Beiträge von Manius Flavius Gracchus

    ~~~ Gefangen in Morpheus' Reich ~~~

    Zaghafte Dunkelheit benetzte seine Welt aus schroffem Gestein und Endlosigkeit, scharfkantige Wiesen und rostfleckiges Gestrüpp, ein Hauch von verwesendem Fleisch, eine Ahnung dämmernder Finsternis. Seine nackten Füße irgendwo an seinem Leibe, irgendwie ein Teil von ihm, schmerzend, längst zerfasert von Scherben aus Vergangenheit und Zuflucht, längst zerrissen vom Sog der Charybdis im Sand, seine Haut ein einziges Gespann aus dürrem Papyrus, zerlöchert durch den Regen aus Feuer, sein Haupt eine Krone aus Zähnen, erhaben, erhoben, zertrümmert im Anblick gleißender Kälte. Der einzige Weg zu gehen führte im Kreise, folgend den Spuren, welche sein Schatten auf den Wogen des Meeres hinterließ, stets im Rund, ohne Vorankommen, ohne Verharren, ohne Regung, ohne Gefühl und ohne Reue. Fern im Auge des Sturmes blitze das Schwert des Hephaistion, überzog für einen Herzschlag die Ebene, ehedem das Herz seine Hiebe einstellte, dass die stumpfe Klinge nurmehr in einem Hügel aus tränengleißendem Blute konnte enden, welches kaum eine Entschädigung war für all die verpassten Gelegenheiten. Eines Tages mochten sie sich wieder sehen, auf einem Schiff, überzogen mit Algen aus alten Erinnerungen, einem Kahn aus pergamentenen Wolken, auf welchen die Worte ihres Lebens waren aufnotiert, welches hinfort würde gleiten auf dem Oceanos verlorener Zeiten, verlogener Weiten, verbogener Welten - doch an diesem Tage, am Ende aller Kraft zerfiel das Skelett zu hölzernem Staub, denn nichts mehr würde bleiben von Flucht und Tod als ein ausgemergeltes Flüstern, das der Wind mit sich trug.

    ~~~

    Zögerlich, beinah ein wenig furchtsam betrat Gracchus nach scheinbar unendlich langer Zeit sein Cubiculum, doch tatsächlich erwartete ihn nichts unerwartetes, tatsächlich bot sich der Anblick wie eh und je. Alles in diesem Raume war Manius Flavius Gracchus - die Wände strahlten Manius Flavius Gracchus aus, das Mobiliar roch nach Manius Flavius Gracchus, der Boden tönte nach Manius Flavius Gracchus, die Luft schmeckte nach Manius Flavius Gracchus und beinahe schien es, als wäre in den Kissen und Decken des Bettes noch der Abdruck Manius Flavius Gracchus' Leib zu erkennen, als würden sie noch immer seine Wärme halten; alles in diesem Raume war Manius Flavius Gracchus, nur er selbst passte nicht mehr hierher, drang wie ein Fremdkörper in die Gefilde eines Mannes ein, welcher nicht mehr existierte, wie ein Parasit, der kam, sich im Gemach eines Verstorbenen einzunisten. Manius Flavius Gracchus, einst Senator, Praetorier, Pontifex, Familienoberhaupt - dann Konspirant, Kaisermörder, Staatsverräter, Flüchtiger - dann bibliothecarius, Geliebter, Aton, Peregriner. Und nun? Stunden zuvor - oder waren es Tage, war es ein anderes Leben gewesen? - war jene Person nur eine blasse Ahnung gewesen, und noch immer schien dieses Leben gleichsam so traut wie unendlich fern. Wer war er, der er hier stand, im Cubiculum des Manius Flavius Gracchus, was war noch von ihm übrig?
    "Nichts"
    , echappierte seiner Kehle, und mit einem Male fühlte er sich müde, unendlich müde, und alt, unendlich alt, als wäre die gesamte Welt über ihn hinweg gerollt, als hätte die Zeit ihn überholt. Er wollte nurmehr schlafen, sich niederlegen und nie wieder erwachen, hinfortsegeln auf einem Schiff aus Grün und Blau, befreit von allen Fragen, befreit von aller Ungewissheit und aller Last, befreit von allem nagenden Zweifel und Bedenken bezüglich des Verbleibs all der Menschen, welche Manius Flavius Gracchus lieb und teuer oder anvertraut gewesen waren. Er streifte die alten Sandalen des Aton von seinen Füßen, zog die Tunika des Aegypters über den Kopf und legte sich auf das Bett des Patriziers, welches Jahr und Tag seit seinem Aufbruch hatte seines Besitzers geharrt, zog seine Beine eng an den Leib, die Decke über sich und schloss die Augen. In Morpheus' Reich war es nicht von Bedeutung, wer er war, nicht, wer er sein wollte, nicht einmal zu sein.

    Es schien Gracchus beinahe als wäre es gestern gewesen, dass er die Villa Flavia und Rom fluchtartig mitsamt seiner Familie verlassen, und letztlich war er nicht einmal sich dessen gewiss, wie viel Zeit seit diesem Tage -deren gewahr oder unwissentlich - tatsächlich an ihm war vorüber gezogen. Zu viel Zeit. Zu viele Schritte. Zu viele Fluchten. Zu viele Trennungen. Zu viele Tote. Und nur eine einzige Rückkehr. Obgleich er nicht alleine das Haus betrat, so fühlte er doch sogleich die Leere, welche in dem Anwesen vorherrschte, welche similär in ihm selbst vorherrschte. Acanthus, der Ianitor, bestätigte das vage Gefühl des Ankommens, des Nach Hause-Kommen wie es kaum ein anderer Sklave hätte vermögen können, bewachte er doch diese Türe seit Gracchus sich dessen konnte entsinnen, dass überhaupt jemand die Türe bewachte, doch letztlich war er nur ein Sklave, nur ein Teil des Mobiliars, und niemand sonst erwartete ihn.
    "Willkommen in der Villa Flavia"
    , wandte Gracchus sich zu Decimus Casca um, welcher den Anblick bot als wäre auch er all diese Fluchten nicht gewohnt, was unbezweifelt ohnehin keinem Römer sollte geläufig sein.
    "Du solltest dich ausruhen, hier sind wir si'her."
    Der Flavier wollte nicht weiter über den Wahrheitsgehalt dieser Aussage sinnieren, denn augenblicklich war er sich dessen gänzlich gewiss. Niemand würde die Villa Flavia Felix stürmen können, niemand würde dieses Anwesen verwüsten können. Niemand.
    "Richtet ein Gästezimmer für Decimus Casca, versorgt ihn mit allem, was er be..nötigt, und kümmert euch um die Sklaven der Decima."
    Er sprach nicht zu einem bestimmen Sklaven, denn letztlich war es ihm gänzlich gleich, wer diese Aufgabe erfüllte. Er war zurück in der Villa Flavia, er war Manius Flavius Gracchus - jede Anweisung, welche er hier aussprach, wurde Realität, immer. Ohne ein weiteres Wort trat er in den Gang hinter der Porta ein, hielt nur inne, um den Büsten der Titi Flavii Vespasiani - Vater und Sohn - einen Kuss auf den steinernen Schädel zu hauchen, und verschwand im Inneren des Hauses.

