Beiträge von Nikolaos Kerykes

    Nikolaos, der immer noch den Kopf ein wenig gesenkt hielt und von unten zum Satrapen aufblickte, war nicht entgangen, dass jener bleich geworden war. Hermes schien sein Flehen erhört zu haben: Kein Wutausbruch von seiten des Eparchos, kein Hinauswurf und nichts noch Schlimmeres.


    Nun bat er still die Götter, sie mochten Cleonymus' vorlautes Mundwerk daran hindern, etwas von sich zu geben. Natürlich stritt der Satrap vehement ab, was Nikolaos behauptet hatte. Natürlich stimmte er diesen - zweifelsohne sehr heftigen- Vorwürfen gegen einen seiner Offiziere nicht in Gegenwart der Prytanen zu. Das hatte Nikolaos nicht einmal gehofft.


    Aber Corvus schien dem Gymnasiarchos zugehört zu haben, und er schien über die Vorwürfe gegen den Legionspräfekten nachgedacht zu haben. Das genügte Nikolaos.


    Er hoffte, es würde kein verspäteter Wutausbruch folgen. Und er hoffte, der Statthalter würde dem Legionspräfekten nicht auf die Nase binden, dass der Gymnasiarchos ihn derart beschuldigt hatte. Nikolaos traute inzwischen Terentius Cyprianus alles zu. Er wusste, dass er seines Lebens nicht mehr sicher (beziehungsweise noch viel unsicherer als ohnehin bereits) wäre, erführe der Legionspräfekt davon. Eine gut bewaffnete Räuberbande könnte den Gymnasiarchos mitten in der Stadt überfallen, umbringen und anschließend ungehindert verschwinden... Des nachts könnten Soldaten mit dem Vorwand der Hausdurchsuchung zu ihm kommen und-


    Ihm schauderte. Er hoffte darauf, dass der Eparchos einmal häufiger seine Klugheit unter Beweis stellen würde.


    "Ehrenwerter Eparchos", sagte er leise. "Es tut mir sehr leid, dich in Aufregung gebracht zu haben. Ich wollte dir allerdings nichts verschweigen, was ich für wichtig hielt..."


    Er senkte wieder den Kopf und hoffte, der Satrap würde die Prytanen gehen lassen. Nikolaos wurde es allmählich ungemütlich. Ihm schien es, als sei der Satrap durchaus aufgewühlt. Vielleicht würde das später dazu führen, dass er die Stadt vor den Umtrieben des Legionspräfekten schützte. Nun aber hielt es der Gymnasiarchos für besser, den Satrapen allein zu lassen - vielleicht, wenn die Prytanen Glück hätten, in seinen Gedanken. Die Statue für den Statthalter müsste auf jeden Fall besonders groß und prachtvoll sein...

    Nikolaos lächelte. Bildete er da gerade einen Teufelsadvokat aus ;) ?


    "Es geht darum, den für den Angeklagten günstigsten Ausgang des Verfahrens zu erreichen, der möglich ist. Gewiss ist eine Rettung vor jeglicher Strafe in diesem Fall sehr unwahrscheinlich."


    Er sah den Schüler freundlich an, dabei aber vielleicht ein wenig spöttisch.


    "Wir müssen eine Argumentation aufbauen, deren Ziel es ist, der Angeklagte sei ein guter Mensch und habe nicht böswillig gehandelt undsoweiter. Du hast viele Stellen gefunden, an denen wir ansetzen können.


    Bevor wir dazu kommen, uns Mitteln zu widmen, die der Rede Würze und gleichermaßen Schlagkraft geben, bevor wir also zu dem kommen, wie wir durch die Sprache die Wahrheit in ein für uns günstiges Licht setzen, müssen wir uns zunächst eine Wahrheit zusammenstellen, also uns den Inhalt der Verteidigungsrede ausdenken.


    Eine Argumentation ist im Grunde eine gelenkte Erkenntnisfindung. Wir wollen, dass die Zuhörer uns blind auf dem Pfad der Erkenntnisgewinnung folgen, denen wir ihnen zurechtlegen.


    Bei der Erkenntnisfindung gibt es zwei Hauptwege:


    Der eine geht von einer allgemeinen Annahme aus. Bei uns wäre dies die Annahme: Der Angeklagte ist gut und hat aus guten Motiven so (leider auf schlechte Weise) gehandelt. Diese allgemeine Annahme wird im Besonderen bewiesen - oder aber widerlegt, wenn sie sich widerlegen läßt. So könnten wir anführen, dass der Angeklagte sich nie zuvor etwas hat zu schulden kommen lassen. Auf der anderen Seite kann man die Annahme widerlegen, indem man ausführt, dass der Angeklagte, nachdem man ihm auf die Schliche gekommen war, nicht aufgehört hat mit Verbrechen, sondern noch mehr verbrochen hat, um das Verbrechen zu vertuschen. Dieser Weg nennt sich Deduktion.


    Der andere Weg geht von besonderen Beispielen zu einem allgemeinen Schluss daraus über, also in die umgekehrte Richtung. Es steht am Anfang keine Grundannahme, die bewiesen oder widerlegt werden kann, sondern ein Beispiel, auf das man weitere folgen lassen kann. Dies nennt man in meiner Sprache Epagoge, in eurer Induktion.



    Die Erkenntnisfindung in unserer Verteidigungsrede ist aber keine echte Erkenntnisfindung. Wir gehen von einer Grundannahme aus, aber weichen nicht von ihr ab, vermeiden es also, sie zu widerlegen.


    Wir könnten also für unsere Annahme Beispiele suchen.


    Ich aber möchte, dass du eine vorgespielte, also eine Pseudo-Epagoge daraus machst.


    Dazu stellst du Fragen, und beantwortest sie jedes Mal in dem für den Anklagten günstigsten Fall. Dabei darfst du aber nur solche Fragen stellen, die nicht schon eindeutig mit für den Angeklagten ungünstigen Sachverhalten beantwortet sind.


    Lasse auf jede Antwort eine weitere Frage folgen, die den Inhalt der Antwort zum Gegenstand hat.


    Zum Beispiel: Warum hat der Angeklagte Geld veruntreut? - Um seiner Tochter die Mitgift zu bezahlen. -Warum aber konnte er sie nicht so bezahlen? - Weil er sein Vermögen häufig zum Wohl der Stadt eingesetzt hat (finde hierfür Beispiele! Erwähne dabei alles, was sich finden läßt, lasse es aber so klingen, als seien es nur wenige von noch viel mehr Beispielen für Wohltaten des Angeklagten!).


