Beiträge von Nikolaos Kerykes

    Der Strategos erhob sich. Er war noch abgemagerter und bleicher als vor einiger Zeit. Trotzdem es ein warmer Tag war, hatte er sich in einen Mantel aus dickem Tuch in der Farbe des abendlichen Himmels über der Stadt gehüllt. Beim Aufstehen von seinem Sitz zitterte er, doch das konnten nur diejenigen sehen, die unmittelbar in seiner Nähe saßen.
    "Ich weiß deine Besorgnis um die Bewahrung der Isonomie zu würdigen, werter Archipyrtan. Auch ich stimme dir in der Hinsicht zu, dass es bald Neuwahlen geben sollte. Jedoch spricht vieles dagegen, die Neuwahlen schon jetzt abzuhalten." Die Stimme des Strategos war, trotz dessen offensichtlich geschwächter Konstitution, fest und klar. "Für mein Amt gibt es momentan wichtige Aufgaben, Aufgaben, die wichtig für die Sicherheit und den Frieden in der Polis sowie für die Freundschaft der Rhomäer sind. Diese Aufgaben müsste ich, falls ihr mich nicht erneut zum Strategos wähltet, liebe Polites, abrupt unterbrechen. Der kommende Strategos allerdings müsste sie weiter und zu Ende führen. Selbst wenn dieser ein fähiger Mann ist, und ihr werdet gewiss einen fähigen Mann wählen, wird er Schwierigkeiten haben, in die Angelegenheiten, die jetzt mich und dann ihn beschäftigen, hineinzukommen. Daher ist es nicht gut und sogar schädlich, das Amt des Strategos jetzt neu zu besetzen. Nun könnte jemand sagen: Dann besetzen wir das Amt des Strategos nicht neu und die anderen jedoch schon. Dies ist aber gegen die bewährte Tradition, liebe Polites. Also lasst uns ein wenig abwarten, vielleicht bis zur nächsten Ekklesia, vielleicht ein paar Tage nur, und dann die Ämter in einem Durchgang neu wählen. Es sei denn-" Er warf dem Archipyrtan ein spöttisches Lächeln zu. "-jemand möchte den Vorschlag machen, gewisse Archonten ihres Amtes zu entheben. In diesem Fall müssten natürlich diese Ämter oder auch nur dieses Amt neu verteilt werden."

    Sim-Off:

    Oh, da bin ich mit der Zeitebene durcheinander gekommen... .


    Nikolaos, der sich zuvor im Hintergrund gehalten hatte, trat nun zum Eparchos. Es war ihm peinlich, dass er es bisher versäumt hatte, seine Kollegen von den neuen Erkenntnissen zu berichten. Doch er ließ sich nichts anmerken. Mit einem passenden, ernsthaften Gesichtsausdruck meinte er:
    "In der Tat gibt es eine wichtige Neuigkeit, doch ich kam bisher nicht dazu, sie meinen verehrten Kollegen mitzuteilen, außerdem wusste ich nicht, ob es im Sinne des ehrenwerten Eparchos wäre, darüber schon Bericht im Koinon zu erstatten." Dass vor einigen Stunden bereits damit begonnen worden war, öffentlich zu fahnden, verschwieg der Strategos. "Das rhomäische Stratos, Beschützer unserer Stadt, sowie die Stadtwache sind auf die Spur einer Verschwörung gekommen. Es gab ein kleines Gefecht mit Aufständischen, die sich in einem Haus verbarrikadiert hatten. Die Ordnung konnte jedoch schnell wieder hergestellt werden, außerdem wurden einige der Männer festgenommen. Über einen Zusammenhang mit dem Frevel im Museion ist noch nichts bekannt."