    Zu lange harrte Gracchus bereits in einem Zustand unstetigen Ausblickes als dass die Zeit bis zur Rückkehr des Sklaven der Decima ihm allzu lange erschien. Raghnall indes kehrte nicht allein zurück, wurde geleitet von zwei Sklaven des flavischen Haushaltes - Exemplare, deren Namen Gracchus nicht kannte, wie letztlich keinen Namen eines Sklaven abgesehen von Sciurus, welche ihm jedoch ob der athletischen Ästhetik ihrer Leiber und der Tatsache, dass sie ihn des öfteren zum Senat oder den Tempeln der Stadt hatten geleitet, durchaus traut waren.
    "Acanthus schickt uns, Herr!"
    Acanthus! Dies war der Name der Porta, der Eintritt in das flavische Leben, welches so lange ihm war verwehrt gewesen, der erste Augenblick des Nach Hause-Kommens, der Schritt über die Schwelle in vertraute, sichere Gefilde.
    "Gehen wird"
    , bestimmte Gracchus, dass kurze Augenblicke später die kleine Gruppe - mittig Decimus und Flavius, umringt von Sklaven - mehr oder minder klandestin das Capitolium Vetus bereits wieder verließ und zur Villa Flavia weiter eilte.

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    Acanthus liebte seine Position als Ianitor der Villa Flavia und er hatte viele Jahre hart dafür gearbeitet, diese Aufgabe mit Perfektion zu meistern. Dazu gehörte auch, seine Gemütsverfassung stets für sich zu behalten und ruppig, abweisend, im besten Falle wertfrei aufzutreten. Doch letztlich war Acanthus nur ein Mensch - zumindest per biologischer Definition, wenn auch nicht dem Stande nach - und die Aufregung darüber, dass einer der Herren nach derart langer Einsamkeit des Sklavenhaushaltes beinahe Wurfweite entfernt war, ließ sich nun doch als Spur auf seinem Antlitz erkennen.
    "Im Capitolium Vetus?"
    Die Stimme des Ianitors überschlug sich beinahe. Sodann drehte er sich zum Inneren des Hauses.
    "Euandros! Achates!"
    Nur Bruchteile vergingen, da die beiden gerufenen custodes - im Glauben, die Porta sei gestürmt worden - die Türe erreichten, ein wenig unsicher beim Anblick der friedlichen Szenerie.
    "Der Herr ist im Capitolium Vetus! Folgt diesem Mann und geleitet ihn nach Hause!"
    Für den Kommentar des Fremden hatte Acanthus keinen Sinn mehr, letztendlich nicht einmal noch für diesen selbst, denn schlussendlich war die Ankunft eines Flavius vorzubereiten! Der Aufmerksamkeit der beiden durchtrainierten Männer, bewaffnet mit Knüppeln und mit Lederpanzern geschützt, konnte Raghnall sich indes gänzlich sicher sein.




    IANITOR - VILLA FLAVIA

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    Selbstredend mochten die Worte für einen Unbeteiligten nicht nur belanglos, sondern zudem ein wenig sonderbar scheinen, doch Acanthus war ein Teil der flavischen Familie - ein unbedeutender, unfreier und unbeachteter womöglich, doch zweifelsohne ein Teil -, und seit dem Tage, da die freien Mitglieder das Haus unfreiwillig hatten verlassen, harrte er ihrer Rückkehr. Einem Donnerschlag gleich trafen ihn darob die Worte, das Gladius fiel unbeachtet wieder zu Boden, wo es mit einem metallenen Scheppern aufschlug, während der Ianitor bereits dabei war die Porta zu öffnen. Niemand konnte diese Botschaft kennen, der nicht eingeweiht war, niemand kannte die Losung außer jenen, die sie vereinbart hatten. Vor der Türe stand ein einzelner Mann.
    "Wo ist er? Wann wird er eintreffen?"
    blaffte Acanthus in seinem üblich unfreundlichen Tonfall - zu lange hatte er diesen perfektioniert, als dass er ihn je an der Porta würde ablegen können.




    IANITOR - VILLA FLAVIA

    [Blockierte Grafik: http://img232.imageshack.us/img232/9697/acanthusmj4.jpg| Acanthus


    Noch immer harrte der Ianitor Acanthus - hätte die flavische Porta eine Seele, so wäre zweifellos er ihre Personifikation - geduldig hinter der Türe aus, sann dieser Zeit über die Stofflichkeit von Farben nach, hörte gleichsam jedoch mit halber Aufmerksamkeit auf jedes Geräusch, welches draußen zu vernehmen war - eine Technik, welche er seit Jahrzehnten bereits hatte verfeinert. Nur ab und an war der Mob der Straße in der Ferne zu vernehmen, nur selten das Klappern von Soldatenschuhen und Rüstungsteilen, doch jählings, gänzlich unvermittelt pochte es an der Türe! Kein Laut war zuvor zu vernehmen gewesen, so dass es kaum eine Gruppe konnte sein, niemand brüllte nach Toten, noch brüllte einer Befehle. Es war ein rundweg ordinäres Klopfen, so profan, dass es in diesem Augenblicke, an diesem Tage dazu gereichte, Acanthus in regelrechte Aufregung zu versetzen. War es allfällig nur dazu gedacht, herauszufinden, ob die Villa noch bewohnt war, oder war gar nur ein verirrter Vogel an das Holz geflogen? War ein Funken von Normalität in diesen Zeiten ein gutes Omen oder ein schlechtes?
    "Ja?"
    fragte der Ianitor so laut, dass das Gegenüber auf der anderen Seite der Porte es würde vernehmen können, doch nicht laut genug, dass ein Gemütszustand darin würde hineininterpretiert werden können. Während er auf eine Antwort wartete rückte er den alten Legionärshelm zurecht und suchte nach dem Gladius, welches er auf dem Boden abgelegt hatte.