    So, nun führe die Reihe fort, oder aber beginne eine eigene, neue.


    Du treibst dieses Spiel solange, bis du zu dem Schluss kommst, den wir eigentlich vorher voraussetzten."

    Mit einem wohlwollenden Nicken nahm Nikolaos den Beitrag des Mädchens zur Kenntnis.


    "Mir scheint, ihr wisst von den Pflichten eines Bürgers.


    Dass ihr ein Pflichtgefühl habt, werdet ihr beweisen können, wenn ihr als Epheben der Polis durch eure Arbeit dient, und wenn ihr später Ämter übernehmt.


    Eine wichtige Pflicht des Bürgers hat noch niemand genannt: Ein jeder von uns-"


    Er blickte sich in der Runde um.


    "-muss seine Polis, also für uns die Polis Alexandreia, verteidigen. Nun da die römischen Armeen des göttlichen Basileus uns beschützen, sieht diese Verteidigung freilich anders aus.


    Wir müssen uns nicht selbst gegen Räuber aus der Wüste und Barbarenvölker verteidigen. Wohl aber müssen wir die Ordnung unseres Staatswesens schützen gegen solche, die diese Ordnung umstürzen wollen."

    Peisistratos, der alte Chef-Sklave:


    "Zenobia!"


    "Zenobia... wo steckt sie denn?"


    Der alte Chefsklave war sichtlich aufgeregt. Zwar erwartete der Herr zum Abendessen an diesem Tag in der zwölften Stunde* nur einen einzigen Gast, aber nichtsdestotrotz hatte Nikolaos exzentrische Wünsche bezüglich des Essens.


    Ein dutzend Lohndiener wuselte in der kleinen Küche und zwischen Küche und den Vorratsräumen herum. Peisistratos hatte der neuen Sklavin nach dem Gespräch Zeit gegeben, sich in ihrer Kammer (die sie mit niemandem teilen musste, da Peisistratos im Zimmer des Hausherren und die beiden anderen Sklaven in einem anderem Sklavenquartier schliefen) einzuleben. Nun aber brauchte Peisistratos die Neue. Er musste eine dringende Besorgung erledigen, wollte aber die Lohndiener nicht allein lassen.


    "Habe ich dir gesagt, du sollst die Hühner verkohlen lassen? Habe ich dir das gesagt, Maharbal?", keuchte Peisistratos. Deutlich war zu erkennen, dass er durchaus gerne Ohrfeigen verteilt hätte, dafür aber zu träge oder zu sanftmütig war.


    "Ihr seid schlimmer als die Skythen! Wollt ihr - nein, bitte, schütte die Soße nicht auf den Fußboden, Esel! - wollt ihr das Haus abfackeln? - Hilfe!"

    Der Torsklave öffnete dem jungen Mann sogleich. Er war ihm noch von dessen letzten Besuch bekannt. Der breitschultrige Nubier brachte den blonden Römer in den Speiseraum. Dort wartete der Hausherr auf einer Kline liegend.


    "Sei gegrüßt, werter Marcus Duccius. Nimm Platz. Es freut mich, dass du gekommen bist."


    Nikolaos Verhalten war, was selten bei ihm war, nicht nur gespielt zwanglos. Der Gast gehörte zu den wenigen Leuten, die er mit echtem Vergnügen empfing. Schließlich schuldete der Hausherr dem Gast weder Geld noch einen Gefallen, brauchte auch dessen Stimme (und die seiner Anhänger) in der Volksversammlung nicht und trieb mit ihm keine Geschäfte.


    "Ich hoffe, dein Tag war ein guter? Leider wird es langsam heiß, da fällt es einem schwer, seine Zeit gut zu nutzen und den Tag nicht nur zu verschlafen."

    Peisistratos, der alte Chef-Sklave:


    Die Miene des Peisistratos entspannte sich. Die neue Sklavin hatte ihm ihr Versprechen gegeben. Dass sie es halten würde, schien ihm klar. Zwar wurde er aus der jungen Frau nicht ganz schlau (und ihre seltsame Bemerkung bezüglich ihrer weiteren Lebensgeschichte gab ihm weitere Rätsel auf), aber er glaubte (ganz im Gegensatz zu seinem Herren) daran, dass die Menschen im Grunde gut waren. Vielleicht war der ältere Sklave ein wenig naiv. Vielleicht lag aber in dieser vermeintlichen Naivität eine ihm eigene Klugheit.


    "Du kannst dich mit Pflanzen aus und mit ihren Wirkungen? Dann kannst du sicher auch Theriak zubereiten. Und andere Heilmittel. Wie du eben erfahren hast, leidet der Herr oft an Beschwerden. Ein anderes Mittel gegen Kopfschmerzen würde ihm sicher sehr gut tun - dann ließe er vielleicht das Opium eine Weile unangerührt."


    Peisistratos hatte die Lebensgeschichte der Sklavin, und dass sie unter Umständen, die sie offenbar nicht erzählen wollte, schon einmal in Alexandreia war, auf sich beruhen.


    "Allerdings möchte ich, dass du alles, was du zubereitest, in den ersten Tagen selbst kostest.", fügte er ernst hinzu, loste die Ernstheit aber sogleich mit einem Lächeln auf.


    "Es ist nicht so, dass ich dir misstraue. Nur hatte ich als Verwalter dieses Hauswesens schon mit Menschen zu tun, die sich rasch als gefährlich entpuppten. Ich hoffe, dich kränkt dieses meine allgemeine Misstrauen nicht."


    Er sah das Mädchen lange an. Dann machte er sich auf, ihr das Haus zu zeigen. Da sie gerade im Küchenhof standen, begann er mit der Küche, einigen Vorratsräumen und den Sklavenquartieren. Diese waren nur mit dem Allernötigsten eingerichtet, aber sauber.


    "Der Herr besitzt außer diesem Wohnhaus noch eines auf seinem Landgut. Aber in letzter Zeit ließen ihm gewisse Angelgenheiten der Polis keine Ruhe und keine Zeit, sodass wir schon lange nicht mehr hinausgefahren sind.", sagte Peisistratos, als sie in der Küche standen.


    "Ähm... wie man Feuer macht, hast du gelernt?"


    Er wusste schließlich nicht, welchen Tätigkeiten Zenobia zuvor nachgegangen war.


    "Ach ja, das Gelass, das vom Hof mit einem Vorhang verschlossen ist, enthält die Latrinen.", sagte er eilig.


