Beiträge von Nikolaos Kerykes

    Da ihm zu diesem Thema erst einmal nichts mehr einfiel, beschloss er, auf die Musik einzugehen. So scheußlich die Vorlesung in Musik gewesen war, so nützlich könnte sie ihm nun sein. Zwar war er auch zuvor nicht ungebildet in der Musik gewesen, schließlich gehörte diese Kunst zu den Grundbestandteilen einer guten Erziehung, jedoch hatte er sie lange vernachlässigt. So rief er sich wieder einige Grundelemente der Theorie der Musik ins Gedächtnis. Zwischendurch goss er neues Öl aus einem Bronzekrug in die Lampe.

    Nikolaos ging die Stufen der Vorhalle hinab und fuhr mit den Händen über einige Sträucher. Dabei verletzte er sich seine Hand an einem Dornenbusch, den er nicht bemerkt hatte, da er zwischen den anderen versteckt lag. Aus einem kurzen, schmalen Riss in der Haut quoll Blut, rot und glänzend wie reife Kirschen. Es tropfe auf die Blätter und mischte sich mit Tau. Gedankenversunken betrachtete Nikolaos dieses Schauspiel. Er hielt die Hand solange über einen junge Lorbeersetzling, bis kein Blut mehr hinabtropfte. Dann fuhr er sich mit der anderen Hand über die Stirn. Erst jetzt spürte er den stechenden Schmerz, als hätten sich Atome des Dorns abgelöst und säßen nun tief in der Wunde. Er schob die Hand unter seinen Chiton und presste sie gegen den Stoff. Die Lippen aufeinanderpressend stieg er die Stufen zur Vorhalle des Rundtempels hinab. Seine Schritte hallten.
    Er stellte sich vor ein Wandgemälde, dass die Geburt der Musen zeigte und wartete auf Drosos.
    "Ihr Musen, ich will euer ergebener Zögling sein."
    Hatte Euterpe ihm zugelächelt? Nun war ihr Mund wieder zu einem anmutigen Nichtlächeln verzogen. Sie hatte die Auloi im Mund behalten. Ihr Körper war weiß und zart. Ihr Kopf war mit Orchideen bekränzt.
    Kalliope schenkte ihm ein wohlwollendes Lächeln. Oder täuschte er sich? Ihre schmalen Lippen glänzten matt. Klio hingegen verzog verächtlich den Mund.

    "Und jedes Jahr steigt die mohnbekränzte Persephone aus dem Hades voller Freude, doch wehmütig, denn zwei Jahresdrittel später muss sie wieder zurück. Und jedes Jahr lässt sich der Bakhos zerreißen, damit aus seinem Blut die Erde neu wachse und sein Leib wächst wieder zusammen, seine Wunden heilen, nur damit er wieder zerrissen werden kann.", sagte Nikolaos. Er spürte ein fiebriges Frösteln. Drosos nickte. "So ist es. Und siehst du, auch wir Menschen sind nicht anders. Wir werden geboren, zeugen Kinder und sterben. Die Kinder werden geboren, zeugen Kinder und sterben. So geht es immer weiter, bis es einst vielleicht keine Menschen mehr gibt." "Glaubst du das?" "Ich weiß es nicht." Drosos sah Nikolaos nachdenklich an. "Du hast einen schönen Morgen gewählt, um den Musen zu opfern. Deshalb bist du sicher hier-" "So ist es." "Gut. Doch zuvor klopfe den Staub von deiner Kleidung und benetze deine Stirn mit Wasser. Nimm dazu den Tau, er ist ganz frisch, vor wenigen Nacht und kaum drei Tagstunden fiel er vom Himmel. Ich habe es miterlebt. Ich war seit dem Tod der Nacht im Heiligtum." Nikolaos reichte Drosos seine Opfergaben. Drosos nahm sie vorsichtig und behutsam entgegen. "Die Musen werden sich freuen. Sie haben eine Schwäche für menschliche Schönheit." Der Alte lächelte. "Ich danke dir, Drosos.", sagte Nikolaos. Drosos nickte und verschwand im Inneren des Heiligtums.
    "Verzeiht mir den Frevel, verzeiht mir meine Unwürde.", begann Nikolaos, als der Priester der Musen außer Hörweite war. "Nehmt meine Gabe an."