    Nikolaos hatte seinem Mitschüler aufmerksam zugehört. Er fragte sich, inwiefern Antigonos ein Krüppel zu sein glaubte, doch er wollte ihn nicht fragen. Es wäre ihm übermäßig neugierig vorgekommen. Als er merkte, dass Antigonos das Thema unangenehm wurde, bohrte er nicht weiter nach. "Das ist ziemlich dumm und gemein von deinem Vater, doch auch ich wurde gewissermaßen verstoßen.", sagte er. Dieses "gewissermaßen" war eigentlich nicht angebracht, Nikolaos war verstoßen worden. Doch er wollte es nicht so hart ausdrücken.
    "Nun, ich stamme auch aus Athen, und meine Eltern und Geschwister leben dort auch. Ursprünglich jedoch stammt meine Familie aus Eleusis - " Er lächelte. "- doch das ist im Grunde ja nur ein Dorf bei Athen. Wie lange bist du eigentlich schon aus Athen fort? Mich würde interessieren, was es dort neues gibt. Ich war schon beinahe ein Jahr nicht mehr dort." Seine Mundwinkel zuckten kaum merklich. Es bereitete ihm bittere Genugtuung, über Athen wie ein Fremder zu sprechen. Eines Tages würde er eine Reise dorthin unternehmen, eines Tages... . Er blickte kurz zu einem der Fenster des Schlafraumes hinaus. Das Gebäude lag im Schatten von knorrigen, alten Zedern, deren Oberfläche der Rinde wie die faltige Haut sehr alter Menschen war. Solche Bäume konnten beinahe ein Jahrtausend alt werden. Nikolaos wandte seinen Blick wieder Antigonos zu und versuchte, in dessen Gesicht zu lesen. Das Gesicht des Antigonos schien Nikolaos nicht so zart und fein zu sein wie sein eigenes, sondern gröber, kräftiger und auch gesünder. Er beneidete, aus einem unbestimmten Gefühl heraus, den Jungen und hätte gerne gewusst, warum. Nikolaos rieb sich die Hände. Sie waren eisig, wie meistens. Er glaubte, er würde erfrieren, wenn er eines Tages sterben sollte. Doch wo? Das Wann kümmerte ihn weniger. Das lag in den Händen der Schicksalsgöttinnen. Er würde eines Tages eine Reise machen. Denn er wollte nicht in dieser stinkenden, brodelnden, schönen Stadt enden. Als er noch im engen, kleinen Athen war, war ihm die Vorstellung der Stadt des Gottkaisers wie ein Traum vorgekommen. Als er in der Stadt des Gottkaisers angelangt war, hatte er einen platt getreteten Haufen aus Ziegeln, Marmor und Schmutz vorgefunden und sich eingesperrt gefühlt. Dann hatte er von der Stadt des göttlichen Alexanders gehört, nicht zum ersten Mal, doch zum ersten Mal hatte ihn die Vorstellung begeistert. Und nun war er hier und den Zauber hatte schon nach einigen Monaten der Wüstenwind zernagt, und die Schönheit war im Sumpf zerfressen worden, die Lust im Meer ertrunken.
    Ein weiterer Blick zu Antiogonos holte ihn zurück in den Schlafraum der Schüler des toten Epistates. Nikolaos war ein Schüler des Epistates gewesen und hatte es, für wenige Augenblicke, fast für eine Ehre gehalten. Ein feines Lächeln zog sich über sein Gesicht. Die Welt ist lächerlich., dachte er. Und allem voran: Nikolaos Kerykes aus Athen.
    Vor dem Fenster schwirrten Schmetterlinge in Farben wie von einem Maler angerührt. Es gibt nur einen Trost, den Trost im Gelächter., dachte er. Ein Windhauch fuhr durch die Zedern, seine zarten Ausläufer durch die offenen Türen und Fenster des Schlafraumes. Sie dufteten nach Salz.

    Ich brauche Blumen/Kräuter und Balsam, sonst muss mein Iatros bald den Patienten Elephantendung auf die Wunden schmieren... . Ich nehme gerne auch größere Mengen. Der Handel kann SimOn auch schön ausgespielt werden.