    "Ich glaube, es ist wichtig, dass du das weißt."


    Er hatte das ganz trockener Stimme und ohne Grinsen gesagt, aber seine alten (und ein wenig kurzsichtigen) Augen funkelten schelmisch.

    Nikolaos schwindelte. In seinen Ohren rauschte es. Jetzt gab es keine Möglichkeit mehr, halt zu machen oder umzukehren. Er räusperte sich.


    "Hochverehrter Eparchos", begann er.
    "Uns ist sehr viel an der Freundschaft zum römischen Volk gelegen, wir versuchen daher, diese mit allen Mitteln gegen alle Widerstände in der Polis zu verteidigen. Ich denke, ich kann offen zu dir sein: Wir wissen auch genau, dass ohne euren Schutz Alexandria im Chaos versänke und dass der ägyptische Pöbel nicht lange zögern würde, uns Hellenen zu zerfleischen, dass auch andere Völker von außen, die Räuber der Wüste, und viele Barbaren mehr über uns herfielen.


    Falls irgendjemand in deiner Gegenwart uns, also den hellenischen und makedonischen Einwohnern Alexandrias, unterstellt, wir würden am liebsten unser Staatswesen ohne den Schutz des göttlichen Basileus führen, so irrt oder lügt er. Nur Narren, die eigentlich ihres Bürgerrechtes nicht würdig sind, können derartiges wollen. Zumal unter unseren höchsten Würdenträgerin eine hochangesehene römische Bürgerin ist. Diese ist von der Mehrheit der Bürger in ihr Amt gewählt worden, folglich kann die Mehrheit der Bürger der Polis gar nicht dagegen sein, dass der göttliche Basileus Alexandria beschützt und beherrscht.


    Ich habe nun aber den Verdacht, dass es Kreise gibt, die versuchen, jene Narren unter den Bürgern (jene Narren, die sich Bürger schimpfen) weiter gegen die römische Schutzmacht aufzubringen. Lange wähnte ich die Schuldigen unter den Räubern von Rhakotis oder unter einigen Bürgern der Polis.


    Die Stimmen dieser wenigen, aber umso frecheren Narren wurden in letzter Zeit immer lauter.


    Dies lag nicht zuletzt daran, dass Teile der Legion des göttlichen Basileus gewisse Dinge taten, über die wir lange gesprochen haben, weshalb ich sie nicht weiter ausführen möchte.


    Ich dachte lange, diese Taten wären arglos geschehen und ungeschickter Weise.


    Als ich zu dir kam, von jenen Taten zu berichten, nötigte mich der hochverehrte Magister Officiorum, ihm zuvor den Kern meines Anliegens zu schildern anderenfalls er mich nicht zu dir gelassen hätte.


    Der Legionspräfekt Appius Terentius Cyprianus erfuhr von meinem, diesem Gang. Ich weiß nicht, ob du mit ihm darüber gesprochen hast. Falls doch, so weiß ich nicht, ob er danach diesen Brief an uns Prytanen richtete - oder zuvor.


    Im Anschluss an jenen Vorfall folgte das Manöver im Delta-Viertel. Ich bin wahrlich nicht allzu bewandert in militärischen Fragen, habe mein ganzes Wissen darüber in meiner Amtszeit als Strategos erworben, aber es ist mir schleierhaft, welchen Zweck diese Übung haben sollte. Gewöhnlicherweise pflegen Schlachten auf dem Feld ausgetragen zu werden - und nicht in Städten. Und einer Belagerung würde Alexandria, soweit ich darüber ein Urteil abgeben darf, ohnehin nicht standhalten, denn die Mauern umgeben die Stadt nicht vollständig.


    Den Narren unter den Politen, von denen ich sprach, war es jedenfalls sprichwörtliches Wasser auf den Mühlen. Auch das einfache Volk, Nichtbürger aus aller Herren Länder, wurde weiter aufgebracht.


    Hochverehrter Eparchos, als du noch das Kommando über die in Nikopolis stationierten Legionen inne hattest, gab es zwar eine Bande von Aufständischen und Räubern, die die Legion zusammen mit der Stadtwache rasch zur Strecke brachte, und den Mord am Vorsteher des Mouseions, der damit zusammenhing, und der auch rasch aufgeklärt werden konnte. Aber bis du das Kommando abgegeben hast, blieb es bei einzelnen Banden von Aufrührern. Die Gesamtheit des einfachen Volkes blieb - wenigstens einigermaßen- ruhig. Die tapferen Soldaten der Legion taten alles, das einfache Volk nicht zu sehr zu belasten, ohne freilich ihre Aufgaben zu vernachlässigen.


    Seit du das Kommando nicht mehr inne hast, stehen die Dinge anders: Es kommt zu Übergriffen von Soldaten auf Unschuldige, es kommt zu höchst zweifelhaften Aktionen.


    Lange hielt ich Unwissenheit einzelner Soldaten für den Grund, dann glaubte ich, es handle sich um Unwissenheit der hohen Offiziere und des ehrenwerten Legionspräfekten, dann glaubte ich, es handle sich um Dummheit.


    Aber es kann doch nicht ein Mann, der derart dumm ist, dass ihm versehens solche Dinge unterlaufen, zum Legionspräfekten des Heeres des göttlichen Basileus werden!


    Nun versucht jemand möglicherweise, mit diesen Gerüchten über Spitzel, über deren Wahrheitsgehalt ich nichts weiß, auf die ich aber, sowie es mir erlaubt ist, es auszusprechen, nicht viel gebe, einen Keil zwischen dich und uns zu treiben, die wir zuvor gemeinsam mit dir versuchten -natürlich jeder auf seine Weise und nach seinen Möglichkeiten- das alexandrinische Volk zu beruhigen, Aufstände zu verhindern und die Ordnung zu sichern.


    So kommt mir der schreckliche Verdacht: Es steckt keine Dummheit dahinter, sondern ein Plan:


    Wenn in der Provinz und in der Polis das Chaos ausbräche, so gehörten wir, diese Männer, diese ehrenwerte Römerin und ich, zu den ersten, die darunter litten und in Schwierigkeiten gerieten. Das steht außer Frage. Zuerst ist es eine Sache der Hellenen und Makedonier Alexandrias, und einiger römischer Bürger, die hohe Ämter in der Polis haben.