    Nikolaos hatte schon davon gehört, dass das Aufschneiden von Leichnahmen in Alexandria als wenig schlimm empfungen wurde, was wohl an der alten Sitte der ägyptischen Bevölkerung lag, den Toten die Eingeweide zu entnehmen und sie in seltsame Krüge mit den Köpfen der Götter zu legen. Jedoch war er selbst in dieser Hinsicht nicht ganz frei von Skrupeln. Ganz davon abgesehen, dass er den Missmut der Musen und des Apollons fürchtete, in deren Heiligtum diese frevelähnliche Tat vonstatten gehen würde, glaubte er nicht, dass es gut wäre, wenn man die Leiche der Witwe des Tychios mit einem Loch im Bauch präsentieren würde. Außerdem würden sicher viele nichtmedizinische Gelehrte des Museions laut Frevel! und Schande! rufen.
    "Wäre es möglich, den Inhalt des Magens aus einem Loch zu entnehmen, dass die Größe der Spitze eines Daumens hätte?", fragte Nikolaos vorsichtig. "Und dieses Loch so zu vernähen, dass es niemandem auffällt, der nicht davon weiß?"

    Nikolaos nahm den Fetzen entgegen und verstaute ihn sorgfältig in einer Ledertasche, die er unter seiner Chlamys trug. "Ich danke dir, Doros.", meinte er höflich. "Du warst mir bereits überaus behilflich. Momentan gibt es nichts, worum ich dich bitten würde, doch sicher werde ich bald auf dein freundliches Angebot zurückkommen." Nikolaos überlegte. "Eins fällt mir noch ein. Wäre es möglich, dem Leib des Totens den Inhalt seines Magens zu entnehmen, ohne ihn so zu beschädigen, dass es ein Frevel wäre?"

    "Chaire, Leonidas.", antwortete Nikolaos. "Mich freut, dich gleich anzutreffen, so kann ich sofort beginnen." Er schenkte Leonidas ein Lächeln. "Nun ist es schließlich wieder so weit, dass die Archonten gewählt werden. Da du in der vergangenen Wahlperiode gewissermaßen mein Kollege warst, würde es mich nun interessieren, was dir in Bezug auf Politik für dich persönlich in Zukunft vorschwebt."