    IANITOR - VILLA FLAVIA

    "Dies ist alles"
    , bestätigte Gracchus dem Sklaven, blickte jenem auf seinem Weg kurz hernach und erwog sodann, die Türe zu schließen. Doch im Inneren des Raumes würde nur Dunkelheit auf sie warten, waren die schmalen Fensterschlitze kurz unter der Decke doch nicht groß genug, ausreichend Licht einzulassen.
    "Bleibe an der Türe stehen und schließe sie, sofern jemand in Sichtweite gelangt"
    , wies er darob den Custos Corporis an. Sodann wandte er sich dem Decimus zu, welcher im blassen Schein einem ausgebleichten Bildnis glich, dem Schemen eines Traumes similär, welcher im nächsten Herzschlag zu Erwachen sich wandelte. Doch Decimus Cascas Kontur schwand nicht, der Alb dieses Tages - dieser Tage, Wochen, Monate - retirierte nicht, die Realität blieb jene Gräuel, welche sie bis an diesen Ort hatte geführt.
    "Zu jenem Anwesen, welches in Prä-Vescularischer Kaiserzeit die Villa Flavia Felix, wiewohl mein Zu..hause war. Da Flavius Felix noch immer Eigentümer dieses Anwesens ist, bin ich der Hoffnung, dass der Vescularier es nicht in Besitz hat genommen, obgleich es dur'haus möglich ist, dass dennoch einer seiner Konfidenten dort Einzug hat gehalten, ob dessen ich nicht ohne Gewissheit dort eintreffen möchte."
    Ein leises Seufzen echappierte Gracchus' Kehle bei dem Gedanken daran, dass ein anderer, ein Gefolgsmann des Vescularius, würde um seine Musen wandeln, seinem Mercurius über den Flügelhut streichen oder an seinem Jüngling sich erfreuen könnem. Die Frage der Sklavin indes beantwortete er nicht, war ihr Stand durch jene Frage doch unzweifelhaft verdeutlicht, wiewohl es dem Flavier niemals in den Sinn würde gelangen, Fragen eines Sklaven eines anderen Mannes zu beantworten. Im gleichen Augenblicke indes verspürte er einen Anflug von Sehnsucht in sich, einem Sehnen nach seinem alten Leben, seinem Zuhause und seinen eigenen Sklaven.

    Ohne auf eine Richtung zu achten war Gracchus dem Sklaven der Decima gefolgt - nicht nur da er in seinen eigenen Gedanken war gefangen, sondern auch da er ohnehin den Weg nicht kannte. Er kannte Orte in Rom - Staatsgebäude, Kultgebäude, Theater, Circi und Thermen, Foren und Märkte, einzelne Casae und Villae, sowie die ein oder andere größere Straße -, doch konnte er diese nur grob auf oder zwischen die Hügel ordnen, allfällig in Stadtteilen platzieren, nicht jedoch die Verbindungswege dazwischen ziehen, was nicht nur seinem schlechten Orientierungsgedächtnis war geschuldet, sondern vielmehr der Tatsache, dass er schlichtweg überaus selten nur zu Fuß war unterwegs und auch in einer Sänfte nie auf die Welt um ihn her achtete, sondern viel eher in seine Gedanken oder Kritzeleien auf einer Tabula sich vergrub. Weit observabler als die zurückzulegende Strecke waren ohnehin die Eindrücke, welche die Straßen und Wege boten, durch die Raghnall sie führte - leere, verlassene Pflaster, bisweilen gar zerstörte Hauseingänge, bisweilen um nahe oder ferne Ecken das Klicken von Soldatenschuhen auf dem steinernen Grunde oder die Ausrufe einer marodierenden Gruppe plündernder Römer - plündernde Römer, was hatten sie nur getan? Mehr jedoch als alle Anzeichen römischer Plünderung verstörte Gracchus die aller Orten vorherrschende Leere, die Absenz der rastlosen Menschen, der Mangel an überbordendem und quirligem Treiben, das Fehlen bunter Lebendigkeit, betörender und torquierender Gerüche, Geräusche und Aussichten, welche die Stadt sonstig überzogen. Roma war nurmehr ein Gerippe, ihr Leib ausgeblutet, ausgeweidet, ausgenommen, ihr Skelett abgenagt, nurmehr der Schemen einer Larve, welche als rastloser Schatten ihr einstiges Gebiet heimsuchte, denn kaum mehr war noch geblieben von der grazilen Schönen, von der wollüstigen Hure, von der fürsorglichen Mutter Roma als eine fade Reminiszenz. Der Weg bis zum Capitolium Vetus schien Gracchus darob überaus strapaziös, obgleich verglichen mit seinen zuletzt zurückgelegten Strecken dieses kurze Stück wohl kaum mehr beachtenswert konnte sein. Alle Mühe, alle Anstrengung indes verblich im Anblick des Capitolium Vetus, welches wie seit Jahrhunderten bereits unbeeindruckt von jedem menschlichen Geschehen auf seinem gewaltigen Strebewerk über allen umliegenden Gebäuden thronte, evozierte dies doch bereits ein überaus starkes Gefühl von nach Hause kommen in Gracchus, führte der Weg von der Alta Semita zur Villa Flavia hin doch stets an dem Tempelareal der göttlichen Trias vorbei. So stand er einige Augenblicke nur still, atmete den Duft von vertrautem Terrain, gedrängt von dem Verlangen, stante pede vorbei an den Streben des Podestes den Weg nach Hause einzuschlagen. Konkommitierend jedoch drängte ihn die angenommene Verpflichtung, für das Wohl des jungen Decimus Sorge zu tragen, dazu, der Villa Flavia vorerst noch fern zu bleiben.
    "In das Fundament des templum sind einige Räume in..tegriert"
    , bedeutete er seinen Begleitern und wählte zielstrebig den Weg nach links vorbei an dem Strebewerk, zu einer der schlichten, hölzernen Türen in deren Mauer. Routiniert schob er einen metallenen Rigel, welcher in der oberen Hälfte der Türe war angebracht, zurück und drückte den Zugang auf. Gegenteilig zu den Schlössern, mit welchen die Vorratskammern des Tempels waren versehen, diente die Sicherung in diesem Falle nur dazu, Tiere aus dem Raum fernzuhalten, in welchem nur Tische und Bänke wurden gelagert, die bei Opferspeisungen über den Vorplatz verteilt wurden. Es dauerte einige Augenblicke, bis dass Gracchus' Augen sich an das trübe Dämmerlicht hatten gewöhnt.
    "Ich hoffe, wir werden nicht allzu lange hier ver..weilen müssen."
    Er wies in den Raum hinein, hielt jedoch Raghnall davon ab, den anderen zu folgen.
    "Dieser Weg führt weiter zu einem ummauerten Anwesen, welches du linkerhand um..rundest und sodann entlang der nächsten Querstraße an ein großes, ebenfalls ummauertes Anwesen gelangst. Wiederum linkerhand findest du die Porta dieses Anwesens, in welche goldfarbene caducei sind eingelassen. Klopfe dort und berichte, dass du eine Na'hricht dem Ianitor zu überbringen hast von jenem, welcher die Stadt mit den Toten verließ, dessen wertvollstes Vermächtnis im Geäst der Weiden schlief. Sofern dir niemand öffnen wird, kehre zurück, andern..falls wird alles weitere sich fügen."