    Aber wer litte als zweites? Die Getreideversorgung Roms geriete in Schwierigkeiten. Natürlich kann die römische Legion Aufstände niederschlagen, soviel es ihren Führern beliebt. Aber wer soll das Getreide ernten? Und wo sollte Handel getrieben werden, wenn Alexandria in Schutt und Asche läge?


    Und wer würde für diese Mißstände in Rom verantwortlich gemacht werden?


    -Du. Dir würde unterstellt, deine Provinz versänke Schutt und Asche.


    Es scheint Männer zu geben, die dies wollen.


    Sollten es etwa wir Alexandriner wollen? Weshalb!?! Du hast dich als überaus großzügig und gütig erwiesen, hast Geschick bewiesen im Umgang mit dem einfachen Volk, hast uns Hellenen und Makedonen geholfen!


    Wer also sonst sollte es wollen?


    Das weiß ich nicht.


    Ich glaube aber, es gibt in der Provinz und vor allem in der Legion in hohen Ämtern Männer, die, wenn sie denn nicht selbst dahinter stecken, jenen wenigstens helfen, vermutlich um ihres eigenen Vorteils willen.


    Um es gänzlich auszusprechen: Ich vermute, Appius Terentius Cyprianus ist, wenn er nicht Kopf ist, so zumindest ein Teil einer möglichen Verschwörung.


    Ich weiß, ehrenwerter Eparchos, dass es mir eigentlich nicht zusteht, dir Ratschläge zu geben. Aber da dein Unglück auch unser Unglück wäre, bitte ich: Entsinne dich derer, die neben dir als Kandidaten für das Amt des Praefectus Aegypti in Erwogung gezogen worden sind! Prüfe, wer ihre Klienten sind und wer deren Klienten! Und prüfe jene, die dich umgeben: Prüfe, wem dein Magister Officiorum zuarbeitet außer dir! Prüfe, ob dein Klient* Quintus Fabius Vibulanus dir die Treue wirklich hält, die er dir versprach! Er nämlich war es, der jenen Vorfall provozierte... . Und prüfe, was in Nikopolis geschieht! Prüfe, welche Absichten Appius Terentius Cyprianus hat! Prüfe, wer seine Freunde in Rom sind!


    Ich hoffe, meine Worte lenken nicht deinen Zorn auf mich.


    Du hast gewiss die Macht, nun mit mir zu tun, was dir beliebt.


    Du hast auch die Macht, kurzen Prozess auch mit uns Hellenen und Makedonen zu machen, wie es dir vermutlich einige raten werden.


    Ich verlange nicht, dass du an unser Wohl denkst. Ich flehe dich nur an, an dein eigenes Wohl zu denken.


    Und ich bitte dich, das nicht erst zu tun, wenn es dafür zu spät ist.


    Ich denke, ich kann auch in dieser Angelegenheit offen zu dir sprechen:


    Wenn du mit uns, also den führenden Bürgern der Polis, kurzen >Prozess< (weswegen auch immer! Es gibt nichts, wofür man uns den Prozess machen müsste.) machst, wie es dir vielleicht gewisse Leute empfehlen, so hast du niemanden, der dafür sorgt, dass die Bürger der Polis ruhig bleiben. Du hast auch niemanden, der dafür sorgt, dass jene Narren, von denen ich sprach, nicht allzu großen Zulauf erhalten.


    Zwar brauchen wir dich noch viel mehr, als du uns brauchst, aber ganz ohne uns kommst du nicht aus.


    Auch wenn manche Männer es dir weismachen wollen: Die römische Legion kann nicht Alexandria im Falle eines Aufstandes einfach in Schutt und Asche legen. Kann sie schon, dann aber nicht ohne die Not des römischen Volkes in Kauf zu nehmen, ja gar herbeizuführen.


    Ganz gleich, wie dir meine Ratschläge gefallen werden: Ich bin mir sicher, du wirst dich ihrer entsinnen, wenn es so weit kommt, wie ich fürchte."


    Er senkte in (scheinbarer) Demut sein Haupt. Entweder der Zorn des Eparchos entlüde sich an ihm - oder nicht. Er hob den Kopf wieder.


    "Ich bin fertig mit meinen Ausführungen. Wenn du noch Fragen hast, so stelle sie."




    Sim-Off:

    *Dass er Corvus' Klient ist, hat Nikolaos SimOn in einem Gespräch mit Lucius Iunius Silanus erfahren - zu finden in Nikolaos' Wohnhausthread.



    edit: SimOff eingefügt.

    Der Gymnasiarchos nickte.


    "Du sprachst ganz richtig von einer Pflicht. Es gibt noch viele andere. Aber bleiben wir erst einmal dabei.


    Nicht nur, dass ein jeder Bürger zur Volksversammlung gehen soll. Auch darf kein Bürger, der einen anderen freien Bürger als Angestellten hat, diesem verwehren, zur Volksversammlung zu gehen. Am Tag der Volksversammlung soll daher alle Arbeit ruhen, die Bürger von ihrer Pflicht abhält.


    Wichtig ist es übrigens auch, rechtzeitig zur Volksversammlung aufzubrechen, damit man keine wichtigen Themen verpasst."


    Er sah das Mädchen, das zu spät gekommen war (diesen Fehler aber mit einer richtigen Antwort wieder gutgemacht hatte) streng an.


    "Welche Pflichten hat ein Bürger noch?"


    Er sah das Mädchen an, das eher eine junge Frau zu sein schien, in einem Alter, in dem die meisten Frauen schon längst verheiratet waren und viele Kinder hatte. Diese Schülerin hatte noch nichts gesagt.


    Zu Nikolaos' Verwunderung erwiesen sich alle Jungen als schlechte Schüler. Lag es an der frühen Stunde, an der aufziehenden Hitze, die in einigen Wochen sicher ihren Höhepunkt erreicht hätte? Oder lag es daran, dass allmählich auch im Staaten die Frauen wieder das Ruder ergriffen? Womöglich hätte man bald keine freie Poleis mehr, sondern das Reich einer (den Römern natürlich hörigen Klientel-)Königin-Göttin, die jährlich einen Gatten hatte, der nach Ablauf des Jahres geopfert wurde ;).

    Nikolaos suchte auf den Tischen, in den Truhen und auf Gesimsen nach der Khronika. Dabei war er noch vorsichtiger als zuvor. Was sollte der Gast von ihm halten, wenn er sorglos mit Büchern umging? Bücher stellten für den Apollonspriester ein besonders kostbares Gut dar. Und seine Bibliothek war eine wahre Schatzkammer.