    Nikolaos war überrascht über den plötzlichen Ausdruck von Zuneigung, den Antigonos ihm entgegenbrachte. Ein feines Lächeln zeichnetete sich auf seinen Lippen ab. War dieses Lächeln gar Ausdruck echter Sympathie? Nikolaos hatte es sich angewöhnt, mit seiner Freundschaft zu geizen. Doch diesem Jungen, Antigonos, konnte Nikolaos keinen missbräuchlichen Verwendungszweck zuordnen und somit konnte er ihm völlig ohne Hintergedanken entgegentreten. Ohne Hintergedanken? Doch, da war dieses stechende Gefühl von Neid. Worauf nur? Nikolaos hatte während des bisherigen Gesprächs nach Gründen gesucht und keine klaren Gründe gefunden. Er würde weiter suchen müssen.
    Es gefiel ihm, dass er offenbar einen weiteren Verstoßenene gefunden hatte.
    "In deinem Fall ist dieses Schicksal ungerecht", meinte Nikolaos. "Doch bei mir selbst habe ich Zweifel." Er sah den Jungen an. "Ich glaube nicht, dass irgendein Keryke je zu mir aufschauen wird.", meinte Nikolaos, mit einem Anflug von Bitterkeit. Dann lächelte er. "Mir reicht es, wenn ich in Alexandria Fuß fassen sollte.
    Auf die Antwort des Antigonos hin nickte er. "Ja, Athen ist im Grunde auch nur ein Bauerndorf mit ruhmreicher Geschichte. Ich vermutete, meine sich selbst als vornehm bezeichnende Sippe hat ihren Ursprung auch nur bei zu Wohlstand gekommenen Bauern."
    Hatte Antigonos ihn da gerade seinen Freund genannt? Nikolaos beschloss, in Zukunft noch besser auf die Worte und die Regungen des Antigonos zu achten.
    Mit der Bezeichnung Träumer hatte es sein Mitschüler gut getroffen, musste sich Nikolaos eingestehen. Antigonos hatte sein Gegenüber seinerseits wohl auch gut beobachtet. Eigenartigerweise schmeichelte Nikolaos dies. Antigonos schien mit sehr empfindlichen Instinkten ausgestattet zu sein. Dieser Umstand ließ ihn in Nikolaos Augen noch liebenswürdiger werden.
    Die Frage nach dem Grund seines Exils war Nikolaos sehr unangenehm. Er hatte noch nie jemanden darüber die Wahrheit erzählt, höchstens eine abgeschwächte und beschönigte Version der Wahrheit. Doch was Wahrheit war, konnten das im Grunde nicht lediglich die Götter wissen (und die auch nur teilweise und eingeschränkt)? Da die Sprache ein Instrument der Täuschung ist, ist doch im Grunde alles, was über sie vermittelt wird, Unwahrheit. So versuchte Nikolaos, die Geschichte wenigstens in die Nähe der Wahrheit zu rücken, doch dabei sich zu schonen.
    "Es ging um einen gewissen Menschen, der entfernt mit mir verwandt ist... ." Ein kalter Schauder durchzog Nikolaos. Ein gewisser Mensch. Er war feige. Er hätte sie beim Namen nenne können, diese diffuse Person, diese... Er hatte sie einst beim Namen genannt. In wessen Gegenwart? Auf diese Frage fand er keine Antwort mehr. Er war weniger vertrauensselig geworden. Doch Antigonos konnte er doch vertrauen? Aber Antigonos war Athener! Er kannte diese gewisse Person möglicherweise. Wahrscheinlich! Sie war ihm sicher ein Begriff!
    "Ich habe diese gewisse Person mit ihrer eigenen Mithilfe entehrt und ins Unglück gestürzt.", schleuderte sein Mund ohne seinen direkten Willen aus dem gequälten Hirn dem Antigonos entgegen. "Das Grausame ist, dass mir diese gewisse Person sehr wertvoll ist. Und dass ich nicht weiß, was aus ihr geworden ist." Da kam ihm ein toller oder gar tollwütiger Gedanke. Antigonos kam aus Athen - und war bis neun Monate nach Nikolaos überstürzter Abreise dort gewesen!
    "Hast du möglicherweise etwas über das Schicksal einer gewissen Kerkyra gehört...?", fragte er, beinahe ängstlich.
    Ich muss wahnsinnig sein, dachte Nikolaos voller Scham. Ich muss wahnsinnig sein... .

    "Eine Abstimmung über die Frage, ob die Wahl abgehalten werden soll, ist genau das, was ich bereits vorschlug." ,meinte der Strategos. "Ich stimme gegen die sofortige Durchführung von Neuwahlen und für die Abhaltung von Neuwahlen in einigen Wochen."


    edit: Rechtschreibfehler ausgemerzt, wäre ja peinlich für einen Strategos...

    Erschüttert sah Nikolaos der Frau nach. Hatte sie die Wahrheit gesagt? Wer sie war, würde er nie herausfinden. Nun aber musste er den Dingen, die sie ihm anvertraut hatte, ohne diese Gewissheit nachgehen. Nikolaos zog die Chlamys eng an den Leib und machte sich auf den Weg zurück in die Stadt. Zwischen Grabmälern ging er rasch in Richtung der Straße. Einmal streifte er mit dem Fuß flüchtig eine Gestalt, die an der Eisentür eines Grabmals lehnend schlief. Er erschauderte und setzte seinen Weg rasch fort. Er wollte so schnell wie möglich diesen unheimlichen Ort verlassen. Hoffentlich würde er zur Straße finden. Kein Diener hatte ihn begleitet, da er davon ausgegangen war, zusammen mit den übrigen Trauergästen zurück in die Stadt zu gehen. Nicht einmal eine Lampe hatte er dabei. So mussten seine Augen den Weg im fahlen Licht des Mondes und der Sterne suchen. Jedes unbestimmte Geräusch ließ den jungen Mann, der seit einiger Zeit für die Sicherheit der Stadt verantwortlich war, zusammenzucken. Ihm frohr. Es war tiefste Nacht geworden und die Wärme hatte den Weg zurück zur Sonne angetreten. Nun fiel Tau aus dem Weltraum und legte sich auf Nikolaos Haut.