    "Und vom Schlaf scheuchend, roßhufdröhnend, oh! Wie naht der Lärm und fliegt und tost brausend her. Un..widerstehlichen, bergschlagenden Wassern gleich! Weh! Weh! Weh! Weh! Weh! Weh!"
    Einem Rausch gleich sog Manius die Worte in sich ein, vermochte nicht mehr die Zeilen zu memorieren, schob das Pergament nur Reihe um Reihe abwärts, im Taumel dieser Essenz, welche einzig für ihn und seine Zeit verfasst worden zu sein schien.
    "O Götter, Göttinnen! Hinweg scheu'ht das empörte Weh! Laut rufend rückt mauerwärts der weißschildigen Feinde Volk, mächtig Schar auf Schar gegen die Stadt zum Sturm an. Ach, wer er..rettet uns!"
    Beinahe schien es ihm als wären es seine Worte, die eben erst dem seinen Geist, die geradewegs einem Traume entsprangen.
    "Ach, wer erbarmet mein sich, Gott, Göttin, wer? Oh! Nieder zu welchem Bild soll ich der Ewgen jetzt flehend knien? Erhört, ho'hthronende Götter, uns!"
    Das pergamentene Blatt fand sein Ende und mit ihm der Fluss der Worte. Stille blieb. Leere.
    "Ach, wer er..barmet mein sich, Gott, Göttin, wer?"
    repetierte Manius flüsternd, schob die Schriftstücke vor sich zusammen. Irgendetwas hatte ihn derangiert, irgendetwas hatte die Decima gesagt, was er nicht konnte einordnen, was doch gleichsam ein sonderbares Unbehagen in ihm hatte hinterlassen, dass er sich nicht mehr sicher fühlte im Angesicht der Schriftrollen, der Sätze und Worte, welche für die Ewigkeit darauf waren fixiert. Hastig verwahrte er die Sieben gegen Theben und verließ die Bibliothek, um in sein Cubiculum zurückzukehren - die Ruhelosigkeit indes sollte nicht mehr von ihm lassen bis zu jenem Tage, an welchem seine Wahrheit ihren rechtmäßigen Platz wieder einforderte.