    "Ich werde dir einige Diener mitschicken, die für dich die Bücher tragen.", sagte er. Außerdem war es ihm lieber, Marcus Achilleos nicht allein gehen zu lassen. Obgleich dieser ohnehin gefährlich lebte. Wer wusste, ob nicht bald die Akademie in Flammen stünde? Nikolaos machte sich ernsthafte Sorgen. Er beschloss, einige alte Freunde um Schutz für den seltsamen Freund zu bitten. Andererseits ärgerte ihn, dass Marcus so unverbesserlich töricht war in einigen Dingen. Warum begab er sich gewissermaßen absichtlich in solche Gefahr?


    Er hatte die Khronika gefunden und überreichte sie dem Gast.
    "Möge sie dir helfen, deine Zöglinge zum Guten zu erziehen. Es ist wichtig, dass man über die Taten seiner Ahnen bescheid weiß."

    Nikolaos lächelte, als Penelope begann, nach der zuständigen Gottheit zu suchen.


    "Ich denke, die Musik ist keine Erfindung des Apollons. Wie alle Götter so ist sie auch Bestandteil des Kosmos. Nur musste sie an uns Menschen herangetragen werden, wie eine kostbare Gabe."


    Wieder ein Lächeln.


    "Vielleicht gibt es Dinge, die sich nicht messen lassen. Eine Farbe ist sowenig messbar wie ein Ton. Vielleicht verwehren uns die Götter die Gabe, Farben und Töne zu messen - vielleicht muss in vielen Künsten ein kleines Geheimnis bleiben, damit sie uns und die Herzen der Götter erfreuen. Es gibt Dichter, die sich an alle Formen halten, korrekt den Rhythmus der Verse halten, kaum Wörter verstümmeln - und dennoch ist das, was sie tun, fade und hässlich. Es muss also hinter den sichtbaren und messbaren Dingen etwas geben, was die Schönheit ausmacht. Vielleicht handelt es sich dabei um eine höhere Form der Erkenntnis, ja, gar eine höhere Idee.


    Man kann Dinge tun, und sie gut tun, ohne genau zu wissen, was man tut. Die ersten Schmiede gingen ihrer Kunst nach, ohne sich auf Erfahrung stützen zu können. So auch die ersten Bootsbauer. Oft sanken Boote, doch es muss solche gegeben haben, die nicht sanken, und nach deren Vorbild alle Nachfolger ihre Werke bauten, und dabei das Vorbild verbesserten.


    Hätte keines der Boote dem Meer standgehalten, so hätte es auch keine Erfahrung darüber gegeben, wie man Boote bauen muss.


    Aber wie haben die ersten Erbauer jener Boote die richtige Form getroffen, das richtige Holz verwendet undsoweiter? Hatten sie vielleicht ein Gefühl, eine Ahnung?


    Doch ich schweife zu weit ab. Zurück zur Musik."

    Peisistratos, der alte Chef-Sklave:


    Peisistratos lächelte fast großväterlich. Dabei vertieften sich einige Falten in seinem Gesicht, andere glätteten sich, sodass das Lächeln ihm ein anderes Aussehen verlieh. Um vieles gesünder und kräftiger als zuvor wirkte er.


    "Herzlich willkommen, werte Zenobia.", sagte er freundlich.


    Als sie auf den Herren zu sprechen kam, verfinsterte sich sein Gesicht etwas und er wich zurück (ohne dabei die Füße zu bewegen). Peisistratos genoß das Vertrauen des Nikolaos und erwies dem Herren im Gegenzug eine tiefe Loyalität. Er hasste Indiskretionen. Andererseits würde die neue Sklavin früher oder später selbst auch die kleinen Schwächen und Fehler des Hausherren erfahren.


    "Wir haben Glück, denke ich. Nikolaos läßt zwar häufig vom Torwächter die Lohndiener schlagen und verprügeln - er selbst schlägt nie, dafür ist er wohl auch nicht stabil genug gebaut-"


    Er lächelte. Fast das Lächeln eines Vaters, der über die kleinen Fehler seiner Kinder sprach, dabei sich gerade an diesen Fehlern erfreuend.


    "aber uns Sklaven schlägt er nie. Wir bekommen genug zu essen, er gibt mir Geld, mit dem ich mir und den beiden anderen Sklaven - und zukünftig wohl auch dir, Kleidung kaufen kann, wir bekommen manchmal einen Tag frei, den wir draußen in der Stadt verbringen dürfen..."


    Er sah das Mädchen prüfend an.


    "Ich bin hier seit Jahren Sklave. Als der Herr mich kaufte, war er fast noch ein Knabe. Nikolaos... äh der Herr stammt ursprünglich aus Eleusis bei Athen oder Athen selbst. Zeitweilig hat er wohl in Rom gelebt, dann ist er hierher gekommen."


    Mehr über das Leben des Nikolaos wollte Peisistratos der neuen Sklavin nicht anvertrauen. Über die dunkelsten Kapitel in Nikolaos Leben indes wusste selbst der Leibsklave nichts. Nur Ahnungen hatte er....


    "Der Herr hat einige - nunja, seltsame Angewohnheiten. Manchmal erwacht er mitten in der Nacht und geht ruhelos im Haus auf und ab. Manchmal ruft er in solchen Nächten mich auch. Dann diktiert er mir, und ich muss schreiben. Geschäftliche Dinge, Briefe, Reden, Aufsätze, aber auch unzusammenhängendes Zeug kann das sein.


    An einigen Tagen ist er sehr launisch. Er sagt das Eine, und im nächsten Augenblick etwas anderes oder gar das Gegenteil des Ersten. Er schickt einen, etwas zu besorgen, und wenn es dann besorgt ist, schickt er einen damit wieder fort. Er schickt einen fort, und ruft einen im nächsten Moment wieder zurück. Mit diesen gelegentlichen Launen musst du umgehen: Sei gelassen und widersprich ihm nicht. Nur wenn es außerordentlich seltsam wird, müssen wir ihm gut zureden. Einmal wollte er unbedingt in Lumpen zur Volksversammlung gehen. Ich habe ihn eine halbe Stunde lang beschworen, das nicht zu tun. Am Ende ist er wieder zur Vernunft gekommen.


    Der Herr ißt gegen Nervenschmerzen und Kopfschmerzen, die ihn häufig plagen, Opium. An einigen Tagen will er damit gar nicht aufhören und verlangt nach immer mehr. Wenn ich ihn nicht durch Zureden davon abbringen kann, so menge ich einfach viel mehr Honig und Gewürz in das Opium, als ich es sonst tue. Er schmeckt dies meist nicht heraus, da ich weiß, welche Maße ich nehmen muss.