    Nikolaos brauchte eine Weile, bis er sich innerlich beruhigt hatte. Dieses Mal war es Doros gewesen, der verhindert hatte, dass Diagoras die nach Nikolaos Meinung verdiente Lektion erteilt bekam. Doch Nikolaos beschloss, das nicht auf sich sitzen zu lassen.
    Nun aber musste er seinen Geist wieder reinigen und sich seiner Pflicht widmen. Er betrachtete den Leichnahm ausgiebig und lange. "Es dürfte doch sicher Möglichkeiten geben, den Leichnahm vor dem Verfall zu bewahren und dennoch dabei alle Spuren an ihm zu erhalten?", fragte Nikolaos. "Natürlich soll der Epistates bald ein würdiges Begräbnis erhalten, doch ich zögere, da sein Leichnahm die bisher einzige Spur ist, die wir haben." Doch warum war Sosimos so begierig, den Epistates schnell unter die Erde zu bringen? Sosimos, wer war das überhaupt? Nikolaos beschloss, sich den Namen zu merken.
    "Nun denn, Doros, gibt es noch weitere Auffällligkeiten an diesem Körper?", fragte Nikolaos. "Jede Kleinigkeit könnte von Bedeutung sein. Bitte zeige mir alles, was zu sehen ist." Langsam kam Nikolaos wieder in Richtung Ausgeglichenheit. Aber noch immer schmerzte es ihn wie ein lästiger Dorn im Fleisch, dass er lächerlich gemacht wurde, oder sich gar lächerlich gemacht hatte. Ihm war das unterdrückte Lachen des Doros nicht entgangen. Im Geheimen wünschte er sich, sein etwas taktloser Untergebener hätte nicht gezögert sondern den weiteren Frevel einfach in Kauf genommen. Zwar hätte dies für Nikolaos einen Stadtwachenmann weniger sowie viele lästige Fragen bezüglich seiner Kompetenz als zuständiger Beamter für die Stadtwache bedeutet, doch es hätte seine gemeinen Gelüste gegenüber dem Gelehrten vollständig befriedigt. Die Frage, zu welchem Preis, hätte sich später schon geklärt. Jedoch war auch Nikolaos ein sehr religiöser Mensch und ein Frevel wäre auch der Frevel an einem Frevler gewesen.

    Unwillkürlich griff Nikolaos nach der Gestalt. Als er sie am Gewandzipfel erwischt hatte, zuckte er wieder zurück. "Verzeih mir.", sagte er und ließ die Hand wieder sinken. Er schien nun mit der Gestalt ziemlich allein am Friedhof zu sein. "Ich will die Wahrheit enthüllen. Doch wie kannst du mir dabei helfen?" Er versuchte, ein Gesicht der Gestalt zu erkennen, starrte angestrengt in die Dunkelheit. Der Schatten der Kapuze verbarg das Gesicht vor Nikolaos Blick. Er versuchte, die Stimme einem Menschen zuzuordnen, den er kannte, doch es gelang ihm nicht.
    Allmählich wurde es wieder still auf dem Friedhof. Die letzten Besucher gingen in kleinen Gruppen in die Stadt zurück. Zwischen den Grabmalen heulten Schakale. Unheimliche Menschen, vielleicht Bettler aus der Stadt, kamen zum Schlafen in die Nekropolis. Zwischen den Häusern der reichen Toten richteten sich die armen Lebenden ein. Dieser Teil der Nekropolis verfügte über meist sehr aufwendige Grabmale wie das des Tychios, und in diesem Teil der Nekropolis schienen sich besonders viele finstere Gestalten herumzutreiben, wenn die letzten Trauergäste verschwunden waren. Nikolaos wäre gerne sofort in die Stadt zurückgegangen, um vielleicht noch Anschluss an eine der kleinen Gruppen zu finden, doch er war begierig, das Geheimnis der Gestalt zu erfahren. Oder war es gar eine Falle... . Nikolaos zuckte zusammen. Er hätte sich von einem Diener begleiten lassen sollen. Dieser Gedanke kam ihm plötzlich und ließ die Angst anschwellen. Er sah hinüber zur Familie des Totens. Wenn eine Frau und drei Kinder sich nicht schrecken lassen... . Er trat einen Schritt auf die Gestalt zu. Hoffentlich würde sie jetzt nicht plötzlich doch noch verschwinden.

    Nikolaos gebot Cleonymus mit einer Handbewegung einhalt. "Es reicht mir, wenn Diagoras auf der Stelle diesen Raum verlässt, damit ich weiter ungestört mit Doros sprechen kann.", sagte Nikolaos äußerlich eisig und innerlich vor Wut kochend. Er steckte das Payprus ein und beschloss, mit Theodoros bald über diesen Gast des Museions zu sprechen. "Und auch den Praefekten möchte ich heute nicht mit dieser Sache belästigen." Er bedachte Diagoras mit einem vernichtenden Blick. Dann wandte er sich freundlich an Cleonymus. "Sei so gut und begleite Diagoras nach draußen. Er scheint sich von selbst nicht von diesem Ort lösen zu können."