    Zitat

    Original von Decima Seiana et Cnaeus Decimus Casca


    Jedes Wort, welches der Sklave sprach, stürzte Gracchus nur weiter in Verwirrung, warf weit mehr Fragen auf als es konnte beantworten, wiewohl jede Frage eine weitere nach sich zog. Weshalb hatten Legionäre die Decima gefangen genommen? Hatten sie gewusst, wer sie war oder war sie zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen? Seit wann war die Legio II in Rom? Wer hatte sie nach Rom geführt? War sie die einzige Legion in Rom? Wer stand ihr gegenüber? Wohin hatten die Soldaten Decima Seiana gebracht? Zu welchem Zwecke? Was gedachten sie mit ihr zu tun? Waren die Soldaten überall in Rom unterwegs? Wen hatten sie noch gefangen genommen? Hatten sie die Stadt besetzt? Hatten sie den kaiserlichen Palast eingenommen? Was war mit Vescularius Salinator geschehen? Was war mit Rom geschehen? Weshalb zog ein wütender Mob durch die Straßen? War es sicher sich dort hinaus zu wagen? Was war mit der Villa Flavia? War sein Zuhause noch im Besitz der flavischen Familie oder längst von Vescularius annektiert worden? Zweifelsohne hätte Gracchus noch lange im Stall der Casa Decima verweilen und in endlosen Fragen sich verlieren können, hätte nicht die kurze, doch überaus feurige Rede des Decimus Casca mit ihrem abschließenden, unumstößlichen
    “NIEMAND wird hier eindringen,“
    seinen Gedankengang unterbrochen, stante pede gefolgt von den Weisungen des Veteranen, da augenscheinlich das Hereinkommen nicht länger eine Frage des ob, sondern nurmehr des wann war. Noch immer ein wenig überfordert von der Geschwindigkeit der Ereignisse und der Notwendigkeit einer Reaktion darauf vergingen unendliche Augenblicke, in welchen die Sklaven bereits zum Hinterausgang drängten, der Flavier jedoch nur unschlüssig verweilte. Neuerlich eine Hintertür, neuerlich eine Flucht einem Verbrecher gleich, und wiederum schien das Leben nurmehr eine endlose Wiederholung, eine endlose Schleife abwärts, und nur das Ende dieser Flucht schien ein unscheinbarer Schimmer am Horizont.
    "Bringe mich zum Quirinal, zum Capitolium Vetus"
    , wies er ob dessen Raghnall an, denn von dort aus würde er eruieren können, was mit dem Anwesen der Flavier geschehen war, und selbst wenn es dort für ihn kein Zuhause mehr gab, so würde er doch im Capitolium Zuflucht finden können. Zwar mochte es possibel sein, dass jene ihm wohl bekannten Kultmänner, welche dort ihren Dienst hatten verrichtet, durch den Vescularier waren substituiert worden, doch letztlich würde in der augenblicklichen Situation - in welcher gänzlich ambivalent schien, wer in Rom noch Verräter und wer Patriot war - ein flavischer Senator und Pontifex zweifelsohne in einem Tempel Zuflucht finden können, wiewohl in dieser Situation ein Tempel unbezweifelt als geschützer Ort ihm gelten musste, denn selbst oder aber gerade in einem Bürgerkrieg würde wohl kein Römer den Göttern zürnen wollen. Noch ehedem jedoch der Sklave der Aufforderung konnte nachkommen zögerte Gracchus, trat sodann einen Schritt auf Decimus Casca zu. Er war ihm stets nicht leicht gefallen, das Alter seines Gegenübers einzuschätzen, doch der Decimus war beileibe noch einige Jahre jünger als sein Neffe Flaccus.
    "Decimus, nicht wahr?"
    Das Wohl des jungen Mannes mochte nicht in Gracchus' Verantwortung liegen, doch er stand in Faustus' Schuld, in Decima Seianas Schuld, in der Schuld ihrer Familie, wiewohl er zudem für dies alles, dies Geschehen, dieses Chaos, diese Gewalt mit verantwortlich war - obgleich er diesen Gedanken noch vehement zu verdrängen suchte.
    "Auch wenn uns dies eigentümli'h erscheinen mag, so steht Fortuna nicht immer auf Seiten der Mutigen, und in diesen Augenblicken kann ein wenig Furcht durchaus ein weiser Ratgeber sein. Dies ist nicht dein Kampf und niemand wird in den Annalen deiner Familie die Eintragung missen, dass du als Ver..teidiger eines geplünderten Hauses in heldenhaftem, doch ausweglosem Kampfe gegen den aufgebrachten Pöbel gefallen bist. So du es gestattest und in der Hoffnung, dass im schlimmsten Falle zumindest Pietas noch immer zu den römischen Virtutes zählt, will ich versu'hen, mich für die Zuflucht in diesem Hause zu revanchieren und dir ebenso sicheres Obdach zu gewähren."
    Ein wenig schien diese Verantwortung, diese Verpflichtung dazu beizutragen, dass Gracchus unwillkürlich ein Stück weit zurück in jene Rolle verfiel, welche er vor dem Tode des Valerianus so lange Zeit hatte ausgefüllt, dass ein wenig mehr von dem patrizischen Flavier, dem Senator und Pontifex observabel wurde, welcher in den letzten Monaten so tief in ihm war verborgen gewesen.

    Als wäre er längst wieder vertieft in seine Arbeit schob Manius die Pergamente vor sich auf dem Tisch herum, deckte die Zeilen ab, um der profanen Pläsir des Lesens sich wieder zuzuwenden, doch in Gedanken ritt er noch immer auf dem Uroboros seiner Verpflichtung und Obliegenheiten, sowie deren Unterlassung und Säumnissen. Auf die Abbitte der Decima hin hob er noch einmal den Kopf, ohne jedoch sich wieder ihr zuzuwenden, blickte in die Unendlichkeit der Erkenntnisse, welche kein Geist von sich konnte weisen.
    "Die Wahrheit ist niemals unan..gemessen, wie torquierend für den einzelnen sie auch sein mag."
    Alsdann suchte er auf dem Pergament die letzte Zeile des Textes, welche er noch in seiner Erinnerung vorfand, um dort anzuschließen, leise murmelnd die nächsten Worte in sich aufzunehmen, um endgültig wieder die Realität aus seinem Geiste zu verdrängen.
    "Mich entsetzt ein unermessliches Weh! Hervorbri'ht das Heer aus den Gezelten schon, ein ungezähltes Volk Reisige strömt vorauf; im Feld himmelan wolkiger Staub bezeugt's, ein lautloser, laut..kündender Bote mir."
    Ein komparabler Zustand schien auch in Manius nun vorzuherrschen, ein lautloser, lautkündender Bote in ihm, eine alles überziehende Wolke aus Staub, welche keinen klaren Blick zuließ, nur ein unermessliches Weh, dessen Ursprung ihm nicht auszumachen war.

    Zitat

    Original von Decima Seiana


    Ein wenig traumwandlerisch folgte Gracchus' Blick den Worten des Sklaven zu dem Custos Corporis hin, sodann wieder zurück. Decima Seiana. Er hatte sich in ihrem Zuhause verborgen, hatte sie und ihre Familie in Gefahr gebracht, und selbst da er augenscheinlich nicht der Grund war, weshalb die augenblickliche Gegenwart überaus perniziös erschien, selbst in dieser Gegenwart, da ihre Familie tatsächlich in Gefahr war, hatte sie ihn nicht vergessen. Er suchte dies alles zu ordnen, all diese Gedanken, die noch immer um ihn her kreisenden Erinnerungen und Erkenntnisse, die Bestürzung darüber, was geschehen war, die Scham darüber, was geschehen war, die Sorge um seine eigene Familie, doch er vermochte dies alles nicht in eine akzeptable Ordnung zu sortieren, war nicht fähig, seine Gedanken zielgerichtet zu fokussieren - nicht zuletzt daher, da ihm in all dem Chaos kein Ziel vor Augen war, er unmöglich bestimmen konnte, was zu tun war, ohne alle Fakten und Gegebenheiten zu kennen und zu bewerten. In Umständen wie diesen, in welchen das Leben drohte ihn zu übermannen, in welchen das Geschehen um ihn her zu rasant war, es zu erfassen, in welchem sein bedächtiger und zumeist lange wägender Geist überfordert war mit schnellen, spontanen Handlungen, konnte Gracchus sonstig sich auf seinen Vilicus Sciurus verlassen, ob dessen er nun schmerzlich bemerkte, wie sehr er diesen vermisste, wie hilflos er ohne die Hand dieses Sklaven war, welche rechtzeitig seine Schulter fasste, um ihn davon abzuhalten über die Klippen zu laufen, während er gedankenverloren die Wolken in systematische Muster einzuordnen suchte.
    "Wo ist Decima Seiana?"
    Er war bemüht, sich nicht anzumerken zu lassen, wie sehr ihn das Geschehen irritierte, schlussendlich war er Manius Flavius Gracchus - Manius Flavius Gracchus, mit welchem eigentümlichen Klang doch dies in seinem Geiste widerhallte, da er so lange danach hatte gesucht -, und allein dies bedingte ein gewisses Maß an Contenance zu wahren, was jedoch nicht gelang, denn zu deutlich spiegelte sich auf seinem Antlitz die Hilflosigkeit eines Mannes, welcher jeden Anker in seinem Leben hatte verloren. Zu allem Überfluss hatte die Situation der Hausgemeinschaft sich mitnichten verbessert mit dem Abzug der Soldaten, denn der Pöbel schien nun wahrhaftig gewillt, die Casa zu stürmen, und wie viele Männer seines Standes war auch Gracchus die tiefsitzende Furcht vor einer außer Kontrolle geratenen Herde inhärent, welche nicht mehr unterschied zwischen der Hand, welche sie fütterte, und derjenigen, welche sie schlug.
    "Gibt es … einen anderen Weg aus diesem Hause hinaus als die Porta?"

