Beiträge von Nikolaos Kerykes

    "Es ist mir eine umso größere Ehre, dich besuchen zu dürfen, werter Markos. Mein Weg war angenehm, wie er an einem sonnigen, doch milden und nicht zu heißen Tag nur sein kann. Ich danke dir für die Nachfrage.", sagte der Gymnasiarchos höflich. "Ich bewunderte soeben die eleganten Bauweise dieses Hauses. Ist dies die, die man auch im Reiche Tschin-" Nikolaos hatte Mühe, den Zisch-Laut richtig auszusprechen, gab es ihn doch in dieser stimmhaften Form weder in irgendeiner hellenischen, noch in der römischen Sprache."-zu gebrauchen pflegt?"

    Ein junger Mann eilte auf das Tor zum Königsviertel zu.


    "Salve, ehrenwerter Herr, ich bin Kalthymos, ein dem Gymnasiarchos Nikolaos zugeordneter Ephebe. Mein Herr schickte mich, dem hochverehrten Präfekten der Provinz Ägypten des göttlichen Basileus etwas auszurichten, das höchst eilig ist und keinen Aufschub duldet. Mein Herr selbst ist verhindert und konnte daher so rasch nicht kommen. Er selbst wird jedoch so bald wie möglich seinerseits den hochverehrten Präfekten um eine Audienz bitten."

    Nikolaos hätte fast empört aufgeschriehen. Was fiel diesem Söldnerführer ein! Die Abfertigung und die anschließende Missachtung ließen das bereits erhitzte Gemüt fast überkochen. Nikolaos hatte seinerseits, wie er fand, höchst diplomatisch gefragt, die Antwort war mehr als nur brüsk ausgefallen. Doch äußerlich blieb er ungerührt und fast von einer herablassenden Gelassenheit.
    Er schürzte die Lippen und stieß einen leisen, nur noch wenige Ellen neben ihm hörbaren Pfiff aus. Der, dem er galt, hatte dieses Zeichen schon verstanden.


    "Nicht mich geht es an, Centurio, da hast du Recht. Doch im Namen der Polis fragte ich, zu welchem Zweck du die dir untergebenen Soldaten vor dem Heiligtum der Tyche antreten ließest..."

    Auf seiner prachtvollen Sänfte hatte sich der Gymnasiarchos in das Ägypter-Viertel tragen lassen, doch die letzten Schritte vom Sarapeion zu dieser obskuren Akademie war er auf Rücksicht auf das Bescheidenheitsideal des Meisters dieser Akademie zu Fuß durch die schmutzigen Gassen gegangen. Selbstverständlich hatte ihn dabei ein Kranz aus Dienern und Leibwächtern umgeben, der das Volk auseinandergetrieben und mitunter sogar Fuhrknechten Stöße mit Ruten verpasst hatte. Von diesen wagte natürlich keiner, seinerseits Peitschenhiebe in die Menschentraube zu schleudern, denn die Nubier im äußeren Ring wirkten durchaus nicht harmlos.
    Offenbar war die Schule des Markos sehr bekannt im Viertel, denn bereits die ersten, die nach dem Weg gefragt wurden, konnten Auskunft darüber geben.


    Daher erreichte die Gruppe rasch das neue, zwar äußerlich schlichte, aber immerhin augenscheinlich saubere und stabile Gebäude. Nikolaos selbst klopfte am Tor.

    Der Gymnasiarchos traute seinen Augen nicht. So weit gingen die Rhomäer... Es war der neue Legionspräfekt, ohne Zweifel! Was fiel ihnen... Von einer mächtigen Säule des Umgangs des Tychaions verdeckt beobachtete Nikolaos das Schauspiel. "Kalthymos", zischte er in Richtung eines seiner Epheben. "Sobald ich dir ein Zeichen gebe, gehst du unauffällig auf dem schnellsten Weg zum Palast des Eparchos und fragst ihn, ob er von dieser Aktion weiß, falls ja, was sie zu bedeuten hat." Der Ephebe nickte. Der Gymnasiarchos rückte seine Amtstracht zurecht und trat dann hinter der Säule hervor.


    "Sei gegrüßt, oh Centurio", wandte sich der Gymnasiarcho an den Centurio dieser Einheit, der auf hohem Ross saß, jedoch vom Gymnasiarchos, der auf der erhöhten Halle um das Tychaion stand, noch überragt wurde. "Ist es mir erlaubt zu fragen, mit welchem Zweck du und die dir Untergebenen sich vor dem Heiligtum der Agatha Tyche aufgestellt haben? Ist die Stadt bedroht, droht ein Aufstand? Bitte lasse uns darüber nicht im Ungewissen, denn wir sind, wie du dir sicher denken kannst, durchaus besorgt... ."

