Aufmerksam betrachtete Nikolaos das Gesicht des jungen Mannes, dem er soeben seinen Schutz angetragen hatte. Natürlich war der amtierende Strategos nicht dumm. Daher war ihm klar, dass ein solches Verhältnis auf Gegenseitigkeit beruhte (und dass Nikolaos sich nicht nur aus einer fast väterlichen Sympathie dafür anbot). Dass er direkt darauf ansprach, verwunderte Nikolaos nicht.
Nikolaos ließ seinen Gast zum Obstteller greifen, ehe er selbst eine in Honig gehüllte Dattel zwischen die Spitzen von Daumen und Zeigefinger nahm und mit einer bedächtig grazilen Bewegung zum Mund führte.
"Zum Einen wäre es mir eine Freude, eine so blühende Familie zu beschützen und dafür zu sorgen, dass sie ohne Störungen weitergedeihen kann und für sich, ihre Ahnen, ihre Nachfahren und natürlich auch für die Polis Ruhm erwirbt und vermehrt.", sagte er ruhig. Seine Lippen formten sich zu einem leichten Lächeln.
"Zum anderem kann es sein, dass einst auch ich in Bedrängnis gerate. Ich habe zwar, und mit dir erlaube ich mir darüber offen zu sprechen, Freunde in der Stadt, die vieles zu tun vermögen, worüber es sich nicht zu sprechen ziemt, um für mein Wohlergehen zu sorgen, aber man darf nie vergessen, dass die Zeiten sich ändern können.
Außerdem gedenke ich, mich allmählich etwas aus den Geschäften der Polis zurückzuziehen, um die Ehre von Ämtern anderen, jüngeren Menschen zu überlassen, wie zum Beispiel Männern wie dir.
Jedoch möchte ich weiterhin der Polis mit Rat und Tat zur Seite stehen. Dazu müssen vor allem die Amtsträger, also die Inhaber öffentlicher Befugnisse, mir erlauben, meine Ratschläge ihnen anzutragen, und natürlich auf meine Ratschläge zuweilen hören.
Du weißt selbst, als Strategos, dass die Lage keine friedliche, ruhige und sichere ist.
Wir, die Bürger der Polis Alexandreia, sehen uns Feindseligkeiten von vielen Seiten gegenüber. Daher ist es wichtig, dass wir nicht auch noch in Zwietracht zerfallen.
Um offen zu sprechen: Ich glaube, dass jemand im Hintergrund für diese Einigkeit sorgen muss, ohne freilich außer Kraft zu setzen, dass bei jeder Entscheidung für und wider diskutiert werden muss. Allerdings glaube ich, dass wir uns in diesen Zeiten dabei keine Meinungsschlachten leisten können, an deren Ende einer gewinnt und die anderen, durchaus berechtigten Einwände fallen gelassen werden. Daher denke ich, wir sollten gerade in Bezug auf die Hauptprobleme der Polis Kompromisse finden. Jemand, der sich nicht in der Öffentlichkeit profilieren muss, damit man ihn als Amtsträger wahrnimmt und achtet, sollte gewissermaßen im Inneren die führenden Männer und Familien der Polis zusammenhalten, auch wenn nach außen und in Einzelheiten Streit herrschen kann und soll.
Ich sehe mich dazu in der Lage. Nur kann ich diese Aufgabe nicht wahrnehmen, wenn sich alle führenden Köpfe der Polis von mir abwenden, sobald ich kein Amt mehr ausübe, wenn alle mich dann nicht mehr beachten.
Mit dir und deinem Bruder, mit der ehrenwerten Römerin Iunia Urgulania, mit Cleonymus hätten wir bereits vier vortreffliche Bürger auf unserer Seite, die, so hoffe ich, allesamt in der Lage und bereit sind, Ämter zu übernehmen. Wir könnten dafür sorgen, dass sie bei der nächsten Ekklesia, in der gewählt wird, in die richtigen Ämter gelangen, so dafür sorgen, dass sich keine Menschen dort breitmachen, die dem Wohl der Polis schaden. Du weißt selbst, dass es viele gibt, die sich für die Probleme mit den Römern weniger diplomatische Lösungen wünschen - die zwangsläufig im Unglück enden würden.
Trotzdessen wünsche ich mir mit dir und den Deinen kein bloßes Zweckbündnis, um die Polis in diesen schweren Zeiten vor dem Unglück zu bewahren. Unsere Freundschaft sollte darüber hinausgehen. Und von meiner Seite würdet ihr mehr Unterstützung erfahren, als bloß unmittelbar dafür notwendig. Damit möchte ich sagen: Auch wenn die Gefahr für die Polis selbst überstanden ist, werde ich euch nicht fallen lassen.
Andererseits erwarte ich auch von euch, dass ihr euch nicht von mir abwendet, sobald mein Stern zu sinken beginnt. Ich will dich nicht erschrecken, aber du solltest wissen, dass ich Treulosigkeit verabscheue wie kaum etwas anderes. Und auch wenn es mir selbst anschließend an den Kragen gehen sollte: Ich finde immer Mittel, den Untreuen zumindest mit ins Unglück zu reißen. Ich hoffe, du verstehst, dass ich Verrat - damit meine ich keine vorrübergehenden Meinungsverschiedenheiten, keinen Streit, sondern echten Verrat- bestrafe. Sollte es mir einmal an den Kragen gehen, werde ich Mittel und Wege finden, mich an allen zu rächen, denen ich das zu verdanken habe. Seien es Räuer aus Rhakotis, seien es römische Offiziere, seien es Hellenen. Auch wenn sich neun Zehntel meiner Freunde von mir abwenden, bleiben mir immer noch genug, um mich so zu rächen, wie es mir angemessen erscheint."
Er blickte Timotheos durchdringend an. Da dieser alle Bedingungen erfahren wollte, hatte ihm Nikolaos nichts verschwiegen. Ein Lächeln bildete sich erneut.
"Ich hoffe, ich habe dich nicht erschreckt. Das wäre nicht meine Absicht. Aber du solltest eines wissen: Wer meine Freundschaft annimmt, dem werde ich treu sein. Andersherum erwarte ich jedoch dasselbe. Ich bin nicht so dumm, als dass ich mich ausnützen lassen würde."