    Zustimmend nickte Manius auf die Worte des Decimus Casca hin, welchen er eines fernen Gedankens wegen den Decimi konnte zuordnen, vermochte jedoch im Augenblicke nicht die Kurzweil des ausgesprochenen Scherzes zu goutieren, obgleich er ihm durchaus amüsant erschien. Sodann trat ein weiterer Mann heran und eine Kiste rückte für einen kurzen Moment in den Focus der Aufmerksamkeit bis dieser durch das neuerliche Eintreffen wiederum eines weiteren Mannes und durch dessen Senator wurde gefüllt. Erwartungsvoll blickte Manius zu dem Decimus hin, welcher unzweifelhaft musste angesprochen sein, während gleichsam ein anderer Teil in ihm wusste, dass dies nicht korrekt war.
    Senator.
    Dies war es gewesen, was die Decima damals in der Bibliothek hatte ausgesprochen - deutlich konnte er die Laute nun in seiner Erinnerung vernehmen -, dies war das fehlende Fragment, das seit diesem Zeitpunkt beständig sich in seinen Sinn hatte gedrängt, einer hartnäckigen Larve gleich, welche an seine Füße sich hatte angehaftet, seine Beine war emporgekrochen, ihre Krallen hatte sukzessive in sein Rückgrat geschlagen, um in seinem Nacken sich festzusetzen, wo er sie nicht hatte sehen können.
    Senator.
    Fern noch grollte die die Essenz unausgesprochener Wahrheiten aus diesem Worte, einem Sommergewitter gleich, welches weit im Osten sich zusammen braute, welches doch gleichsam sich anschickte binnen kürzester Zeit das Zentrum der Welt zu umfassen und über Stunden hinweg dem Zorne der Götter gleich zwischen den Hügeln der ewigen Stadt sich zu entladen.
    "Senator"
    , repetierte er leise und blickte in die Augen des schönen Raghnall, welcher an einem anderen Ort, zu einer anderen Zeit allfällig gänzlich andere Gedanken hätte in ihm empor getrieben. Doch von diesem Augenblick an, dem Eingeständnis seiner Pflicht aus seinem eigenen Munde, von diesem Augenblicke an war das folgende Geschehen unvermeidlich.
    Senator Manius Flavius Gracchus
    , dröhnte es mit einem Male in den Hallen seines Gedankengebäudes aus tausenden Mündern zugleich, eine Erinnerung an jede einzelne Stimme, welche jemals diesen Namen hatte ausgesprochen, hallte es von den Wänden und den Grenzen seines Kopfes wider und wider, dass er glaubte darin ersticken zu müssen, glaubte seinen Verstand einbüßen zu müssen, welchen er womöglich doch gerade im Begriff war wiederzufinden. Dieser Name war in seine Seele eingebrannt, tief in sein Fleisch hinein, lastete schwer auf seinen Schultern, dass er glaubte unter seiner Bedeutung zerbrechen zu müssen. Mit einer fahrigen Bewegung suchte er Halt an einem Pfosten, denn die Welt um ihn her schien sich in Strudeln zu verlieren, schien ein Spiegel seines Innersten zu sein, in welchem die Zeit verschwamm - Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft -, er hin- und hergerissen war von dem Verlangen, seine Person zu definieren oder endgültig zu vergessen, im unerbittlichen Kampfe mit sich selbst, gegen sich selbst und um sich selbst.
    Manius Flavius Gracchus
    , war die Konstante seines Lebens, welche alles und nichts definierte, welche alles und nichts bedeutete, für oder gegen die er sich musste entscheiden. Doch je mehr er zuließ, dass dieser Name die Herrschaft gewann über sein Sein, desto mehr Bilder verdrängten die Realität, krochen in ihm empor, Geräusche und Gerüche, Empfindungen und Gedanken.
    Kaisermörder!
    Tiberius Durus, die Konspiration, das Testament des Valerianus', die Beseitigung des Kaisers und seiner Familie, Vescularius Salinator, die Proscritpion, Titus und Flamma in Weidenkörben, Antonia und Sciurus in Lumpen, die Flucht aus Rom, Minor und Flaccus neben dem Leichenkarren, die Toten auf dem Karren, die Larven um ihre Körper, der Fußmarsch, die Flucht durch Italia, die Demütigung und Schmach, das Fieber, das ausgezehrte Antlitz seines Sohnes, das Versteckspiel in Mantua, die wahnwitzige Idee zur Rettung des Imperium, die neuerliche Reise, die Ankunft in Rom, Faustus' Widerstand und gleichzeitig Zuneigung, das Versteckspiel in Rom, Atons Herrschaft über sein Leben, Atons Niedergang und das Zurückbleiben trister Leere, die Rebellen in Rom, welche keine Rebellen waren, sondern die Befreiung Roms - Römer, die Römer schlachteten! Kaum nur konnte er all dies in sich zurückhalten, kaum nur konnte er verhindern, dass verräterische, schimmernde Wasserperlen sich aus seinen Augenwinkeln drückten, denn nichts wollte er im Augenblicke noch von sich geben, gar als fürchtete er mit dem Verlust der Tränentropfen nur neuerlich ein Stück seiner Selbst zu verlieren. Wie oft hatte er in den letzen Monaten geglaubt, nicht tiefer sinken zu können, nur um stets eines besseren belehrt zu werden, und doch hatte er nicht im Ansatze erahnt, wie tief er tatsächlich gesunken war. Wie bei allen Göttern hatte er nur Faustus' Angebot annehmen können, sich im Inneren dieses Hauses zu verstecken, einem Hasen gleich, welcher in seinem Bau unter der Erde abwartete bis der Fuchs über ihm vorübergezogen war? Noch ehedem er jedoch diese Frage sich hatte gestellt, wusste er bereits die Antwort, denn in seinem ganzen Leben war er stets nur ein Feigling gewesen, hatte nie genügend Mut aufgebracht, um auch nur ein wenig mehr als ein Hase zu sein. Über die Unzulänglichkeit seiner Selbst indes zogen seine Gedanken zu wichtigeren Menschen seines Lebens, zu Minor, Antonia, Titus, Flaccus und Flamma, deren Wohl in seiner Verantwortung lag, über deren Verbleib indes er nicht die geringste Spur einer Ahnung hatte. Wie hatte er untätig sich in dieser Casa einnisten können, während das Schicksal seiner Familie irgendwo in Italia im Ungewissen schwebte? Faustus. Blind war er vor Liebe gewesen, hatte einem verliebten Narren gleich sein Leben negiert, nur um einige Augenblicke vergessen zu können, was war, sich verlieren zu können im trügerischen Ozean der Liebe. Wo war Faustus jetzt? Gefallen oder gefangen allfällig, der Praefectus Praetorio des Vescularius - Sieger und Verräter hatten die Plätze getauscht, er selbst stand mitten unter den Verrätern und würde das zurecht wütende Volk Roms - was hatten sie nur getan? - diese Casa stürmen, so würde er sein Ende mit ihnen finden, würde sein Leichnam verscharrt werden, würde niemals irgendwer wissen, was aus Senator Manius Flavius Gracchus geworden war.
    "Ja"
    , entgegnete Gracchus ein wenig abwesend, noch immer ein wenig hadernd mit sich selbst, ein wenig ertappt beinah, doch letztlich konnte er seiner Pflicht nun nicht mehr entkommen, da jedes noch so marginale Fragment seiner Maskerade - intrinsisch wie extrinsisch - von seiner Person war abgefallen.

