Es kam Epicharis nicht in den Sinn, dass Gracchus ihr Verhalten missdeuten könnte. Und dennoch: Hatte sie sich nicht in etwas hineingesteigert? War es nicht vielmehr so, dass sie wegen der politischen Beziehungen einen Flavier hatte heirten dürfen, ja gar sollen? War es nicht nur Höflichkeit gewesen, die ihn dazu getrieben hatte, derart freundlich und zärtlich zu ihr zu sein? Hatte er nicht nur versucht, damit die Anfeindungen von Teilen seiner Familie zu kompensieren? Epicharis schniefte herzerweichend. Nein, das konnte sie nicht glauben, sie hatte doch seine Augen gesehen...oder war alles nur eingebildeter Lug und Trug?
Die Acta fiel zu Boden, verursachte ein leises schmirgelndes Geräusch, überdeckt vom Rascheln der Kleidung des Flaviers. Unwillkürlich und gequält seufzte sie auf, als seine Arme sie umfingen, und dankbar bettete sie ihren Kopf an der Brust, hob die Hände und suchte sich einen unverfänglichen Platz an Gracchus' Kleidung. Mit geschlossenen Augen weinte sie vor sich hin, erzitterte unter Schluchzern und wunderte sich in schier kindlicher Manier darüber, dass die tröstliche Umarmung eines eigentlich fremden Mannes so gut tun und beruhigen konnte.
Epicharis' Geist indes schwankte zwischen der vermeintlichen Selbstlüge der alleinigen Höflichkeit seinerseits ihr gegenüber, die einfacher zu ertragen gewesen wäre als die gegenwärtige Situation, und der Erkenntnis, dass mit Aristides auch seine Gefühle gestorben waren, die nicht trügerisch, sondern ernst und ehrenhaft waren. Aber wollte sie sich selbst belügen? Diese Fragen waren müßig, denn sie konnte ohnehin nicht logisch feststellen, was nun seinerseits der Fall gewesen war - der Fall war! Aristides musste noch leben, er musste einfach... Und mit diesem Gedankengang hatte die junge Claudierin sich dafür entschieden, vermeintlich Feststehendes nicht einfach hinzunehmen, sondern gleichsam nachzuforschen und all ihre Energie für die Wahrheitsfindung aufzubieten. Dennoch versiegten die Tränen nicht, wenngleich auch die Schluchzer allmählich verebbten uns sie sich nur noch still weinend an die Schulter Gracchus' schmiegte.
Seine Worte beseitigten vorerst die Schürhaken der Angst und der Pein, sodass deren Glut abnehmend vor sich hin glomm, wenngleich sie auch so schnell nicht zur Ruhe kommen würde. Der Duft Gracchus' füllte nun alleinig ihr Denken aus, sie nahm die Beschaffenheit seiner Kleidung wahr, horchte seinem Atem und wurde immer noch ruhiger, bis die letzte Träne schließlich gerollt war. Epicharis war sich der seltsamen Situation durchaus bewusst - was mochte Antonia sagen, wenn sie ihren Gatten und ihre Verwandte so innig beieinanderstehen sah? Unvermittelt herzte Epicharis Gracchus, ehe sie sich sanft von ihm löste, lieb zu ihm aufsah und mit vollem Ernst und verweinten Augen sagte: "Nicht viele beweisen Größe im Angesicht solcher Gräuel. Wir kennen uns nicht, aber ich werde stets für dich da sein, so wie du für mich da warst." Stumm musterte sie die Gesichtszüge des Flaviers und konnte mit einem Mal gar nicht mehr verstehen, warum Antonia solche Aversionen ihm gegenüber hegte. "Wir müssen etwas unternehmen", fuhr sie dann noch leicht zittrig fort, legte einen Zeigefinger an die Lippen, wandte sich nach rechts und ging drei Schritte in die eine Richtung, ehe sie umkehrte und wieder zu Gracchus ging. Untätigkeit führte in diesem Fall um jeden Preis zum Verdruss, also würde sie die Sache anders anpacken müssen, wollte sie nicht vor Gram vergehen. "Wir müssen Nachforschungen anstellen. Ich kenne den Praefectus Castrorum. Wenn jemand etwas weiß, dann wird er es sein. Ich werde ihm gleich schreiben."