| Lucius Petronius Crispus
Cicero - de Oratore. Lucius saß wie fast jeden Tag auf seinem Schemel vor dem kleinen Podest, von dem aus Eumenius seinen Unterricht hielt, den Kopf auf sein Faust aufgestützt, den Arm auf dem Knie ruhend. Dadurch knitterte zwar seine Toga, die Eumenius sie während der Lehrstunden tragen ließ - aber das war dem jungen Petronier egal. Er mochte weder das 'Staatskleid des Römers', noch das geschwollene Geschwätz, das Eumenius immer von sich gab:
"Das erste Buch wendet sich also insbesondere dem Lob der Beredsamkeit zu, wie wir es gestern bereits besprochen haben. Kann das noch einmal jemand zusammenfassen? Ja, Antonius?"
Der junge Mann, der seit diesem Jahr nicht mehr die Toga Praetexta eines Knaben, sondern eine reine, weiße Toga virilis trug (was Lucius immer etwas neidisch dreinblicken ließ), begann das alberne Gerede dieses fiktiven Crassus zu wiederholen, bei dem Lucius schon gestern rascher abgeschweift war, als wenn sein Vater zum hundertsten Mal seine Piratengeschichte erzählte. In Gedanken begann er stattdessen, sich die Frage zu stellen, wie sich wohl am leichtesten die Rechtwinkligkeit zwischen dem Deckenbalken der Basilica und dem Mauerwerk beweisen ließ. Natürlich konnte man einen Rechten Winkel konstruieren, indem man ein Lot errichtete, eine Holzkonstruktion baute und das Dreieck dann anlegte. Aber gab es vielleicht auch einen rechnerischen Weg?
"Rusticus, welche Voraussetzungen muss ein Rhetor wohl mitbringen, um einen Stoff gut vortragen zu können?"
wurde er plötzlich aus den mathematischen Gedanken gerissen. Verwirrt sah sich Lucius um sich - alle Augen waren auf ihn gerichtet, teilweise höhnisch wie Caius, teilweise überrascht, wie Iulius und teilweise sogar etwas mitleidig wie Antonius.
"Naja, also..."
Fieberhaft überlegte der junge Petronier - solche Dinge kamen quasi in allen Lehrbüchern zur Rhetorik vor und im Unterricht hatten sie schon mehr als genügend davon gelesen. Sein Vater hatte ihm letztes Jahr zu den Saturnalia sogar das Buch von Quintilianus geschenkt. Iulius war ein bisschen neidisch gewesen, aber leider hatte der jünger Crispus keinen einzigen Blick hineingeworfen. Rhetorik, Grammatik, Dialektik - diese Sprachwissenschaften interessierten ihn einfach nicht. Schon bei Xanthippus hatte er immer nur dann aufgepasst, wenn der griechische Meister voller Inbrunst über Dreiecke, Kreise und Zahlen gesprochen hatte! Logik war Lucius' Welt, die war klar, schön und berechenbar! Die Wortergüsse von Autoren und Lehrern dagegen erschienen ihm bis heute undurchsichtig und langweilig.
"Auswendiglernen! Ein gutes Gedächtnis vielleicht!"
kam es ihm plötzlich in den Sinn - eine Sache, die aus ihm niemals einen guten Redner werden lassen würde. Was offensichtlich auch Eumenius so sah, denn er kommentierte sofort höhnisch
"Da hast du wohl ausnahmsweise einmal etwas Wahres gesprochen! Was aber natürlich kein Wunder ist, denn daran fehlt es dir wohl am meisten von uns allen!"
Caius lachte auf, obwohl er selbst auch nicht gerade zu den großen Denkkapazitäten der Klasse gehörte. Da sein Vater aber einflussreich war, schonte der Magister ihn weitaus mehr als Crispus, den Sohn eines Veteranen, der heute ja kaum besser war als ein Krämer, selbst wenn er zu den Decuriones gehörte...