    Nikolaos nahm die Neuigkeiten mit wachsender Spannung auf.
    "Erlaubst du, dass ich das Stück Tuch an mich nehme?", fragte er Doros. Er ließ diese Frage wirklich wie eine Frage klingen, auch wenn eher die Absicht einer Anordnung dahinter stand. Leider hatte Nikolaos gegenüber Gelehrten des Museions wenig Befugnisse. Allerdings hatte ihm der Eparchos so etwas wie eine Vollmacht ausgestellt.
    Der Schneider wird sich hoffentlich an den Kunden erinnern, dem er ein solches Gewand geschneidert hat, sofern ihm niemand verrät, was der Grund für die Frage ist, dachte Nikolaos. Aus diesem Grund gab er Cleonymus in Doros Beisein nicht die Anweisung, mit dem Stück Stoff zu Lysander zu gehen.

    Nikolaos dachte nach. Die Frage des Timokrates ließ in ihm ein Gefühl der Bedrohung erwachen. Der Wunsch, etwas Opium zu kauen, schwoll zu einem dicken Hirngeschwulst an, dass andere Gedanken zu lähmen schien. Doch Nikolaos riss sich zusammen.
    "Es ist sehr unwahrscheinlich, dass dies der Fall sein sollte. Die Verschwörer oder wie wir sie nennen wollen, scheinen mir eine mehr oder weniger private Räuberbande aus Stümpern zu sein. Das werden auch die Rhomäer einsehen."
    Er hatte die Ankunft des Quintus Octavius Augustinus Minor im Vorraum nicht bemerkt, da die Tür aus dickem Holz jegliche Geräusche aus dem Vorraum abhielt. Umgekehrt verhielt es sich natürlich genauso, weshalb Nikolaos auch bei derartig delikaten Themen die gewöhnliche Lautstärke seiner Stimme beibehielt.

    Grammateos:


    Der Grammateos war verdutzt. Schon zum zweiten Mal hatte ihn jemand als Strategos angeredet. "Hmm... Der Strategos spricht gerade mit einem Kollegen. Doch es kann sich nur noch um kurze Zeit handeln, bis er wieder Zeit hat. Wenn du möchtest, kannst du solange hier warten. Bitte, setze dich doch. Darf ich dir etwas zu trinken oder zu essen bringen lassen?"

    Nikolaos hatte den Blick des Timokrates bemerkt, wusste ihn aber nicht recht zu deuten.
    "Die Stadtwache steht für den Gerichtstag selbstverständlich zur Verfügung.", fügte Nikolaos hinzu. Dann fiel ihm noch etwas ein: "Ich hatte mit einigen meiner werten Kollegen bereits informell und privat über die Idee gesprochen, ein Theaterfest in Alexandria zu organisieren. Vielleicht wäre es vorteilhaft, es stattfinden zu lassen, nachdem die Verbrecher verurteilt sind *. Diese und natürlich auch der Mörder des Tychios und Frevler an den Musen und am Apollon. Der Bevölkerung würde eine solche Veranstaltung sicher gefallen. Auch würden die von den frevelhaften Verbrechen sehr aufgebrachten Götter beschwichtigt werden." Er legte eine bedeutungsvolle Pause ein. "Mein Vorschlag wäre es,dass du, ehrenwerter Eparchos und die Polis, dieses Fest gemeinsam ausrichten. Denn nur mit deiner Hilfe kann es ein Ereignis werden, das Menschen aus dem gesamten Imperium und darüber hinaus in die Stadt lockt. Was hälst du davon, ehrenwerter Eparchos?" Nikolaos sah den Eparchos an und sich anschließend in der Runde um. "Da das Koinon, wie ich sehe, glücklicherweise in seiner Gesamtheit hier vertreten ist, wäre es gut, wenn die Pyrtanen etwas zu diesem Vorschlag sagen würden. Falls Bedarf besteht, kann selbstverständlich zu diesem Thema auch eine Sitzung des Koinons einberufen werden."