    Ratlos lenkte Manius seine Schritte durch die Casa, welche trotz der Zeit, die er bereits hier hatte verbracht, noch immer ihm fremd war. Wieder bedrängte ihn dieses alles umfassende Gefühl, dass etwas nicht korrekt war, dass dieses Leben, diese Welt, dies Geschehen nicht war, wie es sollte sein, was es sollte sein - doch wie stets konnte er diese Diskrepanz nicht fassen, konnte sie nicht näher definieren, schien sich beständig nur im Kreis um sich selbst zu drehen.
    "Los, los, zum Stall, nicht trödeln!"
    Zwei junge Sklaven huschten an Manius vorbei, sodann packte ihn von hinten eine kräftige Hand am Ellenbogen und zog ihn mit sich. Es war die Köchin, welche die schroffe Aufforderung hatte gesprochen und ihm nun - mehr oder minder mit seinem Einverständnis, obgleich die Art und Weise des Geheiß' ihn ein wenig konsternierte - den Weg wies, eine überaus resolute Sklavin, welche er zwar aus der Küche kannte, deren Name ihm jedoch nicht geläufig war. Da ihm indes im Augenblicke keine andere Vorstellung jedweder Handlung im Sinne lag, folgte er den Sklaven, denn schlussendlich hatten auch die Männer an der Porta ihn zum Stall gewiesen. Ein Gemisch aus dem Gestank von Pferdeäpfeln, den Ausdünstungen der Tiere und einer weiteren indefiniblen, feinen Nuance - allfällig war es die Furcht, welche über dem gesamten Hause lag - hielt den Stall umfasst, wiewohl die Tiere durch die Anwesenheit der vielen Personen ebenso nervös schienen wie diese selbst. Manius hörte nicht auf das Durcheinander von Worten und Stimmen, welche alle nicht recht zu wissen schienen, wie es nun sollte weitergehen, er achtete nicht auf die bleichen Gesichter, welche er ohnehin nicht kannte, trat nur durch das Dämmerlicht des Stalls hindurch zu einem braunfarbenen Pferd. Ein feines Lächeln umspielte seine Lippen als er seine Hand beruhigend dem Tier auf die Flanke legte, erinnerte ihn dieses doch an eine weit zurückliegende, ferne Zeit, eine Zeit in welcher er noch nicht gefangen gewesen war in dieser Stadt, eine Zeit in welcher er noch regelmäßig Ausritte hatte unternommen auf seinem Hengst Empyrion gemeinsam mit Caius. Er hatte ihn geliebt. Den Hengst. Und Caius. Der ebenfalls ein Hengst gewesen war. Was mochte nur aus ihm geworden sein? Tatsächlich schien Manius diese Frage weitaus essentieller als die Frage danach, was nun aus ihm würde werden, bot dies doch neuerlich einen Aufschub einer Entscheidung, welche er - nachdem die Männer an der Porta ihm jeglichen Wind aus den Segeln seines Mutes hatten genommen - nicht zu treffen hätte gewusst. Dann jedoch entsann er sich eines Pferdes im Senat, welches kein Pferd gewesen war, sondern ein Esel, oder allfällig ein Schwein, ein fettes Schwein - und dieser Gedanke wiederum derangierte ihn derart, dass er nun doch suchte sich auf das Geschehen um ihn her zu konzentrieren.