    Wenn er sein Opium ohne Zusätze genießen will, ist das ein schlechtes Zeichen. Dann dürfen wir ihn nicht aus den Augen lassen. An solchen Tagen bleibt er meist den ganzen Tag im Bett, ißt nichts und weigert sich, irgendjemanden zu empfangen. Dann ist es besser, ein Arzt kommt. Sein Nervenfieber ist an diesen Tagen meist sehr stark.


    Der Herr hat einige seltsame Freunde, die ihn zuweilen besuchen, und die er zuweilen besucht. Auch finstere Gestalten sind darunter. Stelle keine Fragen dazu."


    Sein Blick wurde strenger, obgleich er immer noch freundlich war.


    "Du musst mir versprechen, das du all das für dich behälst. Der Herr ist ein hochangesehener Bürger dieser Stadt: Zur Zeit ist er der amtierende Gymnasiarchos, außerdem gehört er der Bruderschaft des Apollons und der Musen an."


    Seine Züge entspannten sich wieder. Er lächelte milde.


    "So, und bevor ich dir das Haus zeige, könntest du etwas von dir erzählen. Ich muss schließlich wissen, für welche Arbeiten ich dich einplanen kann.


    Aber sei dir sicher, früher oder später lernst du ohnehin alles, was nötig ist.


    Bist du schon lange in Alexandria?"

    Nikolaos bekam es allmählich mit der Angst zu tun. Hätte der Kosmetes doch nichts gesagt... . Irgendwann musste der Satrap soetwas gewiss erfahren... Aber doch nicht sofort! Nikolaos hätte die Strategie der häppchenweise vorgesetzten Wahrheit bevorzugt. Dafür jedoch war es nun zu spät. Er kam wirklich ins Schwitzen und bangte um seine Bleiweißschminkmaske. Nikolaos atmete tief durch, jedoch das so unauffällig, dass es niemand der Anwesenden, die sich - so hoffte der Gymnasiarchos- auf den Agoranomos konzentrierten, der das Wort ergriffen hatte, bemerken würde. Agathe Tyche, stehe mir bei! Er hoffte, Tyche würde sich nicht hinreißen lassen, sich in einer anderen Gestalt zu zeigen... Wenn die Sache aus dem Ruder liefe... Nikolaos fragte sich, wielange seine Dienerschaft bräuchte, sein Schiff im Hafen für eine fluchtartige Abreise aus der Stadt vorzubereiten... Cleonymus, du verfluchter Tor!, dachte er. Bloß nicht zittern, bloß nicht erröten.


    Was sollte er tun? Sollte er versuchen, beruhigend auf den Satrapen einzuwirken? Dafür, so fürchtete er, war es zu spät. Insbesondere die Spitzelaffäre schien den guten Mann sehr gegen die Polis aufgebracht zu haben. Hatten sich gar die Männer des Cleonymus erwischen lassen? Nikolaos beschloss, dass er nichts davon wissen würde, wenn es ernst würde. Sollte er ruhig sein? Aber das würde dem Satrapen vielleicht als Zeichen der Unverschämtheit sauer aufstoßen - und zuviel war schon ausgesprochen, als dass er den Rest zurückhalten konnte- Flucht nach vorne? Ausfall? Oh große Isis! Oh mächtiger Hermes, mein großer Ahnherr! Was sollte er tun? Was sollte er tun?!?! Er hoffte, er würde den Palast noch verlassen können, sollte die Angelegenheit sich ungünstig entwickeln. Hermes, großer und mächtiger und kunstreicher, hilf! gib meiner Zunge den Schlag, der den Eparchos nicht erzürnt und gib ihm die Weisheit, mich anzuhören und mir zu glauben! Ich will dir einen Weihestein stiften und dir opfern! Oh Hermes, ich opferte dir schon oft und handelte dir zu Ehren als dein Priester! Oh Hermes, ich will dir noch häufiger opfern und dir noch viel mehr Ehre bereiten! Das war ein Gelübde. Sollte der kunstreiche Götterbote ihm helfen, würde Nikolaos ein Vermögen ausgeben für Opferwerk. Noch einmal atmete er tief ein. Dann trat er einen Schritt in Richtung des Satrapen.


    "Ehrenwerter Eparchos, erlaubst du mir, einige aufrichtige und ungeschönte Worte an dich zu richten? Ich habe einen Verdacht. Ich hatte ihn bereits zuvor, doch hielt ich ihn für derart verrückt und absurd, dass ich mir nicht anmaßen wollte, ihn zu äußern, zumal er eine Beschuldigung enthält. Nun, da mir jene Dinge zu Ohren gekommen sind, scheint mir dieser Verdacht, so leid es mir tut und so schlimm er ist, naheliegend. Bitte bedenke, dass ich heftige Worte dafür gebrauchen muss. Aber, werter Eparchos, es scheint mir nun unausweichlich, da, so fürchte ich, der Frieden und die Ordnung der Provinz auf den Spiel steht. Ich bitte dich also, mir das Wort zu gewähren und mir, wenn ich gesprochen habe, nicht zu zürnen, für das, was ich dir zu sagen habe."


    Er sah den Satrapen vorsichtig an. Am liebsten hätte er den Blick gesenkt. Wusste er doch, dass es lebensgefährlich war, bei diesem mächtigen Mann in Ungnade zu fallen. Wenn alles gut liefe, wären die Prytanen (inklusive des ehemaligen Strategos) vorerst in Sicherheit. Liefe es schlecht... Nikolaos hoffte, der Ahnherr seines Geschlechtes hätte sein Flehen erhört. Nun indes konnte der Gymnasiarchos nicht mehr zurückweichen. Erlaubte ihm der Eparchos das Wort, so würde er es ergreifen müssen.

    Peisistratos, der alte Chef-Sklave:


    Nikolaos hatte die spitze Anspielung auf die beiden anderen Tyrannen von Athen nicht mehr gehört, da er rasch in seinen Gemächern verschwunden war.


    Statt seiner nahm nun Peisistratos die neue Sklavin in Empfang. Er war ein älterer Mann, groß und hager (dabei etwas gebeugt gehend) mit gutmütigen dunklen Augen.


    "Sei gegrüßt. Bist du eine neue Sklavin oder eine Lohndienerin? Wie heißt du? Ich bin Peisistratos.", sagte der Chef-Sklave des Hauswesens des Nikolaos freundlich.


