Die Gedanken schweiften für einige Momente lang ab, glitten in eine Zeit zurück, in der sie noch sehr jung gewesen war und wie vor den Kopf geschlagen, als ihr Vater ihr eröffnete, dass er einen Mann für sie gefunden hatte. Titus war deutlich älter gewesen als sie, ein grober, harter Soldat, und sie hatte den ersten Abend gefürchtet, an dem sie mit ihm allein sein musste, ihn danach einfach nur verabscheut und seine Nähe geflüchtet, so oft sie es konnte - und dann hatte sich alles gewandelt. Aus der einstigen Angst wurden mit den Jahren Vertrauen, ja sogar Liebe, aus dieser Verbindung entsprangen sogar zwei Kinder. Wie würde es wohl sein, mit einem Mann zu leben, den sie schon vor der Vermählung zu schätzen wusste? Würde diese Sympathie eine ausreichende Basis für ein längerwieriges Glück bedeuten können oder würde sich dies wie bei vielen Paaren irgendwann zu einer Gewohnheit wandeln, die Gefühle ersetzte und eine andere Grundlage schuf? Sinnierend betrachtete sie den Tiberier und musste mit einem Mal leicht, fast melancholisch, lächeln.
"Es wird viel Gerede geben, das darfst Du nicht vergessen. Die Menschen sind, wie sie sind, und Verbindungen zwischen Patriziern und Plebejern sind stets ein sehr dankbares Thema. Mir wird man vorwerfen, ich würde diese Verbindung zum gesellschaftlichen Aufstieg nutzen und nur an Deinem Geld und Deinem Namen interessiert sein, und Dir, dass Du Dich hast von einer jüngeren Frau betören lassen," sagte sie schließlich und das Lächeln wurde ein wenig breiter, amüsierter. Sich das Geschwätz der Leute vorzustellen hatte eine amüsante Note, konnte sie es doch durch die Klatschspalte der Acta in gewisse Richtungen lenken, wenn sie dies wollte - und genau damit verlor es für sie die erschreckende Qualität, die es vielleicht für andere Menschen in ihrer Situation gehabt hatte. Sachte strich ihre Hand über seine Talle, berührte den Rücken und hielt ihn nun auch von ihr aus, während ihr Blick zu ihm hinauf glitt, den seinen berührte und in diesen eintauchte, nachdenklich und warm zugleich.
"Es soll zwischen uns bleiben, dieses Gespräch, und ich werde es niemandem gegenüber erwähnen, bis die Antwort meines Vaters eingetroffen ist," sagte sie recht bestimmt, um dann bekräftigend zu nicken. Ob sie ihm sagen sollte, dass Vinicius Lucianus einst dieselben Worte zu ihr gesprochen hatte, den Wunsch bekundet, sie an seiner Seite zu sehen? Ob sie ihm sagen sollte, welche quälenden Gefühle sie bewegten, wenn sie sich in der Nähe des Septemvirs Valerius Victor befand, dass sie bei weitem keine so tugendsame römische Frau in ihren Gedanken war, wie sie es hätte sein sollen? Aber dann legten sich seine Lippen auf die ihren und sie vergaß, was sie gedacht hatte oder hätte sagen können, der Augenblick schmolz zu dieser schlichten, simplen Berührung zusammen und sie schmiegte sich behutsam an seinen Körper, nun auch den anderen Arm um seine Tallie gelegt, um ihn so schnell nicht wieder loszulassen. Es war ein genussvoller, zärtlicher Kuss, und dieses Mal fiel es ihr nicht schwer, sich in diesen Kuss hinein zu geben, ihre kleine Welt von seiner Gegenwart ausfüllen zu lassen und schließlich, wieder mit geöffneten Augen, sein Gesicht zu betrachten, als müsse sie ihn jetzt erst ganz neu kennenlernen.