Ich räusperte mich und wartete, bis der Saal ganz still war.
Dann begann ich zu sprechen:
Verehrtes Auditorium, ich versuche heute eine kurze Einführung in die Materia Medica des Dioskurides zu geben und will euch nicht vorenthalten, warum!
Die Materia Medica, im grichischen Original „peri hyles iatrikes“, übersetzt „Medizinischer Stoff“, ist in unseren Tagen noch nicht zu dem ihr gebührenden Ruhm gekommen. Zwar ist sie bekannt, doch noch immer treiben sogenannte Medici ihr Unwesen, die sich auf nichts anderes berufen, als was ihr geringer Geist hervortreibt, oder aber auf alles, was Effekt und Eindruck auf die Unwissenden, Kranken und Gebrechlichen macht: namentlich die Polypharmazie ist es, deren ausschweifenden Mischungen mehr Krankheiten befördern als bekämpfen und damit die gesamte Wissenschaft in üblen Leumund stellen!
Der erste, der sich diesem großen Problem unserer Medizinischen Kultur widmet, ist Pedanios Dioskurides von Anazarbus mit seiner Materia Medica, die endlich auf die Stoffe selbst eingeht und Ordnung in die wichtigsten Dinge bringt, um der Scharlatanerie den Garaus zu machen.
- pars prima -
Zur Person des Dioskurides
Nicht viel ist bekannt, nur, was er selbst und mitteilt. Er stammt aus der Stadt Anazarbus im kleinasiatischen Kilikien. Er begeisterte sich schon früh für die Wissenschaften. Im Prologus seines Werkes spricht er von seiner Kriegerischen Laufbahn, die ihn hat viele Länder kennenlernen lassen - und man kann annehmen, dass er als Römischer Militär Medicus unter Claudius (41-54) und Nero (54-68 ) tätig war - Caius Iulis Seneca hat uns die Ränge geschildert, leider weiß man’s beim Dioskurides wirklich nicht... ja, manche behaupten, er sei gar der Leibarzt des Nero gewesen, aber wie gesagt, sicher ist das nicht! Wahrscheinlich studierte Dioskurides zu Tarsos und Alexandrien. Man nimmt an, dass es jetzt ein Vierteljahrhundert her ist, dass er das Werk niederschrieb. Wann er aber tatsächlich lebte - ob er möglicherweise noch unter uns weilt - das konnte ich leider nicht herausbekommen, weiß es Meister Apollonius vielleicht?
- pars secunda -
Zur Einzigartigkeit des Werkes und Weisheit des Dioskurides
Es meinen ja manche, in unserer heutigen Zeit sei der oberflächliche Dilettantimus am Zuge, und das gerade in unserem Fache der Medizin, der Heilmittellehre. Heute seien die Werke auf einen schnellen Erfolg aus und es gebe keine wirkliche Tüchtigkeit mehr. Ob das wohl so ganz richtig ist?
Eines ist sicher: Das des Dioskurides Werk überragt in allen seinen Teilen deutlich andere Machwerke, und möchte man meinen, sein Autor sei nicht von blinder Ruhmsucht getrieben, die dort wo sie nicht weiß sich aufs Behaupten verlegt! Denn Dioskurides zieht dann das Schweigen vor. Zuviel weiß er, als dass er sich in gelehrten Phantastereien ergehen müsste!
In Fünf großen Büchern sammelte Dioskurides die gesamte Arzneimittellehre
unserer Zeit, und beschreibt nicht nur die Kräuter, sondern auch andere Pflanzen und ihre Früchte, die tierischen Erzeugnisse und gar die Metalle. So umfasst er alles, was uns auf Erden medizinisch-therapeutisch nutzbringend umgibt. Alles wichtige und nützliche zu den Stoffen teilt er uns mit, ohne zu verhehlen, dass andere Autoren möglicherweise anderer Meinung sind. Häufig weist er aber den blanken Irrtum seiner Vorgänger nach. Dioskurides selbst gehört offenbar keiner Schule an und er bezieht sich nicht sehr häufig auf die Vier-Säfte-Theorie oder Pneumalehre - allerdings ist er natürlich vertraut mit beiden und läßt das manchemal auch deutlich werden.