    Nikolaos hatte der Zeremonie etwas schläfrig gelauscht. Ihm fröstelte nun noch mehr, da das Grab geschlossen worden war. In seinem Kopf schienen Dämonen ihre Stimmen zu erheben. Ach wäre ich doch in Attika geblieben, ach! ach! Was ist, wenn mein Vater schon tot ist und meine liebe Mutter und ich weiß nichts davon? Verstoßen, verstoßen! Ein schlechter Sohn. Nikolaos, du schöner Knabe, willst du mit mir durch den Nachthimmel schwimmen wie durch einen schwarzen See unter Zedern?, hauchte Isis und er spürte Schwingen um sich gelegt, dann Krallen in seiner Brust. E iackhe, e iackhe... . Nikolaos hustete künstlich, um sich wieder in die gleiche Welt zu bringen, in der sein Körper starr stand wie eine Marmorstatue, deren Farbe schon abblätterte und, vor allem im Gesicht, den weißen Stein freigab. Ich sterbe!, dachte er und erschauderte.
    Und Isis verschwand beleidigt. Ich trage ein Kind von dir mit mir herum, Nikolaos., säuselte sie. Dann versank sie im schwarzen See des Nachthimmels.
    Ich werde sentimental bei Begräbnissen, das ist alles., redete sich Nikolaos ein.
    Eine menschliche Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. "Ja, der bin ich, doch heute bin ich nicht als Strategos hier sondern als Schüler.", antwortete er rasch. Er wollte sich eigentlich auf kein Gespräch einlassen, da er fürchtete, sein Verstand könnte dieser Anstrengung nicht gewachsen sein und ihn unvorsichtig in gefährliche Gegenden führen.

    Nikolaos musste auf die unverschämte Antwort des Diagoras hin noch viel stärker mit dem Verlangen ringen, ausfallend zu werden, als es zuvor der Fall gewesen war. Diagoras schien penetrant zu ignorieren, dass Nikolaos in seiner Amtstracht als Archont vor ihm stand. Und als Junge, der bereits die Ephebia hinter sich hatte, ärgerte Nikolaos das Wort "Junge" besonders.
    Doch dann kam endlich Cleonymus. Es hatte glücklicherweise nicht lange gedauert.
    "Chaire Cleonymus!", rief er erfreut aus. Voller Vorfreude gewissermaßen. "Der ehrenwerte Diagoras weigert sich, mir sein Interesse am toten Epistates zu erklären. Vielleicht ist er bei den Rhomäern besser aufgehoben... . Bitte sei so gut und geleite diesen ehrenwerten Herren nach draußen. Lasse ihn in der Basileia vorstellig werden. Wir werden sehen was der Eparchos von ihm hält. Aber warte, ich will ihm noch ein Empfehlungsschreiben mitgeben." Nikolaos zog ein Stück Papyrus sowie Schreibgerät aus einer Tasche in seinen Gewändern und schrieb eine kleine Notiz.


