In ihren Augen stand der Abgrund so offensichtlich, dass ich bis ins tiefste Innere erschrak - denn sie spiegelte mich, spiegelte einen Menschen, der nicht von Verboten gehemmt war, der sich nicht selbst einschränkte, um das Düstere in sich selbst zu verstecken, der ungehemmt alles aus sich herausließ, was ihn bewegte, ärgerte ... sie liebte hemmungslos und leidenschaftlich, ich hatte es am eigenen Leib erfahren, wie fordernd und zugleich hoffend sie sein konnte. Ein kleiner Teil von mir sah in ihr auch die Art Mensch, die ich hätte werden können, hätte ich nur einige wenige Schritte anders vorgenommen, als ich sie getan hatte. Ein kleiner Teil von mir entdeckte in ihr etwas zutiefst vertrautes und zugleich zutiefst erschreckendes. Dunkel spiegelte sich ihr Hass in ihren Augen, ihre Verzweiflung, ihre Wut, aber auch die Hilflosigkeit, vor ein Problem gestellt zu sein, das sie nicht lösen konnte, deswegen dieser Ausbruch, das zerstörte Zimmer. Ich sah nicht allein ihr cubiculum in diesem Augenblick. Ich sah auch das meinige, welches ich vollkommen verwüstet hatte, vor einigen langen Jahren. Vor der Zeit des Vergessens, vor alledem, was sich ereignet und mich geformt hatte wie nichts sonst. Ich sah einen Menschen, der sich nicht anders zu helfen wusste, als zu zerstören, aus einer bitteren Einsamkeit heraus, die nicht zu lindern war.
Sie liebt jemanden. Abgrundtief. Und es ist eine verbotene Liebe. Es musste so sein, denn nichts bewegte die Menschen so sehr wie die Liebe, nichts brachte sie so sehr an ihre eigenen Abgründe, ließ sie eigene Grenzen überschreiten.
Ich hielt sie, und es dauerte lange, bis ich ein Wort fand, das ich hätte sprechen können. Wir sind uns so ähnlich, Callista. Du bist nur einen Schritt weiter gegangen als ich. Mich hat jemand gerettet. Er hat mich gerettet. Will dich denn niemand zurückhalten?
"Warum will man Dich wegschicken? Ist es Dein Vater? Was geschieht, Callista mea? Ist etwas ... wegen ...?" War sie etwa schwanger und ihr Vater hatte davon erfahren? Dass er noch lebte, wusste ich, er war einer meiner Salier. Sie stand ganz sicher unter seiner patria potestas. Vielleicht hatte er auch eine neue Ehe arrangiert, die sie nicht haben wollte ... dann glitt sie aus meinen Armen, der Schlange zu, und wieder war ich nur ohnmächtiger Zuschauer. Wie sicher sie mit diesem Tier umging, sie wusste zweifellos, was sie tat, das verriet der sichere Griff unter den Kopf der Schlange. Sie hatte keinen Moment gezögert, das giftige Tier zu berühren, sie hatte keine Angst. Es musste ihre Schlange sein, und dass ein Sklave tot auf dem Boden lag, war dann auch ihr Werk. Schlangen krochen nicht einfach so durch zerstörte Räume. Sie hassten Erschütterungen und verkrochen sich dann, wenn die Erde bebte, auch das hatte ich vor langer Zeit gelernt. Oft genug hatte ich meine Mutter wegen ihrer übertriebenen Sorge verlacht, aber jetzt ... jetzt war dieses Wissen aus den Tiefen meines Gedächtnisses unerwartet hilfreich.
Ich blickte mich nach dem Schlangenkorb um und entdeckte ihn auch, hob ihn vom Boden auf, samt dem geflochtenen Deckel und trat an ihre Seite, hielt ihr jenen auffordernd und geöffnet hin. "Ich denke, es ist besser, Du legst sie jetzt weg, bevor ein weiterer Sklave unnütz stirbt. Und dann erklärst Du mir, warum es hier so aussieht und was eigentlich passiert ist." Den Blick wandte ich zu jenen, die noch immer mit Schmuck und anderen Besitztümern der Callista im Raum herumstanden, jetzt vage entspannter, da die Schlange keine Gefahr mehr schien - aber noch immer argwöhnisch, denn die eigentliche Schlange würde für sie immer gefährlich bleiben.
"Steht nicht herum wie die Ölgötzen! Bringt den da weg, es sieht hier aus wie auf dem Schlachtfeld!" herrschte ich die Sklaven an und deutete auf den Toten. Es war zwecklos, daran einen weiteren Gedanken zu verlieren, sie würde den Verlust seinem Besitzer erklären müssen, nicht ich ... mir war es wichtiger, zu wissen, ob ich mich getäuscht hatte. Ob sie war, was ich in ihr zu sehen glaubte. Ich hatte nicht einmal Angst. Vor einem Spiegelbild meiner Selbst hatte ich schon lange keine Furcht mehr, auch nicht vor einem dunklen Spiegelbild. Diese Zeit war lange vorbei.