    Nikolaos fuhr es durch alle Glieder. Das war entzückend, oder eine Falle, die der fremdländische Hellene ihm stellte. Doch die Vorsicht hatte Nikolaos verlassen.
    "Ich danke dir tausendfach, werter Markos..." Der ehemaliger Athener und nunmehr Alexandriner lächelte. Er überflog die ersten Zeilen der Schrift, rollte das Rolle etwas weiter und überflog noch mehr, schließlich musste er sich zurückhalten, nicht zu lesen beginnen, immerhin hatte er einen Gast.
    "Wenn ich mich dafür erkenntlich zeigen kann, lasse es mich wissen. Ich werde mich in den nächsten Wochen ausgiebig dem Lesen widmen."

    "Wo ein Huhn ist, da kann, so denken wir, nicht gleichzeitig eine Kuh sein.", setzte Nikolaos wieder an. "So denken wir! Doch dabei sind wir blind."
    Er legte wieder eine Pause ein. Aus einer Tasche zog er einen Apfel und hielt ihn den Zuhörern entgegen. Auf der den Zuhörern zugewandten Seite war ein Alpha eingeritzt.
    "Was steht auf der Seite, die ihr nicht sehen könnt?", frug Nikolaos. Mit einer eleganten Handbewegung drehte er den Apfel um. Nun war ein Omega zu sehen. "Wo beginnt einer der unzählen Kreise der Rundung des Apfels?" Er ließ den Apfel kreisen.
    "Wo das Alpha ist, ist auch das Omega, doch wir sehen nur eines davon."
    "Ein Mensch, so denken wir, ist für den Geist das, was ein Atom, so wir die Lehre der Atomisten einmal für unsere Überlegungen annehmen wollen, für die Materie ist.
    Im fernen Indien denken kluge Menschen, vor allem Priester, anders. Sie sagen: In jedem Menschen wohnt eine Vielzahl an Seelen!"
    "Ein Mann, ein ehrbarer Bürger, erschlägt einen anderen Mann, auch einen ehrbaren Bürger. Wir lassen außer acht, warum er dies tat, nehmen aber an: Aus, wie wir meinen, niederen Beweggründen.
    Für die, die das sehen und für die Richter, die über ihn urteilen, ist er ein Mörder. Für seine Kinder ist er ein Vater. Für sein Weib ein Mann. Für seine Eltern der Sohn."
    "Was ist nun dieser Mann? Hat er, indem er zum Mörder wurde, aufgehört Vater, Ehemann, Sohn zu sein?"
    "Gehen wir davon aus, die Seele sei unteilbar und aus einem Stück gegossen. Wo ein liebender Vater ist, kann kein Mörder sein, und umgekehrt.
    Nun aber hat der Mann den anderen Mann heimlich erschlagen, niemand hat's gesehen. Der Mann kommt nach hause, seine Familie begrüßt ihn freudig. Gehen wir davon aus, dass das eigene Verbrechen dem Mann keine Qualen bereitet. Gehen wir davon aus, er vergißt es beinahe."
    "Ist der Mann ein Mörder? Wo er niemanden mordet - sondern gemordet hat - und es niemand weiß, nicht einmal er selbst noch?"
    Was ist mit seiner Seele? Hat er nun eine Mörderseele, da er gemordet hat? Hat sie sich gewissermaßen blutrot gefärbt?"


    Er sah die Zuschauer eindringlich an.


    "Meine Antwort, und ihr könnt davon halten, was ihr wollt, ist: Im Geist des Mannes sind der Geist eines Mörders, der eines Vaters, der eines Ehemannes, der eines Sohnes vereint.
    Es gibt also eine Mörderseele.
    Nun möchte ich eine Annahme voranstellen: Von nichts kommt nichts.
    Woher dann die Mörderseele?
    Sie muss vorhanden gewesen sein, bevor er den anderen erschlug. Also werden manche Menschen als Mörder geboren, andere nicht?
    Doch lange Jahre lebte dieser Mann, ohne ein Mörder geworden zu sein. Er wird vielleicht nie wieder töten.
    Töten - es töten auch Männer im Krieg. Man nennt sie nicht Mörder, da sie ihre Polis und die Daheimgebliebenen verteidigen.
    Doch töten sie! So wie auch unser Mörder tötete.
    Daraus folge ich: In uns allen-"
    Er blickte die Zuhörer eindringlich an.
    "-steckt eine Mörderseele. Beim Einen regt sie sich, beim anderen nicht.
    Geht man davon aus, dass alle Teil-Seelen ständig miteinander ringen, so hat in dem Moment, als jener Mann den anderen erschlug, die Mörderseele die Oberhand erhalten."