    An den Praefectus Alexandriae et Aegypti Decius Germanicus Corvus



    Salve Praefecte,


    es tut mir außerordentlich leid, dass ich dich mit derartigem belästigen muss, doch leider bleibt mir keine Wahl. Ich bitte dich, den Mann, der mit diesem Brief von meinem Mitarbeiter Cleonymus in deinen Amtssitz gebracht wird, der römischen Gerichtsbarkeit zuzuführen.
    Der Mann, Diagoras von Melos, hat sich der öffentlichen Verunglimpfung deiner Person sowie des Imperators schuldig gemacht. Während der letzten Ekklesia führte er unverschämte Reden, die diese Verunglimpfung zum Inhalt hatten. Alle Teilnehmer dieser Ekklesia sind dafür Zeugen.
    Ferner wagte es Diagoras von Melos, einen Amtsträger der freundschaftlich mit dem Imperator verbundenen Civitas Alexandria mehrfach zu beleidigen. Dieser Amtsträger ist meine Wenigkeit, als Zeugen sind Centurio
    Quintus Octavius Augustinus Minor, Cleonymus sowie einige römische Legionäre zu nennen, bei der zweiten Beleidigung der Iatros Doros von Pelusium.
    Außerdem hat er die Ermittlungen im Fall des Todes des Epistates des Museions durch sein Eindringen in die Räume des Iatros Doros von Pelusium während ich in meinem Amt die Leiche besah, behindert.
    Ich möchte zu behaupten wagen, dass diese Behinderung meiner Arbeit und dieses Interesse an den Umständen des Todes des Epistates möglicherweise verdächtig zu nennen sind.
    Diagoras ist meines Wissens erst kurz vor dem Tod des Epistates am Museion erschienen. Dieser Umstand ist ein weiterer Verdacht Erregender.
    Zwar ist dieser Verdacht weder dringend noch stichhaltig, doch allein die Tatsache, dass Diagoras mir schlicht lästig ist in meiner Arbeit (die beiden erwähnten Fälle von Beleidigung fanden während der Ermittlungen statt) als Strategos ist, lässt mich dich bitten, dass dieser unverschämte Mensch fürs Erste zur Vernunft gebracht wird.
    Desweiteren werde ich den Stellvertreter des Epistates bitten, diese Person aus dem Museion zu entfernen. Die Anwesenheit eines Mannes, der den Kaiser und seinen Stellvertreter, dich, öffentlich beleidigt, kann im Tempel des Apollons nicht geduldet werden. Vielleicht kannst auch du das Gespräch mit dem Stellvertreter, Theodoros Alexandreus, suchen.
    Bitte verzeihe mir die Unannehmlichkeiten, mit denen ich dich durch diese Sache konfrontiere.


    Auf deine Hilfe hoffend


    Strategos Alexandrinos Nikolaos Kerykes


    Nikolaos wartete auf eine Reaktion seitens Diagoras. Doch er würde nicht lange zögern, den Brief an Cleonymus weiterzureichen und ihm die Vollmacht zu geben, Diagoras fortzuschaffen.

    Nikolaos musste sehr mit sich ringen, um nicht ungehalten zu werden. Das Hereinplatzen des Widerlings hatte seine Nerven ausreichend belastet und nun wurde dieser noch im Angesicht eines Totens - wie sollte man es ausdrücken - lustig? Die Indiskretion dieses Mannes, der sich nicht scheute, einfach hereinzuspazieren, während das Opfer eines Verbrechens untersucht wurde, ließ Nikoloas im ersten Moment sprachlos werden. Dann jedoch fing er sich wieder.
    "Ich weiß, dass ich nicht im Tonfall eines Hausherren sprechen kann, denn das Hausrecht in diesem Nebengebäude besitzt Doros, das Hausrecht im Museion der Stellvertreter des Epistates, doch ich kann als Strategos dieser Stadt sprechen und der Strategos sagt dir, Diagoros von Melos oder wie auch immer du dich nennen solltest, dass du gebeten bist, deine Figur aus diesen Räumlichkeiten zu entfernen, anderenfalls wird der Strategos dieser Stadt dafür sorgen, dass du entfernt wirst. Bevor du jedoch gehst, sage mir mit welchem Anliegen du dir das Recht nimmst, einfach in die Beschauung einer Leiche hineinzuplatzen. Ich hoffe, ich brauche dir nicht erklären, dass du dich mit deinem eigenartigem Verhalten verdächtig machst. Falls du mir oder dem ehrenwerten Doros in meiner Gegenwart dein Anliegen nicht mitteilen möchtest, darfst du das natürlich auch gerne im Beisein von rhomäischen Soldaten tun.", fuhr Nikolaos Diagoros an. Dieser Kerl hatte ihm gerade noch gefehlt. Dann wandte er sich freundlich an Doros. "Erlaubst du, Doros, dass ich deinen Sklaven bitte, Cleonymus zu holen, damit er mit einigen Männern der Stadtwache kommt, um diese Person aus deinen Räumlichkeiten zu entfernen?" Die Möglichkeit, die ihm Cleonymus bezüglich des Diagoros eröffnet hatte, gewann für Nikolaos mehr und mehr an Attraktivität.