    Sim-Off:

    *Die Auflösung des Museions-Falls hat zum Zeitpunkt der Audienz noch nicht stattgefunden.

    Nikolaos war zum Heiligtum der Musen gegangen, wie es Theodoros ihm befohlen hatte. Zuvor hatte er eine Kanne Wein, einige getrocknete Blüten und ein Päckchen Opium aus dem Schlafsaal geholt, die er den Musen als Opfergabe darbringen würde. Weihrauch war in diesen Tagen leider knapp. Ob es am Krieg lag, wusste Nikolaos nicht zu beantworten. Zwar nahm er jede Information darüber auf, die er von Händlern und Reisenden erhielt, doch ganz auf dem Laufenden waren wohl nur die rhomäischen Feldherren selbst.
    Nun stand Nikolaos in der Vorhalle des Heiligtums. Er sah an den Säulen hinauf zur hohen Decke. Ehrfurcht ergriff ihn. Vergessen war das Tagesgeschäft. Vergessen waren seine Pläne. Vergessen waren die lästigen Tagespflichten. Er betrachtete die Bemalung der Decke, der Säulen, der Wände. Geometrische und florale Muster waren dort, Eierstabsmuster, Spiralen, an den Wänden Szenen aus der Theogoie, die Geburt der Musen, Apollon mit seinen Schwestern auf dem Berg Helikon, Orpheus, verschiedene berühmte Männer der Künste, seltsame Kreaturen. Schon die Vorhalle leuchtete in grellen Farben. Wenn man nahe genug an die Mauern trat, konnte man eingeritzte Inschriften in ungelenken, kritzeligen Buchstaben erkennen.
    Philas besorgt es dir für drei Oboloi, denn Philas ist ein kleiner (durchgestrichen) - Hütet euch, Knaben, der Gelehrte Timon holt sich gerne Frischfleisch ins Bett - Es lebe der Basileus! - Livouthygatera lupa est - Hinaus mit den Rhomäern!
    Rasch wandte sich Nikolaos ab. Er schien allein zu sein. Er lenkte seine Schritte auf den Eingang zu. Es war in diesen Hallen noch stiller als in den Anlagen und Gebäuden um das Heiligtum herum. Nur der leise Widerhall
    seiner Schritte war zu hören. Auf einmal waren da weitere Schritte. Hinter einer Ecke kam ein unscheinbarer, alter Mann zum Vorschein. "Chaire, kyrie", grüßte Nikolaos ihn höflich. "Chaire.", antwortete der alte Mann und fuhr sich unwillkürlich durch den dünnen Bart aus feinen, silbrigen Haaren. "Mein Name ist Drosos. Sieh an. Ist es heute nicht ein schöner Morgen? Der Tau liegt noch auf den Blättern. Bald wird er wieder zum Himmel hinaufschweben, und in der Nacht wird er hinunterfallen. Solange wir Menschen sind, wird dieser Kreis nie unterbrochen."

    Schade, Timokrates war gar nicht auf seine Sticheleien eingegangen. Nun hatte er ihm sogar gewissermaßen den Wind aus den Segeln genommen und beschwichtigte ihn kaltblütig des Tobens, was zwar nicht ganz stimmte, denn Nikolaos war äußerlich ruhig geblieben, jedoch waren seine Worte eindeutig nicht sachlicher Natur gewesen. Nun hatte sich Nikolaos beinahe bloßgestellt. Das konnte er nicht auf sich sitzen lassen.
    "Ich tobe doch gar nicht, werter Timokrates. Und wie ich sehe, hast du dich auch inzwischen beruhigt. Das ist ein guter Umstand, so können wir nun über die Sache reden wie besonnene Männer. Natürlich werde ich dem Koinon Bericht erstatten. Das hatte ich ohnehin vor. Nun war ich aber leider vor der Audienz beim Eparchos nicht dazu gekommen. Im übrigen sind noch viele Dinge unklar, doch ich denke, für einen Zwischenbericht wird es reichen.", antwortete Nikolaos ruhig.
    Auf die Frage bezüglich der Nimbactus musste er überlegen.
    "Um ehrlich zu sein, ist mir darüber nichts bekannt. Doch sobald die Rhomäer die Gefangenen verhört haben, werden wir sicher in der Hinsicht einen Schritt weiter sein.", antwortete er mit gespielter doch sehr echt wirkender Freundlichkeit.

