Priscas Worte reihten sich aneinenader wie Perlen auf einer Schnur. Sie erschienen mir alle gleichermaßen abgereundet und stumpf. Belesen, gebildet, interessiert, sympathisch und charmant war er also, und poetisch noch obendrein. Ich sah Prisca an, und in meinem Blick stand eine Mischung aus Resignation und Mitleid. Er hatte sie bezirzt, und sie war darauf hineingefallen! Das wollte nicht in meinen Kopf hineinpassen. Unter der Berücksichtigung der daraus resultierenden Konsequenz erst recht nicht. Denn was, wenn dieser Flavius tatsächlich interessiert war an Prisca? Selbstverständlich konnte - und würde - ich jeden erdenklichen Versuch in diese Richtung zu ihrem Besten abschmettern. Er sollte sie nicht bekommen - der nicht! Er würde sie nur unglücklich machen, sobald er sie hinter seine Fassade blicken ließ. Dessen war ich mir sicher. Bei Priscas letzten Bemerkung, das ach so gute Benehmen des Flavius Piso betreffend, schnaubte ich abfällig, sparte mir jedoch den Kommentar, dass er dies bereits zur Genüge bewiesen hatte, als er meine spärlich bekleidete Nichte an einem Ort geküsst hatte, zu dem ihm niemand eingeladen hatte - und damit dachte ich durchaus sowohl an den Garten als auch an ihre Lippen!
"Ein echter Flavier?" echote ich schlussendlich dennoch und sah Prisca unverständig an. "Er ist ein Flavier, mag sein. Aber er hat weder Manieren noch Anstand, Prisca!" Selbstverständlich erschien mir diese Argumentation im Moment logischer als die ihre. Für alles andere war ich nicht zugänglich, was mir freilich nicht bewusst war, und dennoch war es so. Bis Priscas Mund aufklappte und sie mich fassungslos anstarrte. Ich sah zurück, ohne mit der Wimper zu zucken. Und ich verschränkte die Arme vor der Brust, eine unbewusste Abwehrhaltung. Sie war tatsächlich fassungslos, ja, und sie schwankte ein wenig. Vielleicht hatte ich damit ins Schwarze getippt, aber eigentlich glaubte ich nicht daran. Ein ganz klein wenig tat mir leid, dass ich diese Vermutung geäußert hatte, aber zugeben würde ich das nicht. Nicht in diesem Moment. Stattdessen hob ich mein Kinn um eine Spur und sah Prisca direkt in die Augen, bis sie die ihren abwandte und sich ermattet auf eine steinerne Sitzbank sinken ließ. Mir schoss durch den Kopf, dass sie so früh am Morgen noch sehr kalt sein musste, aber ich schwieg und betrachete stattdessen Prisca, die nun wie ein Häufchen Elend auf ihrer Bank saß und von der Unschuldigkeit eines Kusses sprach.
Und ich war ratlos. Natürlich war es unsinnig, diese Vermutung geäußert zu haben. Das ging mir nun selbst auf. Natürlich fühlte sie sich damit nicht wohl. Vielleicht auch missverstanden. Doch sie musste doch meine Sorge sehen! Ich wollte für sie alles tun, sie vor jedem und allem beschützen. Allen voran vor solchen Schürzenjägern, wie der Flavius mir einer zu sein schien. Warum nur verstand sie das nicht? Ein gequälter Ausdruck trat auf mein Gesicht. Ich verharrte noch einen Moment, zwei, dann riss ich mich los und starrte in den Garten. Leichte Nebelschwaden hingen noch über den Beeten. Er hatte ihr ein Gedicht geschrieben. Mir wurde allmählich die volle Tragweite dieses Umstandes bewusst. Ein Gedicht! Und er hatte Prisca dieses Kleid geschenkt, oder was auch immer es gewesen war. Das hatte er mir damals selbst erzählt. Hatte ich nicht unmissverständlich klar gemacht, dass er die Finger von ihr lassen sollte? Und Prisca? Sie fiel direkt darauf herein. Der Flavius wollte sie mit ihr Schmücken wie mit einer Pfauenfeder. Ich knirschte mit den Zähnen.
Prisca saß immer noch auf ihrer Bank, das sah ich, als ich mich umwandte. Und ich gab mir einen Ruck und setzte mich daneben. Allerdings wusste ich nicht so recht, was ich sagen sollte. Vielleicht war eine Entschuldigung angebracht, doch die wollte mir nicht über die Lippen kommen. Stattdessen legte ich ihr sanft einen Arm um die Schultern und schwieg.