    Die Theorie der praktischen Aufführung der Tragödie


    Um eine Tragödie aufzuführen, also tote Worte lebendig zu machen, zu Klängen zu machen, sollte jeder Dichter und jeder Schauspieler wissen, worin ihr Wesen besteht, denn ohne die Erkenntnis dieses Wesens ist jedes Schauspiel ein unwürdiges Gezappel. Ich möchte mir nicht anmaßen, darüber zu urteilen, was das Wesen wirklich ist, das Folgende ist nur ein Vorschlag, der anzunehmen ist oder auch nicht. Denn ganz gleich welches Wesen man hinter der Tragödie vermutet ist es doch wichtig und unbedingt nötig, überhaupt ein Wesen dahinter zu vermuten, denn ansonsten dichtet und spielt man so, dass es nicht fesselt, sondern lediglich den Scharen der Theaterbesucher einen Vorwand bietet, ihre Körperlichkeit verdeckt von prachtvollen (oder weniger prachtvollen) Kleidern zur Schau zu stellen.
    So ist dies leider die Sitte oft in unserer Zeit. Der Rhomäer Pyblios Ovidios Naso schrieb vor etwa hundert Jahren über die rhomäischen Frauen: "Spectatum veniunt, veniunt spectentur ut ipsae", was bedeutet: "Sie kommen um zu sehen, sie kommen um selbst gesehen zu werden." Ob dies vielleicht nicht auch auf die Männer zutrifft, muss in Erwägung gezogen werden. Für die Rhomäer ist also das Theater offenbar meist nur ein Ausstellungsort ihres eigenen Körpers, ihres eigenen Reichtums, ihrer eigenen Geltung. Doch wie sieht es mit den Hellenen aus, in den von ihnen bewohnten Gebieten die Tragödie entstanden ist? Um nichts besser, ist die traurige Antwort.
    Um eine ungefähre Vorstellung vom Wesen der Tragödie zu erhalten, muss man nach dem Ursprung derselben suchen. Der oder ein Ursprung findet sich im Kult des Bakhos. Die Oden und Gebete wurden anfangs durch einen Chor gesungen, der von Musikanten begleitet wurde. Zu diesem Zeitpunkt gab es die Dinge, die Aristoteles als êthê bezeichnet, noch nicht. Einen mythos hatten allerdings diese Lieder, sie handelten vom Werden und Vergehen und Wieder-Werden des Gottes oder der Götter. Denn es ist zweifelhaft, ob nur oder insbesondere der Bakhos auf diese Weise angebetet wurde. Doch vor allem bei Dionysos gibt es jenen mythos über sein Werden und Vergehen, aus dem und dessen Variationen sich später andere mythoi entwickelt haben könnten. Kurz zusammengefasst ist also das Lied zur Anbetung der Götter die älteste oder eine der ältesten Formen der Dichtung.
    Später wurde nun diese Vortragödie zur Tragödie, indem sich einige Menschen aus dem Chor lösten und den mythos nicht mehr nur besangen sondern als Agonisten mit ihren Körpern darstellten. Vorläufer dieser körperlichen Darstellung sind vielleicht die Tänze, die allerdings noch keinen Gedanken ausdrücken, sondern lediglich primitive Gefühle.


    Zur Tragödie gehörte natürlich auch die Musik. Vielleicht sollte er die Ausbeute jener unerfreulichen Vorlesung auch verwenden.
    Nun stand die Frage nach der Form an. Wie sollte er das vermitteln, was er zu vermitteln sich vorgenommen hatte? Als Enzyklopedia der Tragödie, streng nach dem Alphabeth geordnet? Ein Aufsatz? Ein formloser Wortwulst? Ein Dialog: Ein Schauspieler erklärt dem Naturphilosophen/ dem Dichter (nein, das nicht!) /dem Lustknaben; oder besser: ein Priester erklärt das; und wem? Jedenfalls einem Unwissenden. Frage und Antwort, Antwort und Gegenfrage. Doch war das eine angemessene Form für ein solches doch recht praktisches theoretisches Werk?

    Typisch, Nikolaos war mal wieder als Letzter erwähnt worden... . Er spürte einen leichten Anflug von Groll gegen den Provinzschreiber. Zusammen mit den anderen trat er in die Aula ein, die ihm schon sehr bekannt war durch seinen früheren Besuche. Er hielt sich etwas im Hintergrund und wartete darauf, dass der Archipyrtan das Wort ergriff. Er selbst hatte eigentlich keine große Lust, dem Statthalter die unangenehmen Nachrichten zu überbringen.