- pars tertia -
Von der Darstellungsweise der Materia Medica
Das Werk beschreibt rund 1000 Stoffe und gar 4700 Anwendungen derselben - daraus wird ersichtlich, dass ein kurzer Vortrag sich nur im Allgemeinen bewegen und die ein oder andere Bosonderheit und Auszeichnung herausgreifen kann, wenn der Rahmen desselben nicht gesprengt werden soll. Zugeben will ich auch, dass es mir als Studenten noch erheblich an jenen Kentnissen ermangelt, die mich in den ehrwürdigen Stand eines Medicus von der Größe des Dioskurides versetzen könnten, um mit Leichtigkeit alles und jedes zu erklären...
Deciam Valeria hat schon einen guten Einblick in die Weise gegeben, mit
der Dioskurides Stoff, Herstellung und dessen mögliche Anwendung beschreibt - ergänzend möchte ich euch hier zunächst einen Überblick über
den Aufbau des ganzen Werkes geben: Wie schon gesagt, es sind fünf Bücher.
Das Erste beschreibt die Aromen, die Salben und Öle, die Bäume und deren Säfte und Früchte.
Das Zweite beschäftigt sich mit den tierischen Dingen, Milch, Fett, Seeigel, Wanzen, Purpurschnecke, auch Honig, Urin und Kot fallen darunter. Besonderen Wert legt er hier auf die Fette, Schmalz und Talg - und ich glaube er ist der Erste der die Produktion und Anwendung des so wichtigen Wollfettes so präzise beschreibt. Aber auch Pflanzen tauchen nochmals auf: Getreide, verschiedene Gemüse, die scharfen Pflanzen, wie Knoblauch, Senf, Ingwer und Pfeffer.
Das Dritte schildert die Wurzeln und wie man die sogenannten Säfte gewinnt: durch Pressungen und Mazerierung. Er kommt darüber hinaus auf die Kräuter und Samen zu sprechen und stellt sie in ihrer arzneilichen Wirkung dar; etwa Rhabarber und Cannabis.
Das vierte geht auf die restlichen Kräuter und Wurzeln ein, worunter auch die Schwämme und Pilze fallen. Er warnt vor dem Genuss der Brom- und Himbeere, dem Schlafmohn und dem Holunder, die Erstickung und Cholera (!) hervorrufen.
Das fünfte und letzte der Bücher erwähnt ausführlich die anorganischen Substanzen, Erze und Salze, wie Quecksilber, Grünspan, Blei, Kupferblüte, Eisenrost. Aber wichtig für uns alle ob Medicus oder nicht, sind seine Erläuterungen zum Weinstock und seiner Frucht, dem Wein, der die vielfätigsten Wirkungen - auch arzneilicher Art - hat.
Soviel zur Aufteilung der Bücher. Ich komme jetzt zur Weise der Darstellungen der Stoffe oder auch Präparate:
Zunächst wird der Name des Stoffes genannt, auch wie er in anderen Provinzen oder Reichen heißt, dann wo man ihn findet und welche Charakteristika er hat. Es schließt sich eine Beschreibung der gewöhnlichen und arzneilichen Wirkungen an und endlich schildert Dioskurides die Rezepturen und Herstellungswege des Präparates. Manchesmal folgen hierauf Hinweise auf die zu nutzenden Geräte zur Verarbeitung und Lagerung.
Er hält sich aber nicht sklavisch an diesen Ablauf, sondern folgt immer dem, was es zu sagen gilt und gibt dem, was er zu sagen weiß den Vorzug. Am Beispiel des Wollfettes schildert Dioskurides folgendermaßen:
Cap. 84. Wollfett.
