. Noch immer zweifelte er an sich selbst, an seinen Entscheidungen und seiner Person, noch immer war er uneins mit sich selbst über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, wiewohl die Wahrheit ihm schwer auf seinen Schultern lastete. Einer Seifenblase gleich schienen ihm nun die raren Stunden mit Faustus, die bedingungslose Zeit, welche sie hatten teilen dürfen, einer endlos kostbar schimmernden Perle, welche letztlich durch den Druck der Realität war zerplatzt. Ruhelos waren seine Nächte ob dessen, in welchen er nicht wusste, ob er die Vergangenheit sollte bedauern oder ersehnen, in welchen es ihm graute vor dem Erwachen, gleichwohl wie er das Traumreich fürchtete. An diesem Morgen indes erwachte er in übermäßigem Unbehagen, spürbar in einer Anspannung um den Magen herum, gleichwohl einige Augenblicke vorüber zogen, ehedem er dessen wurde gewahr, was der Grund dieser Inadäquanz war. Hastig rollte er zur Kante des Bettes, schob seinen Oberkörper darüber hinaus, dass er alsbald kopfüber unter das hölzerne Bettgestell blickte. Auf dem Fußboden dort zeigten sich nur verwischte Spuren von Kreidestaub, doch es war nicht der Anblick des verlorenen Schutzes, welcher ihn in Entsetzen versetzte. Das Kästchen war fort, der kleine Kasten, in welchem er all die Briefe Faustus' hatte aufbewahrt, in welchem Liebe, Begehren und Sehnsucht waren verwahrt gewesen für einsame Stunden, war nicht mehr dort.
"WO IST ES!?"
brüllte er gänzlich außer sich, und der aufwallende Zorn ließ ihn auffahren und aus dem Bette aufspringen.
"WO IST ES!?"
Die Türe öffnete sich bereits, denn obgleich Sciurus nicht wieder in die Villa Flavia war zurückgekehrt - niemand wusste dieser Tage noch, wo der Vilicus und der ihm anvertraute Teil der Familia Flavia Graccha sich befand -, so harrte doch ein Sklave draußen auf dem Gang, um jederzeit für die Belange der spärlich anwesenden Herrschaften Sorge zu tragen. "Herr?" versuchte der eintretende Sklave, beinahe noch ein Junge, ein wenig eingeschüchtert herauszufinden, was Ursache des flavischen Unmutes war.
"WO IST ES?"
skandierte Gracchus nur neuerlich in Rage, setzte sodann jedoch zu einer Art Erklärung an, den flavischen Furor nun deutlich in seinen Augen erkenntlich.
"WO IST DAS KÄSTCHEN, WELCHES UNTER MEINEM BETTE VER..BORGEN WAR? WO IST ES?"
Mit wenigen Schritten war er bei dem Sklaven, packte ihn am Hals, dass die Adern auf seinen Handrücken hervortraten, und schüttelte den Unfreien, welcher nicht wusste wie ihm geschah, die Augen nur aufriss und seinen Herrn anglotzte ohne zu wissen, was dies alles sollte bedeuten.
"WO IST DAS KÄSTCHEN? WO SIND DIE BRIEFE?"
repetierte Gracchus polternd, mit mehr und mehr seiner Kraft dem Sklaven die Luft abdrückend. Ein Krächzen war alles, was dessen Kehle echappierte, was letztlich Gracchus dazu veranlasste, ihn kraftvoll von sich zu stoßen zur Wand hin, ihm indes sogleich noch immer wutendbrand zu folgen.
"Wo ist das Käst'hen, welches unter meinem Bette verborgen war? Wer war hier? Wer hat es ent..wendet?!"
Unbeherrscht war die Couleur seiner Stimme, sein Kiefer angespannt, seine Augen von Ingrimm geweitet. "Niemand war hier, Herr!" keuchte der Sklave. "Nur ... nur die Urbaner … bei der Durchsuchung des Anwesens ... aber ... aber sie haben nichts mitgenommen, Herr! Sonst ... sonst niemand, Herr!"
"NICHTS MITGENOMMEN!? WO IST ES DANN?! WO?"
Außer sich vor Zorn über die Dreistigkeit des Sklaven packte Gracchus dessen Schopf, schlug den Kopf des jungen Mannes gegen die Wand im Ansinnen, die Information, welche er suchte, aus diesem mit aller gebotener Gewalt hinaus zu treiben.
"WO IST ES?!"
donnerte er mit jedem Schlage, da der Hinterkopf gegen die Mauer krachte.
"WO IST ES?! WO IST ES?!"
Bis dass die Augen des Sklaven dumpf wurden, dass die Anspannung aus seinem Leibe wich und ein affröser Flecken an der Wand zurück blieb. Voller Unzufriedenheit ließ Gracchus das Haar des Toten los, dass der Leichnam zu Boden fiel, wischte sich die Hand an seinem Schlafgewand ab und wurde erst nun des entsetzen Augenpaares gewahr, welches von der Türe aus ihn beobachtete - ein weiterer Sklave, welcher ob des anhaltenden Gebrülls zum Gemach seines Herrn war geeilt.
"Ich will wissen, wo dieses Käst'hen sich befindet! Wenn ich nicht bis morgen einen Namen erhalte, so wird einer nach dem anderen von euch am Kreuze enden bis dass der Dieb gefunden ist! Avisiere dies und schließe die Türe - ich werde heute kein Frühstück zu mir nehmen."
Mit einem hastigen Nicken schloss der Sklave die Türe und Gracchus blieb mit dem toten Sklaven allein zurück.