    Der Strategos erhob sich, um den Statthalter zu grüßen. "Ich habe auch Interesse daran, die Namen der Getöteten und Gefangenen so schnell wie möglich zu erfahren.", sagte er ohne Umschweife. "In Kürze werden einige Einheiten der Stadtwache mit der Suche nach ihnen beginnen. Außerdem schlage ich vor, dass im ganzen Umfeld dieses Hauses, also noch weiter als der Kreis der abgerissenen Häuser, Hausdurchsuchungen vorgenommen werden. In Kürze wird weitere Verstärkung von der Stadtwache eintreffen. Ich habe vor, so viele Männer wie möglich für die Aufgaben, die mit diesem Fall zusammenhängen, abzukommandieren. Außerdem gedenke ich, wenn das Gröbste überstanden ist, diese Angelegenheit zum Thema des Koinons und einer Ekklesia zu machen, um die anständigen Bürger Alexandrias zu mobilisieren und darauf vorzubereiten, in Zukunft jegliche romfeindliche Umtriebe und seien es nur Äußerungen, zu melden. Denn schließlich kann es nicht im Sinne der Bürgerschaft sein, eine Rebellion in der Stadt zu haben. Da ohnehin wahrscheinlich inzwischen die ganze Stadt von diesem Vorfall weiß, man betrachte nur die Menge der Schaulustigen vor dem Haus, ist es meines Erachtens nach besser, die Angelegenheit so schnell wie möglich öffentlich zu machen, um keine Gerüchte aufkommen zu lassen." Er setzte sich wieder. Er spürte einen starken Schwindel und ein dumpfes Gefühl im Kopf. Der Raum, die anderen Männer, alles schien hinter einem Nebel zu verschwinden. Lange halte ich das nicht mehr aus, dachte er. Doch er ließ sich nichts anmerken.

    Der Strategos war bleich geworden. Seine Lippen zitterten, seine Mundwinkel zuckten. "Ich glaube, dies ist eine eindeutige Spur, auch im Fall des Todes des Epistates des Museions.", sagte er leise zu Cleonymus und dem Centurio, der ihm für die Ermittlungen zu Seite gestellt worden war, was ihn nun innerlich erfreute, denn ohne die Römer wäre dieses Versteck nicht aufgeflogen. "Das ist einerseits gut, andererseits könnt ihr sicher die Bestürzung nachempfinden, die mich ergreift, nun da in meiner Stadt eine Verschwörung von solchem Ausmaß stattgefunden hat. Gut, dass sie rechtzeitig aufgedeckt wurde... . Wer weiß, wer sonst außer dem Epistates noch den Tod gefunden hätte. Doch eines wundert mich. Diese Verschwörung ist gegen die Rhomäer und jene Menschen gerichtet, die, wie ich auch, den Rhomäern freundlich gesonnen sind. Der Epistates war, mit Verlaub, das genaue Gegenteil. Vielleicht also wird sich meine anfängliche Freude über eine Spur in diesem Fall bald auflösen. Mir fällt jedoch noch ein anderer möglicher Zusammenhang ein, doch ich möchte vorerst unbegründete Spekulationen nicht zu weit treiben. Ich danke dir für deine Hilfe, Centurio Quintus Octavius Augustinus Minor. Ohne die Wachsamkeit deiner Männer wäre diese hinterhältige Verschwörung nicht aufgeflogen." Er setzte sich auf einen Stuhl. Er war der Erschöpfung nahe. Er sehnte den Augenblick herbei, da alles aufgeklärt und abgeschlossen wäre. Doch nun musste er seine Pflicht tun. Er erhob sich wieder. "Die Männer auf der Mitgliederliste sind, wenn sie am Kampf teilgenommen haben und nicht verwundet oder getötet oder gefangen genommen sind, noch irgendwo in der Stadt. Cleonymus, beauftrage bitte eine Anzahl zuverlässiger Männer mit der Suche nach ihnen. Zwar gleicht diese Suche einer Suche nach Sandkörnern am Strand, doch je eher wir beginnen, desto größer ist die Chance, dass sie von Erfolg gekrönt sein wird. Außerdem würde ich dich bitten, meinen Grammateos hineinzuholen. Er soll die Listen abschreiben. Bitte beeile dich, ich brauche dich so schnell wie es möglich ist wieder hier."