Lanolinum, Adeps lanae
Oisypos nennt man das Fett aus schweissig-schmutziger Wolle. Du sollst es auf folgende Weise herstellen: Nimm weiche schmutzig-schweissige Wolle und wasche sie ohne Verwendung von Seifenkraut mit heissem Wasser, und presse sämmtlichen Schmutz aus. Diesen gib in ein weites Becken und
giesse Wasser dazu, schöpfe es mit einer Kelle zurück unter kräftigem durchrühren, bis es schäumt, oder rühre mit einem Holzspatel tüchtig, bis sich viel Schmutz und Schaum gesammelt hat, dann besprenge ihn mit Seewasser, und wenn das obenaufschwimmende Fett sich gestellt hat, so nimm es in ein anderes irdenes Gefüss auf, giesse Wasser in das Becken, rühre wiederum und besprenge mit Meerwasser den Schaum und nimm ihn heraus; und dieses thue, bis nach Entfernung des Fettes den Schaum mehr entsteht. Den nun gesammelten Oisypos knete mit den leiden und entferne, wenn er etwa Unreinigkeit enthalten sollte, diese sofort, indem
du das erste Wasser ausdrückst, anderes hinzugiessest und mit den Händen knetest, bis er an die Zunge gebracht nicht beisst, aber massig adstringirt, fett und rein und weiss erscheint. Sodann gib ihn zum Aufbewahren in einen irdenen Topf. Alles aber muss bei Sonnenhitze geschehen. Einige aber seihen das Fett durch und waschen es in kaltem Wasser, wobei sie es mit den Händen reiben wie die Frauen die Pormade, ein solches wird weisser. Noch Andere waschen die Wolle und pressen den Schmutz ab, kochen dann mit Wasser in einem Kessel über gelindem Feuer, nehmen das oenaufstehende Fett ab und waschen es mit Wasser, wie angegeben ist. Auch seihen sie es durch in ein flaches irdenes Geschirr, welches heisses Wasser enthält, verschliessen es ringsum mit einem Deckel aus losem Leinen und setzen es in die Sonne, bis es hinreichend consistent und weiss geworden ist. Einige nehmen nach zwei Tagen das erste Wasser weg und giessen anderes zu. Der bessere ist der ohne Seifenwurzel erhaltene, geschmeidige, welcher den Geruch nach schweissiger Wolle hat, mit kaltem Wasser in einer Muschel verrieben, weiss wird und in sich nichts Hartes oder Festes enthält, wie der mit Wachssalbe oder Talg verfälschte. Er hat die Kraft, zu erwärmen, Geschwüre auszufüllen und zu erweichen, besonders am After und an der Gebärmutter mit Steinklee und Butter. In Wolle (als Zäpfchen) eingeführt treibt er den Embryo aus und befördert die Menstruation; mit Gänsefett hilft er bei Geschwüren in den Ohren und an der Scham. Ferner wirkt er bei angefressenen und krätzigen Augenwinkeln, auch bei verhärteten und solchen Augenlidern, welche die Haare verlieren. Gebrannt wird er in einem neuen irdenen Gefässe, bis er zu Asche geworden ist und die Fettigkeit verloren hat. Es wird aber auch Russ daraus gesammelt, wie wir angegeben haben, welcher zu Augenmitteln sich eignet.
Man sieht, er ist ein wahrer Kenner nicht nur der Stoffe, sondern auch ihrer therapeutischen Anwendung und Herstellung. Zu letzterer ist aber unbedingt noch eines zu sagen, was Dioskurides selbst für so dringlich empfand, dass er es an den Anfang, in den Prologus seines Werkes aufnahm. Ich zitiere:
Vor Allem ist es nothwendig, mit Sorgfalt bedacht zu sein auf die Aufbewahrung und das Einsammeln eines jeden (Mittels) zu der ihm angepassten geeigneten Zeit. Denn davon hängt es ab, ob die Arzneien irksam sind oder ihre Kraft verlieren. Sie müssen nämlich bei heiterem immel gesammelt werden; denn es ist ein grosser Unterschied darin, ob die Einsammlung bei trockenem oder regnerischem Wetter geschieht, wie auch, ob die Gegenden gebirgig, hochgelegen, den Winden zugängig, kalt und dürr sind, denn die Heilkräfte dieser (Pflanzen) sind stärker. Die aus der Ebene, aus feuchten, schattigen und windlosen Gegenden sind zumeist kraftloser, um so mehr, wenn sie zur ungeeigneten Zeit eingesammelt oder aus Schlaffheit hingewelkt sind. Auch ist freilich nicht ausser Acht zu lassen, dass sie oft durch die gute Bodenbeschaffenheit und das Verhalten derJahreszeit früher oder später ihre volle Kraft haben. Einige liebe die Eigenthümlichkeit, dass sie im Winter Blüthen und Blätter treiben, andere blühen im Jahre zweimal. Wer hierin Erfahrung sammeln will, der muss dabei sein, wenn die neuen Sprossen aus der Erde kommen, wenn sie sich im vollen Wachsthum befinden und wenn sie verblühen. Denn weder kann er, welcher zufällig nur das Hervorspriessen beobachtet, die volle Kraft (der Pflanze) kennen lernen, noch der, welcher nur eine vollblühende Pflanze gesehen hat, diese beim Hervorspriessen erkennen. Daher verfallen wegen der Veränderungen an den Blättern, an der Grösse der Stengel, an den Blüthen und Früchten und wegen irgend anderer Eigenthümlichkeiten diejenigen über dieses und jenes in grossen Irrthum, welche nicht in solcher Weise Beobachtungen gemacht haben. Aus diesem Grunde wenigstens haben einige Schriftsteller sich täuschen lassen, wenn sie behaupten, einige (Pflanzen) brächten weder eine Blüthe, noch einen Stengel, noch eine Frucht hervor, wie beim Grase, beim Huflattich und Fünffingerkraut.