    Pause.


    "Gehen wir zurück zu Platon und, wie ich zugeben muss, rupfen seine Werke etwas auseinander und nehmen uns die Fetzen, die wir brauchen, doch nicht in böser Absicht, sondern in der guten Absicht einer neuen Erkenntnis, die uns anfängliche Nachlässigkeit verzeihen wird:
    Wie in einer Menschenseele viele Seelen sind, so ist vielleicht die Idee des Guten die Seele der Welt, die viele Ideen beinhaltet, auch die Idee des Mörders. Das, was uns verwerflich erscheint, hat seinen Platz im Kosmos und im Logos."

    "Sei gegrüßt Markos", meinte Nikolaos höflich, ja sogar freundlich, denn er hatte gesehen, dass der Besucher Bücher bei sich trug. Nikolaos Augen leuchteten. Am liebsten hätte er Markos die Bücher aus der Hand gerissen.
    "Das ist wirklich wunderbar!", rief der Gelehrte aus. "Wielange kannst du die Bücher entbehren?", frug er. Sollten sie wirklich das halten, was sich Nikolaos von ihnen versprach, einen Einblick in die Denkweise von Menschen am anderen Ende der Welt, von denen die meisten nicht einmal wussten, dass es sie gab, würde er seine Schüler und Gehilfen sie abschreiben lassen.
    Als Markos ihm aber die Passage vorlas, in der es augenscheinlich um (Eigen-)Nutzen ging, und er den Gymnasiarchos, den reichen und angesehenen Bürger der Polis, eindringlich ansah, verflog die Freude, oder sie wurde zumindest getrübt.
    "Ich habe nie nicht verstanden, weshalb du diese Akademie gründetest.", meinte Nikolaos. "Es ist mir selbst ein großes Anliegen und eine Art der Pflichterfüllung gegenüber den Göttern, Wissen zu mehren und Wissbegier gedeihen zu lassen und Menschen, gerade jungen, auf den Weg der Erkenntnis zu bringen."

    "Sei gegrüßt, Leonidas.", meinte der Gelehrte freundlich. "Du musst dich für keinen Kurs bewerben, da ich keinen gebe." Er lächelte. "Ich lasse meine Schüler keine Prüfungen schreiben und schicke sie auch nicht eines Tages nach hause mit den Worten: >Du hast genug gelernt, geh nun!<
    Aber es freut mich, dass du mein Schüler werden möchtest."
    Er deute mit der Hand auf einen Stuhl, der ihm gegenüber stand.
    "Was genau möchtest du lernen? Die Lehre von der Art, wie mit geschriebenen Büchern umgegangen werden muss, wie man Bücher von einer Sprache in die andere bringt, die Kunst der Rede oder etwas ganz anderes, oder von jedem etwas?"

    "Nicht nur, dass die stoffliche Welt nur vergänglich wäre. Platon sagt auch, die stoffliche Welt ist nicht."
    "Ein Huhn, dass er weder ertasten, noch seinen Geruch wahrnehmen, noch gackern hören kann, ist für den Blinden nicht in der Welt der Abbilder anwesend. Gackert es, so ist das ganze Huhn für ihn ein Gackern. Riecht er es zudem, so ist das Huhn für ihn ein Gackern und ein Geruch. Hält er es in den Armen, so ist es ein warmer, größerer, sich bewegender Gegenstand."
    "Wie können wir sicher wissen, dass wir Glücklichen, die wir sehen, hören, tasten, riechen und schmecken können, nicht andere Sinne entbehren, die uns die Welt der Abbilder erschließt?
    Wenn wir nun die Welt der Abbilder nicht vollständig erkennen, wie sollen wir in der Lage sein, Ideen zu erkennen?"


    Nikolaos blickte der Reihe um den Anwesenden in die Gesicher.

    Als sich alle gesetzt hatten, nahm auch Nikolaos platz, nicht jedoch auf der Kathedra, sondern in den Reihen der Zuhörer.


