Zustimmend nickte Manius auf die Worte des Decimus Casca hin, welchen er eines fernen Gedankens wegen den Decimi konnte zuordnen, vermochte jedoch im Augenblicke nicht die Kurzweil des ausgesprochenen Scherzes zu goutieren, obgleich er ihm durchaus amüsant erschien. Sodann trat ein weiterer Mann heran und eine Kiste rückte für einen kurzen Moment in den Focus der Aufmerksamkeit bis dieser durch das neuerliche Eintreffen wiederum eines weiteren Mannes und durch dessen Senator wurde gefüllt. Erwartungsvoll blickte Manius zu dem Decimus hin, welcher unzweifelhaft musste angesprochen sein, während gleichsam ein anderer Teil in ihm wusste, dass dies nicht korrekt war.
Senator.
Dies war es gewesen, was die Decima damals in der Bibliothek hatte ausgesprochen - deutlich konnte er die Laute nun in seiner Erinnerung vernehmen -, dies war das fehlende Fragment, das seit diesem Zeitpunkt beständig sich in seinen Sinn hatte gedrängt, einer hartnäckigen Larve gleich, welche an seine Füße sich hatte angehaftet, seine Beine war emporgekrochen, ihre Krallen hatte sukzessive in sein Rückgrat geschlagen, um in seinem Nacken sich festzusetzen, wo er sie nicht hatte sehen können.
Senator.
Fern noch grollte die die Essenz unausgesprochener Wahrheiten aus diesem Worte, einem Sommergewitter gleich, welches weit im Osten sich zusammen braute, welches doch gleichsam sich anschickte binnen kürzester Zeit das Zentrum der Welt zu umfassen und über Stunden hinweg dem Zorne der Götter gleich zwischen den Hügeln der ewigen Stadt sich zu entladen.
"Senator"
, repetierte er leise und blickte in die Augen des schönen Raghnall, welcher an einem anderen Ort, zu einer anderen Zeit allfällig gänzlich andere Gedanken hätte in ihm empor getrieben. Doch von diesem Augenblick an, dem Eingeständnis seiner Pflicht aus seinem eigenen Munde, von diesem Augenblicke an war das folgende Geschehen unvermeidlich.
Senator Manius Flavius Gracchus
, dröhnte es mit einem Male in den Hallen seines Gedankengebäudes aus tausenden Mündern zugleich, eine Erinnerung an jede einzelne Stimme, welche jemals diesen Namen hatte ausgesprochen, hallte es von den Wänden und den Grenzen seines Kopfes wider und wider, dass er glaubte darin ersticken zu müssen, glaubte seinen Verstand einbüßen zu müssen, welchen er womöglich doch gerade im Begriff war wiederzufinden. Dieser Name war in seine Seele eingebrannt, tief in sein Fleisch hinein, lastete schwer auf seinen Schultern, dass er glaubte unter seiner Bedeutung zerbrechen zu müssen. Mit einer fahrigen Bewegung suchte er Halt an einem Pfosten, denn die Welt um ihn her schien sich in Strudeln zu verlieren, schien ein Spiegel seines Innersten zu sein, in welchem die Zeit verschwamm - Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft -, er hin- und hergerissen war von dem Verlangen, seine Person zu definieren oder endgültig zu vergessen, im unerbittlichen Kampfe mit sich selbst, gegen sich selbst und um sich selbst.
Manius Flavius Gracchus
, war die Konstante seines Lebens, welche alles und nichts definierte, welche alles und nichts bedeutete, für oder gegen die er sich musste entscheiden. Doch je mehr er zuließ, dass dieser Name die Herrschaft gewann über sein Sein, desto mehr Bilder verdrängten die Realität, krochen in ihm empor, Geräusche und Gerüche, Empfindungen und Gedanken.
Kaisermörder!
Tiberius Durus, die Konspiration, das Testament des Valerianus', die Beseitigung des Kaisers und seiner Familie, Vescularius Salinator, die Proscritpion, Titus und Flamma in Weidenkörben, Antonia und Sciurus in Lumpen, die Flucht aus Rom, Minor und Flaccus neben dem Leichenkarren, die Toten auf dem Karren, die Larven um ihre Körper, der Fußmarsch, die Flucht durch Italia, die Demütigung und Schmach, das Fieber, das ausgezehrte Antlitz seines Sohnes, das Versteckspiel in Mantua, die wahnwitzige Idee zur Rettung des Imperium, die neuerliche Reise, die Ankunft in Rom, Faustus' Widerstand und gleichzeitig Zuneigung, das Versteckspiel in Rom, Atons Herrschaft über sein Leben, Atons Niedergang und das Zurückbleiben trister Leere, die Rebellen in Rom, welche keine Rebellen waren, sondern die Befreiung Roms - Römer, die Römer schlachteten! Kaum nur konnte er all dies in sich zurückhalten, kaum nur konnte er verhindern, dass verräterische, schimmernde Wasserperlen sich aus seinen Augenwinkeln drückten, denn nichts wollte er im Augenblicke noch von sich geben, gar als fürchtete er mit dem Verlust der Tränentropfen nur neuerlich ein Stück seiner Selbst zu verlieren. Wie oft hatte er in den letzen Monaten geglaubt, nicht tiefer sinken zu können, nur um stets eines besseren belehrt zu werden, und doch hatte er nicht im Ansatze erahnt, wie tief er tatsächlich gesunken war. Wie bei allen Göttern hatte er nur Faustus' Angebot annehmen können, sich im Inneren dieses Hauses zu verstecken, einem Hasen gleich, welcher in seinem Bau unter der Erde abwartete bis der Fuchs über ihm vorübergezogen war? Noch ehedem er jedoch diese Frage sich hatte gestellt, wusste er bereits die Antwort, denn in seinem ganzen Leben war er stets nur ein Feigling gewesen, hatte nie genügend Mut aufgebracht, um auch nur ein wenig mehr als ein Hase zu sein. Über die Unzulänglichkeit seiner Selbst indes zogen seine Gedanken zu wichtigeren Menschen seines Lebens, zu Minor, Antonia, Titus, Flaccus und Flamma, deren Wohl in seiner Verantwortung lag, über deren Verbleib indes er nicht die geringste Spur einer Ahnung hatte. Wie hatte er untätig sich in dieser Casa einnisten können, während das Schicksal seiner Familie irgendwo in Italia im Ungewissen schwebte? Faustus. Blind war er vor Liebe gewesen, hatte einem verliebten Narren gleich sein Leben negiert, nur um einige Augenblicke vergessen zu können, was war, sich verlieren zu können im trügerischen Ozean der Liebe. Wo war Faustus jetzt? Gefallen oder gefangen allfällig, der Praefectus Praetorio des Vescularius - Sieger und Verräter hatten die Plätze getauscht, er selbst stand mitten unter den Verrätern und würde das zurecht wütende Volk Roms - was hatten sie nur getan? - diese Casa stürmen, so würde er sein Ende mit ihnen finden, würde sein Leichnam verscharrt werden, würde niemals irgendwer wissen, was aus Senator Manius Flavius Gracchus geworden war.
"Ja"
, entgegnete Gracchus ein wenig abwesend, noch immer ein wenig hadernd mit sich selbst, ein wenig ertappt beinah, doch letztlich konnte er seiner Pflicht nun nicht mehr entkommen, da jedes noch so marginale Fragment seiner Maskerade - intrinsisch wie extrinsisch - von seiner Person war abgefallen.