    Sie standen im rechten Nebenhof. In dessen Mitte stand ein Brunnen, an dessen Rand sich Peisistratos nun kurz abstützte, um sogleich wieder künstlich aufrecht zu stehen. Ihm schien es nicht zu behagen, die gebrechliche Konstitution seines alten Körpers andere erkennen zu lassen.


    "Hast du bereits Bekanntschaft mit dem Herren gemacht?"


    Seine Fragen machten keineswegs den Eindruck eines Verhörs, dafür war seine Stimme zu sanft und freundlich.

    Dass das Mädchen Aristotéles zitierte, und, der Erinnerung des Nikolaos nach, sogar richtig, gefiel dem Gymnasiarchos sehr. Er hätte gerne gerne noch weitergebohrt, aber er wollte die anderen Schüler nicht außen vor lassen, sondern auch ihnen Gelegenheit geben, ihre Kenntnisse zu zeigen.


    "Das ist, wie ich finde, eine sehr treffende Definition, die du da zitiertest.


    Nun aber gilt es, diese Definition mit Beispielen zu stützen. Wer kann mir Beispiele für die Pflichten eines Bürgers nennen, und dafür, wie er seiner Pflicht der Teilhabe am Richten und der Herrschaft nachkommt."

    Nikolaos lachte. Seine Augen funkelten. In seiner - wie Nikolaos meinte - Naivität gefiel ihm der Schüler prächtig.


    "Es gibt eine Wahrheit, und im Fall unserer kleinen Geschichte kennst du sie, als Verteidiger. Die Wahrheit jedoch kann nur durch Sprache ausgedrückt werden. Und auf diesem Wege kann eine ganze Menge mit ihr passieren.


    Du kennst sicher Mißverständnisse. Sie unterlaufen einem jedem fast jeden Tag. Mißverständnisse sind meist auf den nachlässigen Gebrauch der Sprache, ob nun als Sprecher oder Zuhörer, zurückzuführen.


    In der Redekunst bemächtigen wir uns der Sprache. Wir bemächtigen uns ihrer, um die Wahrheit so zu verdrehen, wie es uns am Günstigsten ist."


    Er lächelte.


    "Vielleicht kommt dir das sehr verwerflich vor, und es gibt einige Gelehrten am Mouseion, die mich für diese Ansicht einen Sophisten schimpfen.


    Aber auch wenn es - im Grunde - schlecht ist, die Wahrheit absichtlich zu verfälschen, so kann man es aber dennoch zu einem guten Zweck tun.


    Du sagst, du willst nicht, dass jener Räuber in der Amtstracht eines Stadtobereren mit wenig Schaden davonkommt. Das ist verständlich, schließlich muss im Allgemeinen soetwas sehr hart bestraft werden, um Zukünftige davon abzuhalten.


    Nun aber bist du der Verteidiger. Damit hast du eine Pflicht - die Pflicht, für deinen Schützling alles zu tun, was du kannst, um ihm schlimme Strafen zu ersparen.


    Zum Einem ist das durch Mittel zu erreichen, die völlig gut scheinen: Du sorgst dafür, dass sein Recht nicht übergangen wird, dass der Ankläger nichts gegen ihn tut, was ihm verboten wäre.


    Zum Anderem gibt es Mittel, die etwas zweifelhaft scheinen: Du musst du Wahrheit in ein für deinen Schützling günstiges Licht setzen, sie gar teils zurückhalten, teils ausbreiten und breittreten.


    Das sieht frevelhaft aus. Du hast aber als Verteidiger deine Pflicht. Dafür zu sorgen, dass der Angeklagte seiner gerechten Strafe zugeführt wird, das übernehmen andere, das ist nicht deine Aufgabe als Verteidiger."


    Er sah den Schüler prüfend an.


    "Nun also sollst du eine Rede zu seiner Verteidigung halten. Sieh dir die Geschichte an, entsinne dich ihrer. Und prüfe, an welchen Stellen die Wahrheit sich nicht verdrehen läßt, und an welchen du ansetzen kannst. Du musst nach Lücken suchen, die du mit Dingen füllen kannst, die für dein Anliegen günstig sind.


    An der Tat selbst ist nicht zu drehen. Jedenfalls wirst du in unserem Beispiel kaum daraus einen Vorteil für den Angeklagten schlagen.


    Was bleibt in unserer Geschichte? Die Beweggründe der Tat, die Person des Dekurios, der ihm auf die Schliche gekommen ist und nicht zuletzt die Person des Angeklagten selbst.


    Jetzt überlege, was du tun kannst."

    Zufrieden nickte Nikolaos. Er freute sich auf die Gesellschaft des jungen blonden Römers. Beim ersten Zusammentreffen hatte diesen schließlich Iunia Axilla sehr vereinnahmt, sodass Nikolaos, wie er in seinem Egoismus glaubte, zu kurz gekommen war.


    "Bis dann!", rief er ihm hinterher, ehe seine Sänfte sich in Bewegung setzte.


    Nicht weit war es bis zum Haus des Nikolaos.

    Mit Zenobia und den beiden Gehilfen im Schlepptau erreichte die Sänfte des Nikolaos dessen Anwesen im Königsviertel. Ab dem Tor zur Basileia war der Gymnasiarchos zufuß gegangen. Im Königsviertel waren die Straßen verhältnismäßig sauber. An manchen Tagen wirkte diese Sauberkeit auf ihn beinahe abartig.


    Der Torwächter waltete seines Amtes. Nikolaos wartete auf Zenobia, um sie, nachdem der Wächter das schwere Tor des Hofes zur Straße hinter ihnen verschlossen hatte, gewissermaßen ein zweites Mal in Empfang zu nehmen.


    "Rechts von diesem Hof ist ein zweiter, der Küchenhof. An diesem liegt auch dein Schlafquartier. Peistratos, einer der drei anderen Sklaven, wird es dir gleich zeigen. Tagsüber sind hier außerdem Lohndiener. Diese musst du besonders beaufsichtigen. Es gab unter ihnen so manche, die zu spät kommen, an einigen Tagen gar nicht kommen oder gar stehlen. Wenn du soetwas beobachtest, melde es sofort Peistratos.


    Die Anweisungen des Peistratos sollst du befolgen, als kämen sie von mir, es sei denn, meine Anweisungen lauten anders."


