Das Weinen des Kleinen wurde zu einem Wimmern. Siv sagte nichts. Dennoch ließ der Klang ihrer Stimme einige Worte in meinem Gedächtnis wiederauferstehen. Ich konzentrierte mich voll und ganz auf Uland. Er war nervös, und wie konnte ich ihm das verdenken? Ganz gewiss hatte er mit etwas vollkommen anderem gerechnet an diesem Abend. Vermutlich mit allem, nur nicht mit einem Besuch von mir. Bis vor einer Weile hatte ich schließlich selbst nicht damit gerechnet. Offensichtlich hatten meine Worte ein schlechtes Gewissen ausgelöst, denn er beeilte sich, sich zu erklären. Ich hob kurz die Hand, machte eine flüchtige Bewegung und deutete ein Kopfschütteln an. "Keine Sorge. Ich weiß das, und ich bin nicht gekommen, um dir einen Vorwurf zu machen", versicherte ich ihm. Aber das beruhigende Lächeln meiner Worte schien sich partout nicht auf mein Gesicht projizieren zu lassen. Uland strich seinem Sohn durchs Haar. Bei dieser beiläufigen Geste wäre mein Blick um ein Haar abgeglitten zu Siv und dem Jungen auf ihrem Arm. Ich konnte das eben noch verhindern und nickte stattdessen. "Gern." Bona Dea, ich hatte keine Ahnung, worauf ich mich hier überhaupt einließ.
Uland griff nach einem prüfenden Blick schlichtweg an Siv vorbei und schloss die Tür. Der nächste Blick, den er ihr zuwarf, war besorgt. Er fragte sie leise, ob es ihr gut ging - vermutlich nahm er an, dass ich es entweder nicht hören oder es nicht beachten würde. Aber ich hörte die Frage sehr genau, und ich warf verstohlen einen Blick auf die drei, als Uland eine Antwort erwartete. Dann legte er kurz seine Hand an Sivs Oberarm, drückte kurz zu und widmete sich mir wieder. "Entschuldige", sagte er. Ich nickte nur. "Ferun! Der Senator Aurelius ist hier", sagte er laut, während er voran ging in den hinteren Teil der...übersichtlichen Behausung. Sie hatte mich ob dessen bereits gesehen und gab sich Mühe, Kleinigkeiten aufzuräumen, ohne dabei herumzulaufen. Wenn sie nur gewusst hätte, wie gleichgültig es mir war, ob die Schüsseln akkurat nebeneinander standen oder nicht, und ob sich ein Breiklecks neben dem Teller befand oder nicht. Dies hier mochte nicht meine Welt sein, vielleicht verstand ich sie nicht vollkommen, doch vermochte ich dennoch, mir vorzustellen, wie schwer es sein musste, hier zu leben. Dass Ulands Weib sich nun der Kleinigkeiten wegen verschämt gab, machte mich traurig. Ich hätte nicht herkommen sollen. Diese Erkenntnis schlug sich wieder einmal durch bis zu meinem Bewusstsein.
Inzwischen stand ich nahe beim Esstisch. Wie ich hergekommen war, wusste ich nicht - es waren mechanische Schritte gewesen. Weg von Siv. Ferun war aufgesprungen und deutete eine Verbeugung an, während Uland sich für die - kaum vorhandene - Unordnung entschuldigte, man hatte nicht mit meinem Besuch gerechnet. "Möchtest du etwas essen?" fragte sie mich, und ich wollte automatisch mit dem Kopf schütteln. "Ich..." Sie hatten wenig, es mochte kaum für fünf Personen reichen. Doch hätte sie das vermutlich vor den Kopf gestoßen. Ich räusperte mich. "Danke. Eine Kleinigkeit vielleicht", erwiderte ich also. Ferun stob davon, auf der Suche nach einer Schale. Auf dem Tisch stand ein kleiner Topf mit Suppe. "Setz dich doch", bot Uland an, wischte mit der Hand ein imaginäres Staubkorn vom Stuhl und deutete dann einladend darauf. Ich nickte dankend und ließ mich dann darauf nieder. Und ich bemerkte den Blick, den Ferun und Uland tauschten, und wie Uland anschließend vielsagend zu Siv hinübersah. Feruns Antwort bestand in einem Stirnrunzeln, als sie eine Schale füllte und vor mir platzierte. Ich überlegte fieberhaft, wie ich ein Gespräch in Gang bekommen konnte. Irgendwie musste es gehen.
Ich nahm den Löffel, tauchte ihn in die dünne Suppe und aß. Die Suppe schmeckte mehr nach Wasser denn nach etwas anderem. "Das schmeckt gut", lobte ich. Selbst auf mich machte es einen hölzernen Eindruck. Uland wirkte ratlos. Es war offensichtlich, dass ihm die ganze Angelegenheit seltsam anmutete. Ferun konnte dieses Gefühl besser überspielen. Sie reichte mir ein Stück Brot und setzte sich dann wieder neben das Mädchen, dem sie einen kleinen Stuhl gezimmert hatten, aus dem sie nicht herausfallen konnte. "Ich hoffe, deine Geschäfte laufen gut?" war es schließlich mein Klient, dem ein Thema einfiel. Ich war ihm dankbar dafür, legte den Löffel ab und begann damit, Brot in die Suppe zu krümeln. "Es ist viel Arbeit", erwiderte ich. "Aber ich habe einen guten Stab." Uland nickte. Dann breitete sich erneut Stille aus. Ich wandte langsam den Kopf, sah zu Siv und dem Kind. Es wurde zunehmend dunkler. Die einzige Lampe, die brannte, stand auf dem Esstisch. Sivs Züge waren mehr zu erahnen als zu sehen. Ihre Gestalt wirkte unförmig, weil sie den Jungen hielt. Ich stierte in die Suppenschale hinunter. Ferun tauschte nun ganz offen einen besorgten Blick mit Uland. Ich holte tief Luft, legte das Brot neben den Teller. Dann sah ich auf, blickte über den Tisch hinweg zu Uland, der mir gegenüber saß, und zu Ferun neben ihm. "Könntet ihr einen Moment auf..." Ein Stirnrunzeln verriet, dass ich kurz angestrengt nachdachte. Ich wusste nicht, ob mein Sohn einen Namen trug. Nicht einmal, ob er einen besaß. "...auf den...auf...ihn aufpassen?" fragte ich rundheraus und nickte flüchtig in Richtung von Siv und dem Knaben. Uland runzelte die Stirn und folgte meiner Geste mit dem Blick, dann vertiefte sich sein Stirnrunzeln, doch als er wieder zu mir sah, nickte er. Ferun war es, die antwortete. "Natürlich." Sie klang taktvoll. Blut rauschte in meinen Ohren. Die Suppe hatte ich kaum angerührt, als ich nickte. Ich musste allein mit Siv sprechen. Die Örtlichkeiten würden es wohl kaum hergeben, tatsächlich allein zu sein. Und Uland mit seiner Familie aus ihrer Wohnung zu verbannen, nur weil ich keine weiteren Ohren dabeihaben wollte, kam nicht infrage. Doch daran dachte ich kaum. Ich fragte mich, warum ich dieses Gespräch wollte. Ich hätte umgehend nach Hause gehen sollen.