Ich denke, es ist deutlich geworden, dass erst das langjährige und ausgedehnte Studium der Stoffe, ihrer Herstellung zum Präparat und schließlich deren therapeutische Anwendung bei Krankheiten dem Medicus
Erfolg versprechen kann. Ich bitte euch also, nicht gleich zu Ziegenkütteln zu greifen, wenn ihr etwa die Menstruation befordern wollt - ihr müsst mehr darüber wissen und die Bergziegen, die die Küttel spenden besser kennen! Auch wann ihr die Küttel sammelt ist von großer Bedeutung, denn was die Ziegen fressen, hängt von den Jahreszeiten und dem Wetter ab!
Ich beschließe den Vortrag mit einem Tip für den Alltag:
Die Eigenschaft der Weine nach ihrem Alter.
Die alten Weine sind für die Nerven und die übrigen Sinneswerkzeuge schädlich, für den Geschmack aber angenehmer, deshalb von denjenigen, bei denen irgend ein innerer Theil leidet, zu vermeiden. Zum Gebrauch in gesunden Tagen dagegen wird er in kleinen Quantitäten und verdünnt ohne Schaden genommen. Der junge erzeugt Blähungen, ist schwer verdaulich, verursacht böse Träume und treibt den Harn; der mittleren Alters ist frei von beiden Fehlern, darum ist er zum Gebrauch in gesunden wie in kranken Tagen zu wählen.
...und für die Soldaten unter uns:
Das Leder von alten Schuhsohlen, gebrannt und fein gestossen, heilt als Umschlag Feuerbrandwunden, Wolf und die durch den Druck der Schuhe
bewirkte Entzündung, lehrt Dioskurides. Schließlich hilft auch der Gewürzte Wein wenn Ihr lange Märsche in Kälte und Frost Germaniens machen müsst - auch verschafft er eine gute und gesunde Hautfarbe!
Aber in Maßen, meine Herren Legionäre! Denkt immer auch an den Geldbeutel!"
"Fast hätte ich es vergessen", schob ich noch nach "Dioskurides, wie sich leicht denken läßt behandelt alle uns bekannten Krankheiten und leiden, sofern eine arzneiliche Linderung desselben möglich ist. Über 4700 Anwendungen, wie ich oben schon sagte. Um nun aber zu wissen, was man wann wie anwenden soll, zum Nutzen des Leidenden, muss der verantwortungsvolle Medicus natürlich den gesamten Dioskurides kennen!
An anderer Stelle möchte ich mich daher diesem Werke widmen, um es zu erleichtern, von dem Krankheitsbild, wie es sich dem Medicus bietet, auch zu einer angemessenen Medikation zu gelangen."
... das war es, zunächst jedenfalls, und es klebt mir die Zunge am Gaumen. Hätte ich nur nicht vom Würzwein gesprochen! Als Matinier unterlag man seiner Natur und bekam beim Gedanken an Wein stechenden Durst!
Ich sammelte die Schriftrollen zusammen und ging etwas angespannt, aber erleichtert an meinen Platz zurück. Was würde Apollonius sagen?
Quelle 1
Quelle 2
Quelle 3