    Er blickte die junge Frau streng an. Insgeheim hoffte er, sie würde sich als gute Sklavin erweisen. Der alte Peistratos wurde schließlich nicht kräftiger und gesünder mit dem Alter. Nikolaos hatte vor, ihn bald freizulassen und ihm ein Gnadenbrot zu gewähren. Dafür brauchte er aber einen neuen Obersklaven. Der Hausherr selbst hatte über sein Hauswesen nur einen unzureichenden Überblick. Er war schließlich auch nicht verheiratet, sodass es von den Sklaven abhing, ob alle Dinge im Haus richtig liefen.


    "Hast du noch Fragen? Falls du keine Fragen hast, so gehe in den Küchentrakt, dort wirst du Peistratos antreffen, der dir alles weitere erklärt und dir alle wichtigen Räume des Hauses zeigt."


    Nikolaos war ein wenig ungeduldig. Die Sonne stand schon sehr weit oben. Für gewöhnlich pflegte der Hausherr schon viel früher in seinem Zimmer zu ruhen.

    Nikolaos öffnete selbst die Tür und erschrak. Der alte Hüter des Mouseions hatte ihn noch nie selbst aufgesucht. Sosimos pflegte, Lehrer und Schüler zu sich rufen zu lassen, und nicht selbst zu kommen.


    Es musste um etwas Ernstes gehen. Aber worum? Hatte Nikolaos seine Pflichten vernachlässigt? In Gedanken versuchte er sich zu entsinnen, ob ihm Nachlässigkeiten beim Tempeldienst unterlaufen waren, ob er nicht versehens Bücher nicht in die Bibliothek zurückgebracht hatte, ob-


    Nikolaos warf einen eiligen Blick in seinen Arbeitsraum. Hätte er gewusst, welcher Gast da in seiner Tür stand, er hätte aufgeräumt. Nun hoffte er, der ehrwürdige alte Mann würde sich nicht daran stören, dass in dem Arbeitsraum des jungen Gelehrten Unordnung herrschte.


    Rasch wandte sich Nikolaos dem vermutlich Ältesten aller Priester der Bruderschaft zu. Er rückte sein Chiton zurecht. Ihm stockte der Atem.


    "Sei gegrüßt, ehrenwerter Sosimos... Welche Ehre-"


    Er trat einen Schritt zur Seite, um den Weg in das Zimmer freizugeben.


    "Bitte, tritt ein und setze dich."


    Eilig und mit fahrigen Bewegungen rückte Nikolaos dem Mann einen Stuhl zurecht.


    "Darf ich dir etwas zu trinken holen?", fragte er. Gleichzeitig versuchte er, in dem Gesicht des alten Mannes zu lesen, was ihm bevorstand.

    Der Gehilfe warf der Sklavin einen giftigen Blick zu, wagte aber nicht, sie noch einmal anzurühren, nachdem er sie vor den Herren gestellt hatte.


    Das Mädchen schien nun, nachdem sie zuvor frech geworden war, Unterwürfigkeit vorzutäuschen. Nikolaos betrachtete sie eingehend und zog eine Augenbraue hoch.


    "Zenobia... wie die Gemahlin des Rhadamistos, der vor einem halben Jahrhundert in Armenien herrschte..."


    Während er so sprach, blickte er Zenobia durchdringend in die Augen. Mit der Hand fuhr er der jungen Frau durch das Haupthaar. Dann betrachtete er die Handfläche, als wollte er prüfen, ob die Sklavin sauber war. Er schürzte die Lippen.


    "Ich bin Nikolaos, der Priester des Hermes und des Herakles und Priester der Musen und des Apollons.", sagte er rasch und trocken, ganz ohne jenen nachdenklichen Tonfall.


    "Wir sollten nach Hause gehen. Es ist bald Mittag."


    Und in der Mittagshitze hielt sich Nikolaos sehr ungern außerhalb der schattigen Höfe seines Hauses auf.


    "Werter Marcus Duccius, du bist herzlich eingeladen, mich am Abend zu besuchen. Wenn du magst, bringe doch deine-"


    Ihm war leider entfallen, in welchem Grade der Germane mit jener Frau verwandt war, die seit einiger Zeit Gast im Palast des Satrapen war.


    "-Verwandte Duccia Venusia und ihren Gemahl mit. Ich hörte, sie sei eine überaus gelehrte Frau. Wenn du das nicht magst, komme jedoch alleine."


    Er nickte dem jungen blonden Hünen zum Abschied freundlich zu. Dann setzte er sich wieder auf seine Sänfte und gab den Trägern ein Zeichen, diese auf die Schultern zu nehmen und über die staubigen Straßen Alexandrias zu seinem Haus zu tragen. Die beiden Gehilfen nahmen Zenobia in ihre Mitte, damit sie nicht weglaufen konnte, und folgten der Sänfte.

    Ein Gnorimos des Nikolaos brachte einen Brief vorbei, traf jedoch leider den Stellvertreter des seit einiger Zeit toten Bibliothekars nicht selbst an, sondern übergab das Schriftstück einem Schreiber.


    Hochverehrter Sosimos, ich schreibe Dir, da ich um Deinen Gesundheitszustand weiß und Dich nicht mit meinen Angelegenheiten belästigen möchte, wenn Dich Deine Leiden am ärgsten plagen, sondern Dir Gelegenheit geben möchte, Dich meiner Anliegen anzunehmen, wenn es Dir am besten passt.


    Ich möchte Dich bitten, den Römer Marcus Duccius Rufus als Schüler in die Bücher unserer heiligen Bruderschaft einzutragen. Er kam zu mir, um Unterricht in der Redekunst zu erhalten. Der Eindruck, den er auf mich machte, war außerordentlich gut. Ich habe ihn über die wichtigsten Regeln und Gepflogenheiten unserer Bruderschaft unterrichtet, und er hat die Belehrung aufmerksam und achtsam aufgenommen.


    Wenn Du ihn selbst kennenlernen möchtest, ehe Du eine Entscheidung über seine Aufnahme triffst, so teile mir mit, wann Du dies wünschst. Falls Du dies nicht wünschst, so hast Du mein Wort, dass ich persönlich über das Betragen des Jungen wachen werde.


    Ich hoffe, die Götter schenken Dir sehr bald eine bessere Gesundheit und befreien Dich von Deinen Kopf- und Nervenschmerzen, auf dass Du unserer Bruderschaft noch lange als weises Haupt erhalten bleibst.


    Es grüßt Dich hochachtungsvoll


    Nikolaos.