    In Rom ereignete sich ein Umbruch, welcher größer für das Imperium Romanum nicht konnte sein, da durch einen Bürgerkrieg ein Kaiser gewaltsam dazu wurde gedrängt, einem anderen Platz zu machen - und während dieses Unterfangen in vollem Gange war, beinahe bereits ]in den letzten Zügen lag, wurde es aller Orten geleitet von größeren und kleineren Katastrophen, von Ende und Neubeginn - manch einer verlor sein Leben, manch anderer seine Würde oder Freiheit, manch einer wiederum gewann ein kleines Vermögen, ein anderer neues Ansehen oder einen Posten. Es gab kaum nurmehr einen Ort in der ewigen Stadt, bisweilen gar darüber hinaus, an welchem Stillstand vorherrschte, an welchem das Leben noch beschaulich und geregelt seine Bahnen zog. Einer jener wenigen Orte war die scholae bestiarum des Ludus Matutinus, denn während die Menschen sich gepflegt gegenseitig aufrieben, der ein oder andere bisweilen einen Sinn in seinem Handeln suchte oder von Reue und Gewissensbissen geplagt wurde, besannen die Tiere sich stets nur auf ihre Triebe - fraßen und schliefen, pflanzten sich fort und balgten sich um die Rangfolge ihres Rudels. Und doch, selbst an diesem so friedlichen Ort der Natur tat sich dieser Tage ein Ende auf, ganz unbeeinflusst und unbeeindruckt von den politischen Machenschaften menschlicher Umwälzung. Seit Tagen herrschte Unruhe im Rudel der flavischen Löwen, denn seit Tagen fraß das ohnehin zumeist apathische Männchen am Ende der Rangordnung nicht mehr, verströmte einen ungustiösen Odeur nach Fäulnis und Verderben. Glasig blickten die Augen durch alles Geschehen hindurch als würde es längst in einer anderen Welt weilen voller saftiger Wiesen auf welchen die Beutetiere derart zahlreich weideten, dass die Jagd ein leichtes war. Ein Mensch allfällig hätte ihm Gedanken an diese wundervolle Jagd angedichtet, Erinnerungen womöglich an freudigere Tage - obgleich dieser Löwe die Freiheit niemals hatte gesehen -, oder Sehnsüchte nach der fernen Heimat Africas, doch tatsächlich dachte das Tier nichts, nicht einmal an Fressen, dämmerte nur schläfrig in den Tod hinein. Während also Rom erobert wurde durch die Getreuen des Cornelius Palma, während die Jagd nach den Anhängern des Vescularius Salinator ihren Lauf nahm, während sein Besitzer sich in den Wirren des Bürgerkrieges verlor, hauchte völlig unbeeindruckt vom Weltgeschehen im Ludus Matutinus der Löwe des Manius Flavius Gracchus seinen letzten Atemzug aus, und nur die Unruhe der anderen Tiere des Rudels über den modrigen Kadaver in ihrem Gehege zeugte von diesem Geschehen.

    Von dem Cubiculum des Aton her kam Manius mit festem Schritte, nichts bei sich tragend als die Kleidung an seinem Leibe, durchquerte desinteressiert einem Pferd mit Scheuklappen gleich das Atrium - gleichwohl penibel darauf achtend, nichts von dem Geschehen, den Überresten des kürzlichen Geschehens dort in sich aufzunehmen -, und trat schlussendlich forsch auf den Eingang der Casa Decima zu.
    "Öffnet die Porta, ich muss dieses Haus verlassen!"
    gebot er den Veteranen, welche sich vor der fest verriegelt und gesicherten Türe dort hatten versammelt, um das Haus vor den marodierenden Horden zu schützen. Diese jedoch blickten nur ein wenig irritiert zurück.
    "Niemand öffnet die Porta! Geh zurück zu den anderen und verschanze dich im hinteren Teil des Hauses. Wir sorgen dafür, dass niemand mehr rein kommt!"
    "Aber ich muss hinaus!"
    insistierte Manius, denn es war ihm ernst mit seinem Vorhaben. Der Wortführer der Veteranen jedoch war nach dem Vorfall mit den Soldaten angespannt, so dass sein Tonfall - von welchem er annahm, er würde ohnehin keine Widerrede dulden - schroff und unfreundlich ausfiel.
    "Niemand geht hinaus, klar? Diese Tür bleibt zu bis sich die Lage da draußen wieder beruhigt hat oder ein Decimus etwas anderes sagt. Also verzieh dich wieder ins Haus und bereite dich darauf vor, dich notfalls zu verteidigen!"
    "Aber ich muss ..."
    "Das ist mir egal, was du musst! Und wenn du Iuppiter persönlich treffen musst, dann wirst du warten müssen! Ich sag es nicht noch einmal - verzieh dich in den hinteren Teil des Hauses oder ich sorge dafür, dass dich einer meiner Leute da hin prügelt, Peregrinus!"
    Dieser befehlshaberische Tofall hatte etwas Ungeheuerliches an sich, dass Manius' linke Braue deutlich sich in die Höhe schob, wiewohl es ihn drängte, dem Mann zu entgegnen, dass er wohl sich nicht im Klaren darüber sei, mit wem er sprach, und dass er sich einen solchen Tonfall verbat, doch die Titulierung als Peregrinus gereichte letztendlich dazu, ihn unsanft in die Realität zurück zu zerren. Peregrinus. Dieses Wort in Hinblick auf seine Existenz fühlte sich so falsch an in seinem Leib, in seinem Geist, in all seinem Wesen, und doch hatte er dem nichts, nicht das geringste Körnchen Selbstbewusstsein entgegen zu setzen.
    "Nun gut"
    , gestand er darob dem Veteranen zu und wandte ein wenig blasiert sich ab, sah er doch keine Möglichkeit, dieser Übermacht zu kontern. Allfällig war es ohnehin besser, seine Spurensuche aufzuschieben bis dass 'die Lage da draußen' - welcher Art diese auch immer mochte sein - sich hatte beruhigt, wiewohl er hoffte, dass nicht gerade dadurch alle Spuren würden verwischt werden.
    Mörder!,
    drang in diesem Augenblicke von der Straße her, dass Manius zusammen zuckte und hastigen Schrittes das Vestibulum verließ, denn augenscheinlich hatten andere bereits seine Spuren entdeckt, und obgleich er keinen Plan zu fassen wusste, was darob zu tun sei, so pressierte es ihm mit einem Male überaus, dem Wort der Veteranen zu folgen und sich so weit wie möglich in den hinteren Teil des Anwesens zurückzuziehen.