Auf die Beteuerung hin nickte Nikolaos zuerst lediglich. Dann aber fügte er trocken und mit regungsloser Miene hinzu:
"Das sollte allerdings selbstverständlich sein, zumal ich mir nicht vorstellen kann, dass es euren Cousins gefiele, würdet ihr der Polis durch Ausplaudern von Dingen, die man besser nicht ausplauert und ähnlichen Dingen schaden."
Er ging langsam weiter voran. Sie waren nun fernab der Palästra und fern ab jener Säulenhalle, die ein Stadion in der Länge maß und als Laufbahn diente (schützte ihr Dach doch vor der sengenden Sonne.)
Als das Mädchen die Vorkommnisse am Basileia-Tor ansprach, verfinsterte sich Nikolaos' Miene.
"Ich möchte hier vorausschicken, dass Alexandreia nie eine freie Polis war. Ptolemaios und seine Nachfolger haben den Bürgern lediglich die Gnade erwiesen, das Land in dieser Form zu nutzen - ohne dass es jemals jemand anderem gehört hätte als den Ptolemaioi. Im Grunde ist die ganze Polis-"
Er war sich nicht sicher, ob er da Dinge verriet, die denkbar ungeeignet waren, Epheben auf ihre Pflichten vorzubereiten.
"-ein Theater, das die Ptolemaioi eingerichtet haben, um ihr griechisches und makedonisches Gefolge ruhigzustellen und sich dessen Treue zu versichern."
"Das heißt natürlich lange nicht, dass die Polis keine Polis ist. Denn dieses Theater ist sehr wichtig. Und auch die Polis ist wichtig, um das Gleichgewicht zu sichern. Dieses Gleichgewicht zu sichern ist ein großer Teil dessen, was ich mit den Verteidigungspflichten meinte.
Auch alle Herrscher - die Ptolemaioi und alle Römer - wussten um die Bedeutung dieses Gleichgewichtes. In einem gewissen Rahmen ist die alexandrinische Bürgerschaft wirklich frei und kann selbst bestimmen. Die meisten der Basileioi - ob nun Makedonen oder Römer- waren zudem überaus großzügig und haben die Stadt und ihr Umland gedeihen lassen und wenig Grausamkeit gegenüber den Bürgern an den Tag gelegt.
Die Stadt und die Bürgerschaft blühten gleichermaßen. Seht die prachtvollen Bauten, seht die blühenden Gärten. Der Handel brachte den Bürgern Wohlstand.
Dass durch den Wohlstand einige alte Tugenden zugunsten der Dienstbeflissenheit gegenüber den Herrschern litten, sei an dieser Stelle übergangen. Alexandreia war nie ein ehrwürdiges Athen, sondern immer die Hauptstadt eines Königreiches, wenngleich mit einer Bürgerschaft, die der König gewähren ließ.
Die Bürgerschaft dankte es ihnen, indem sie keinen Aufruhr schürte. Es gab in den vergangenen Jahrhunderten unter allen Aufständischen kaum Makedonen oder Griechen. Aufstände waren meist Aufstände der Aigyptoi oder der Fremden - und sie richteten sich weniger gegen den jeweiligen Herrscher als gegen alle Makedonen und Griechen. Neid war der Beweggrund dieser Aufstände, weiter nichts *.
Die römischen Basileioi waren meist sogar noch milder und nachsichtiger als die aus dem Stamm der Ptolemaioi. Und ihre Statthalter fielen der Polis kaum zur Last, ebensowenig die Soldaten*². Alexandreia gedieh weiter.
Nun aber ist es in letzter Zeit, seit der ehrenwerte Eparchos nicht mehr selbst auch das Kommando über die Legion inne hat, zu bedauerlichen Vorkommnissen gekommen: Teile des römischen Stratos sind auf der Agora aufmarschiert, direkt vor dem Tychaion, es kam zu Übergriffen auf Bürger der Polis, es kam zu überaus grausamen Drohungen gegen die Bürger der Polis - und gar gegen Römer! - , die Aufstände, die in der Zeit, als der ehrenwerte Eparchos gleichzeitig Legionskommandant gewesen war (und ich selbst Strategos), nur kleine, vereinzelte Aufruhre unter den Aigyptoi gewesen waren, mehrten sich. Uns, die Bürgerschaft Alexandreias, läßt man nicht mehr gewähren, sondern macht uns im Gegenteil für den Aufruhr des Pöbels der Aigyptoi verantwortlich!
Ich rede mich seither in jeder Volksversammlung gewissermaßen um Kopf und Kragen, um jene Bürger zu beruhigen, die die Ereignisse zu einer Art Feindschaft gegen die Römer bewogen haben.
Glücklicherweise ist der Eparchos selbst noch milde und nachsichtig. Aber das muss nicht ewig andauern, wenn die Lage sich weiter zuspitzt.
So ist es umso mehr die größte Bürde der führenden Bürger, das Gleichgewicht aufrecht zu erhalten, zumal dies immer schwieriger wird."
Er sah die beiden Mädchen abwechselnd prüfend an. Seine Drohung mit den Cousins war ernst gemeint. Er kannte die beiden noch nicht lange genug, um ihnen zu vertrauen. Andererseits wusste er um die Notwendigkeit, Bürger heranzuziehen, die die feinen Strukturen der Macht verstanden und jenes Gleichgewicht zu bewahren helfen würden.
"Ihr beide wollt die Ephebie durchlaufen. Wollt ihr dies lediglich des Ansehens wegen, oder wollt ihr in Zukunft auch zu jenen gehören, die das Gleichgewicht zu wahren versuchen?"
* Der "Neid war natürlich durchaus berechtigt. Häuften doch die Makedonen und Griechen, die alle höheren Beamten der Könige stellten und den Handel kontrollierten, unermesslichen Reichtum an, während die armen Fellachen bereits unmittelbar hinter der Khora unter der Last der Steuereintreiber litten und kaum zum bloßen Überleben genug von den Früchten ihrer Hände Arbeit behielten.
*² Die Fellachen indes litten unter den Römern sogar noch mehr als unter den Ptolemaiern, da die Steuern inform von Getreidelieferungen an Rom zu den vorher üblichen Abgaben hinzukamen. Die makedonisch-griechische Beamtenschicht, die nun nicht mehr den Ptolemäern sondern den Römern diente, sich ansonsten aber ähnlich verhielt, gab die höhere Steuerlast an die Aigyptoi weiter.
Griechen bzw. Makedonen und Römer hatten eigentlich - von den Ereignissen der letzten Zeit abgesehen -weniger Probleme miteinander. Plünderten sie doch in trauter Eintracht die armen Schichten des Volkes aus. (Und missgönnten dabei, in kluger Einsicht, dem jeweils anderem seine Pfründe nicht. Es blieb für beide genug übrig - die dritte Partei musste eben noch mehr abgeben.) Aber, obgleich das Elend ständig sichtbar war, so sah es Nikolaos nicht ein, dass sein prachtvolles Haus, seine schönen Kleider, der öffentliche Luxus der Polis mit dem Hunger der Fellachen bezahlt war.