    "Der große Platon sagt, und ich will es nur kurz wiedergeben, sicher tue ich mit dieser unzureichenden Beschreibung ihm ein wenig Unrecht, sicher werden die Klugen von euch Makel daran finden, es gibt eine Welt der Stoffe als bloßes Abbild der Welt der Ideen, die wiederum aus der Welt der höchsten Ideen hervorgeht. Das stoffliche Abbild können wir sehen, fühlen, riechen, schmecken - vielleicht nur eines davon, vielleicht alles. Die Ideen können wir mit dem Verstand durchdringen. So entdecken wir Gesetze in der Natur, finden Gleichartigkeiten. Wir erkennen jedes Huhn als Huhn, obgleich alle Hühner unterschiedlicher Gestalt sind. Wenn ein Kind ein Huhn sieht, fragt, was es sei, die Amme sagt, ein Huhn, und es sieht wenig später ein weiteres Huhn mit einer anderen Farbe des Gefieders, so sagt das Kind: Ein Huhn!
    Doch diese Ähnlichkeiten, die wir Ideen nennen möchten, sind nichtig. Wenn es auf der Welt keine Hühner mehr gibt, wer weiß denn, dass es Hühner gibt? Platon sagt, es gibt noch eine Erkenntnis über der der Ähnlichkeit des Huhnes. Denn jeder einfachen, sich in der stofflichen Welt abbildenden Idee liegt etwas zugrunde, dass höher ist und schwer ergründlich. Wie man dahin gelangt, es schauen zu können, werde ich nicht weiter ausführen."

    "Du wirst gar nichts aufstechen!", fuhr Nikolaos den Verletzten in einem fast väterlichen Befehlston an. "Das wird ein Mann der Kunst für dich erledigen." Er nickte dem herbeigeeilten Arzt zu. "Ich weiß nicht, vielleicht zittern deine Finger, werter Ánthimos, und du stichst dir dabei das Auge aus... Das kann ich nicht verantworten!"
    Er selbst war inzwischen etwas wacklig auf den Beinen angesichts der Vorstellung, dass bald Blut fließen würde. So trat er zurück und überließ dem Iatros das Feld.

    Der Gymnasiarchos fasste sich entrüstet an die Stirn. Schnell jedoch erlangte er die Fassung wieder.
    Nikolaos ging, ja taumelte, auf Cleonymus zu und fasste ihn an den Schultern, was angesichts der geringen Größe und der Schmächtigkeit des Gymnasiarchos etwas lächerlich aussehen mochte.


    "Cleonymus! Ich bitte dich, ziehe keine überstürzten Konsequenzen... . Du wirst der Stadt mit soetwas mehr schaden als nützen... Ich bitte dich!"

    "Was genau er vorhat, weiß ich nicht.", meinte Nikolaos nach einiger Zeit. "Ich weiß jedoch, dass er es offenbar auf dich persönlich abgesehen hat. Wenn du nun Thimotheos in der nächsten Pyrtanie das Amt überläßt, so ist er vielleicht erst einmal beruhigt und sieht davon ab, weitere Schritte zu unternehmen, zum Beispiel bezüglich einer Abrüstung der Stadtwache, was angesichts der ohnehin und auch nach der baldigen Aufstockung geringen Größe für eine Stadt wie Alexandria natürlich ein absurdes Unterfangen wäre."
    Nikolaos runzelte die Stirn.
    "Allerdings bin ich guter Hoffnung, denn da er zu mir gekommen ist, kann er beim Eparchos nicht allzuweit gekommen sein mit seinem Anliegen. Anderenfalls hätte er sicher den Weg über den Eparchos vorgezogen."
    Pause.
    "Er meinte, er wäre mir nun einen Gefallen schuldig. Ich will sein Wort nicht auf die Goldwaage legen, doch vielleicht kann ich ihn bei Gelegenheit dazu bringen, sich in Zukunft aus den Angelegenheiten der Polis herauszuhalten, wie er es eigentlich tun müsste."
    Nikolaos kratzte sich am Kinn.
    "Ich bitte dich, alles, was ich dir gesagt habe, für dich zu behalten. Es wäre nicht gut, wenn der Soldat herausfände, dass ich ihn belogen habe. Bitte bleibe ruhig und versuche, dein gutes Verhältnis zum Eparchos weiter auszubauen. Solange er uns wohlgesonnen ist, kann uns der Heerführer nichts anhaben."

