Zitat
Original von Decima Lucilla
Kaum hatte Plotina endlich die nötige Selbstbeherrschung in sich gefunden und ihren eigenen Redefluss gestoppt, als sie ihren Mund auch schon wieder öffnen konnte. Denn Ambrosius, der Sklave der Lucilla, war nun mit den gewünschten Happen zurückgekehrt, und Lucilla reichte der Plotina auch gleich einen der beiden Spieße mit gebratenem Fleisch.
"Na, da bin ich ja gespannt! Wie gesagt, ich habe eigentlich nie viel Fleisch gegessen, aber dieses hier sieht wirklich gut aus! Und außerdem muss man sich doch auch kulinarisch weiterbilden, wenn man einmal seine Heimat verlassen hat."
Dabei lächelte Plotina und versuchte einen Verschwörerblick aufzusetzen. Dieser geriet ihr allerdings doch ein wenig gequält; zu hoch war der Preis gewesen, den sie hier in Rom bereits für ihre kulinarische Neugierde hatte bezahlen müssen. Nichts in der Welt allerdings hätte sie dazu veranlassen können, dieses äußerst peinliche Missgeschick jetzt hier vor Lucilla breitzutreten. Stattdessen schnupperte Plotina an dem Fleisch - und es roch wirklich verführerisch - und schob sich schließlich ein Stück in den Mund. Immerhin war es ja kein Fisch oder eine Meeresfrucht, und sie war mittlerweile wirklich hungrig geworden.
Im Gegensatz zu jenem unseligen Nachmittag in der Taberna war es Plotina diesmal auch vergönnt, in Ruhe zu essen, da Lucilla sehr interessant von ihren ersten - und eben auch kulinarischen - Erfahrungen bei Spielen erzählte. Plotina versuchte sich vorzustellen, wie es war, in einer großen Familien aufzuwachsen, und wieder einmal musste sie sich eingestehen, dass sie durch das Fehlen einer solchen Familie in ihrer Jugend etwas verpasst hatte. In diesem Fall schossen ihr aber keine Tränen in die Augen, denn sie ahnte, dass sie in anderer Hinsicht ihrer Gesprächspartnerin möglicherweise etwas vorausgehabt hatte.
"Ja, es muss schon sehr schön sein, wenn man ältere Brüder hat, die einen beschützen und auch ein bisschen verwöhnen. Als ich klein war, hat unsere Hausverwalterin manchmal ihren Sohn - oder war es der Sohn ihrer Schwester? - nein, ich glaube, ihren eigenen kleinen Jungen mitgebracht. Und wenn uns dann keiner beobachtet hat, haben wir natürlich auch was genascht. Und manchmal haben wir uns auch geprügelt, na ja, ein bisschen gerauft. Übrigens hab ich meistens gewonnen, ich war damals größer als er."
Plotina musste grinsen bei dieser Erinnerung. Außerdem schmeckte das Fleisch vorzüglich, und sie nahm einen Schluck Wein.
"Also, Lucilla, ein großes Lob an Ambrosius, das Fleisch schmeckt mir wirklich sehr."
Plotina spendete Lucilla und auch ihrem Sklaven ein anerkennendes Nicken.
"Ich bin auch völlig deiner Meinung, Lucilla, was den Verstand angeht. Wer davon nicht wenigstens ein bisschen hat, bei dem ist jedes Bildungswissen verloren. Das wollte doch auch, denke ich, Sokrates vermitteln, als er das scheinbare Wissen der angesehensten Männer Athens so in Zweifel gezogen hat."
O nein, Plotina bemerkte schnell, dass sie zum wiederholten Mal unterwegs in ein Fettnäpfchen war. Deshalb setzte sie sofort hinzu:
"Damit meine ich natürlich nicht Männer wie deinen Verlobten, natürlich nicht! Aber ich glaube, wir Menschen gewöhnen uns schnell an alles mögliche, und wenn es erst soweit ist, stellen wir das nicht mehr in Frage, ob es denn wirklich stimmt oder ob sich vielleicht bestimmte Verhältnisse verändert haben, ohne dass wir es bemerkten. - Na, Verstand schadet jedenfalls nie!"
Und damit prostete sie Lucilla fröhlich noch einmal zu.