    Nikolaos hätte nur zu gerne das Streitgespräch noch weiter geführt. Er war gerade gut in Form. Spontan wäre ihm noch eingefallen:


    - Ach, du meinst den Gast, der bei der letzten Ekklesia in aller Öffentlichkeit den Basileus der Rhomäer, also deinen Herrn verhöhnt hat?


    - Aber Theodoros, habe ich dich denn nicht informiert?


    - Warum fällt dir erst jetzt ein, dass du etwas dagegen hast? Seit einigen Tagen wird hier ermittelt, und du müsstest davon wissen... .


    Jedoch war die Drohung, ihn aus dem Museion zu werfen, ein sehr deutliches Totschlag-Argument. So freute sich Nikolaos innerlich, dass er Theodoros aus der Fassung gebracht hatte, ihm gar eine Bitte um Verzeihung entlockt hatte (wenn auch von einer Drohung gefolgt) und tat einsichtig.
    Er setzte eine sehr echt wirkende Büßer-Miene auf und nickte ernsten Gesichts.
    "Sehr wohl, Theodoros. Bitte verzeihe mir.", sagte er leise und nun wirklich etwas eingeschüchtert. Als er die Stegé verließ, spürte er wirklich etwas wie ein Schuldbewusstsein in sich wachsen. Die grobe Behandlung des Gastes war wirklich dem Frevel nahe gewesen, und er hatte sie nicht nur geduldet sondern sogar eifrig daran teilgenommen. Seine Leidenschaften waren mit ihm durchgegangen, die Lust, sich an diesem seltsamen Mann zu rächen war größer gewesen als sein Verstand und nicht zuletzt sein Pflichtgefühl gegenüber den unsterblichen Göttern. Oh Nikolaos, du bist wahrhaftig ein Tor. Um der Befriedigung deiner intellektuellen Lüste willen beleidigst du die Musen und den unsterblichen Apollon.
    Sein Gesicht war noch fahler als sonst, als er in Richtung des Schreins der Musen ging. Seine Beine zitterten. Er war froh, diese Schwäche bei Theodoros noch nicht gezeigt zu haben. Er hasste es, schwach zu sein, doch in diesem Moment konnte er nichts dagegen tun.

    Schade, es wäre doch zu einfach gewesen... . Nikolaos biss innerlich die Zähne zusammen. Hermes, gib mir die richtigen Worte! Lass meine Zunge zu einem tödlich scharfen Dolch werden... . Nikolaos Nerven verlangten nach dem Saft des Morpheus.
    "Es wäre überaus dumm, das nicht zu tun, werter Timokrates.", säuselte Nikolaos. "Es steht dir frei, alles gegen mich und für deinen Wahlkampf zu verwenden, was Wahrheit ist." Er legte eine Pause ein und sah Timokrates durchdringend an. "Jedoch werde ich dich enttäuschen. Ich werde bei der nächsten Wahl nicht als Strategos antreten. Insofern kannst du die Gelegenheit natürlich nutzen, auf mein Bild als gewesener Strategos einiges an Schmutz zu werfen, wenn es dir Freude macht." Er lächelte eisig. "Nutzen wirst du daran nicht haben." Er legte eine längere Pause ein und betrachtete sein Gegenüber.
    "Welche Einzelheiten musst du so dringlich wissen, um deiner Pflicht als Eutheniarch nachzugehen?" Wieder eine Pause. "Stelle mir Fragen und ich werde sie beantworten. Oder soll ich dir den ganzen Vorfall einmal schildern?"