    Nikolaos nickte. "Das freut mich sehr, werte Penelope." Er sah sie wieder eine Weile an. "Du brauchst mich jetzt nicht den Gymnasiarchos zu nennen, denn das bin ich außerhalb der Mauern, die dieses Heiligtum umgeben. Innerhalb der Mauern bin ich Gelehrter, wie auch du."
    Er wandte sich an die anderen.
    "Wir können hineingehen. Es sind alle da."
    Die Sonne hatte ihr tiefstes Rot angenommen. Bald würde es ganz dunkel sein. Es dauerte, so hatte Nikolaos oft bemerkt, in diesen Breiten weitaus kürzere Zeit als weiter nördlich, in Rom oder in Athen. Nikolaos in der Mitte gingen die Menschen, es waren vielleicht mit Penelope ein Dutzend, durch den dämmrigen Park auf einen kleinen Pavillon zu, der abseits der Mauern zur Straße hin in einem Zedernhain stand. Nikolaos schätzte diese Baumart sehr. Sein Landhaus war auch von Zedern umgeben.
    Sie erreichten das kleine, runde Gebäude. Auf eine Säulenhalle, die es umgab, führte eine hohe, doppelflügelige Tür hinaus, die Nikolaos nun öffnete. Einer seiner Schüler hatte rasch irgendwoher aus seinem Gewand eine Öllampe geholt, deren Flamme von einem Glaskolben geschützt war, der nur oben ein kleines Loch aufwies. Als die Flamme nun wieder frei atmen konnte, loderte sie sogleich auf. Mit dieser Lampe entzündete der Schüler einige andere Öllampen, die an der gewölben Wand des Raumes auf einer schmalen, umlaufenden Brüstung aufgestellt waren. Nach und nach wurde der Raum, ein hoher, kreisrunder Saal, erleuchtet.
    Zu erkennen waren nun steinerne Stufen in einer Größe, die eine Funktion als Sitzplatz nahelegte, zu sehen, die in einem Halbkreis um eine ebenfalls steinerne Kathedra am anderen Ende des Raumes angelegt waren.
    Ein anderer Schüler schloß die Tür ein Stück weit, ließ jedoch einen Spalt zwischen den Türflügeln frei, durch den der wohltuend kühle Abendwind in den fensterlosen Raum gelangen konnte. Draußen zirpten Grillen.
    Die Schüler hatten sich inzwischen ihrer Mäntel und Umhänge entledigt. Größtenteils waren es junge Menschen beider Geschlechter, aber auch einige Männer, die älter waren als Nikolaos.

    Ruhig erwartete der Gymnasiarch die Antwort des Mädchens. Er ließ sich Zeit, dem Mädchen, soweit es im Halbdunkel möglich war, tief in die Augen zu blicken, ehe er antwortete.


    "Dich ehrt deine Besorgnis um diese Dinge, und auch mir liegen sie meinerseits sehr am Herzen. Manche mögen über mich sagen, ich sei von der Macht besessen und von der Gier zerfressen. Ohne mir aber damit einen Lorbeerkranz flechten zu wollen, muss ich sagen, dass dem nicht so ist. Alles, was ich tue und was meine Ehre oder die anderer Menschen betrifft, was die Polis betrifft, und ja, was die Götter betrifft, tue ich in der festen Überzeugung, zum Guten zu handeln. Ob es gut ist oder nicht, mag ich nicht beurteilen.


    Doch nicht das Wohl oder die Ehre, nicht das Heil der Polis wird davon berührt, was zu sagen ich vorhabe. Es trägt im Gegenteil zur Ehrung der Götter bei."


    Er legte eine Pause ein und versuchte, an Penelopes Miene abzulesen, was ihr durch den Kopf ging nach seinen Worten.


    "Ich möchte eine Art der Betrachtung der Welt preisgeben, die weder anstößig, noch verboten, noch frevelhaft ist. Jedoch ist sie sehr wohl in der Lage, Menschen, die allzu sehr verwurzelt sind mit dem, was man allgemeinhin das Tagewerk, das tägliche Leben nennt, zu versuchen, vielleicht zu erschrecken."


    Wieder eine Pause und ein tiefschürfender Blick.


    "Die Halle, von der ich spreche, ist im Übrigen kein Verlies. Wenn du, entgegen meiner Meinung über dich, zu den Menschen gehörst, die ich eben ansprach, so kannst du zu jeder Zeit nach Hause gehen."