Beiträge von Faustus Decimus Serapio

    Langsam hätte ich auch meinem Vater sagen wollen, und ich unterdrückte mit aller Macht ein respektloses Augenrollen, als er so schulmeisterlich die mir längst bekannten Parallelen zum Vierkaiserjahr anführte.
    "Dazu komme ich noch. Es ist viel passiert, und das dort in Syrien, das war ja nur der Anfang. Die Ergebnisse der Ermittlungen, die habe ich erst sehr viel später dann, als ich schon viel mehr wußte und viel klarer sah, in der Acta bekannt gemacht."
    Wo war ich gewesen? Ein Windstoß ging durch die vertrockneten Stauden. Unruhig horchte ich auf den Wind. War da war? Ich rieb mir die Schläfen.
    "Also... Syrien, was ich dort herausfand, erstens über die Verbindung Tiberius – Veturius – Cornelius, und zweitens darüber dass der Bürgerkrieg geplant und vorbereitet war, schon lange vor der Ermordung der Ulpier... das waren sozusagen die ersten Steinchen in dem Mosaik. - Ich konnte einiger Details ihrer Angriffspläne habhaft werden, und mußte Antiochia ziemlich überstürzt verlassen." Verdammte Legio-IV-Frumentarier.
    "In Rom angekommen übernahm ich dann die Ermittlungen zum Kaisermord. Verhaftet waren da natürlich schon alle Sklaven und Angestellten und Wächter in der kaiserlichen Landvilla. Sowie auch die der Villa Tiberia. Tiberius Durus selbst konnte nicht mehr verhört werden. Als die Garde unter dem Präfekten Terentius Cyprianus in sein Haus gekommen war, um ihn festzunehmen, hatte er die Mors Voluntaria gewählt und sich mit einem Familiengladius erstochen..... Von... von denen, die, ähm... ausserdem verdächtig waren... sind..."
    Selbst dieser klapprige alte Consular hatte das hinbekommen... Warum nicht ich? Ich fror. "...entschuldige bitte...die dem, ähm... Kreis der Verschwörer an.. anzugehören..." Ich fror bis ins Mark. Ein Zittern ging durch mich hindurch... denn jetzt hörte ich im Wind... die Keren... irgendwo heulten die Keren, ihr hungriges Fraßlied, und mir entglitten mit einem Mal die Worte, und ebenso entglitt mein Blick der wahren Welt und mir meine Umgebung.... Ich zuckte zusammen, meine Hand fuhr hastig zu der Grube hinter dem Schlüsselbein. Eisig wehten mich die Augenblicke an, in der Tiefe, im Dunkeln, als sich eine Spitze von kaltem Stahl da hinein drückte. Age dachte ich, Age dröhnte es in meinem Kopf, und meine Lippen formten stumm: Age.

    Etwas auftreiben. Ich nickte und drängte: "Ja, ich brauche wirklich was, und schnell." Ob ich Ruhe wollte, oder Seiana bei mir hätte ich nicht sagen können und zuckte hilflos die Schultern... ich hätte Ruhe gewollt, die mir auch Ruhe brachte, und meine Schwester bei mir, ohne ihr dabei ansehen zu müssen wie sehr sie selbst mit mir litt...
    Rache. Exempel. Ich schüttelte den Kopf. Auch meine kluge Schwester konnte ganz schön naiv sein.
    "Seiana. Cornelius mag pfundweise Kreide gefressen haben, aber das ändert nicht daran, dass er einer der Leute ist, die den Kaiser und seine Familie vergiften ließen. Der Mann hat nicht mal mit der Wimper gezuckt, als ich ihn mit seinen Verbrechen konfrontiert habe. Er ist vollkommen blasiert und skrupellos, und ganz sicher nicht so volltrottelig, dass er es sich einfach so entgehen ließe, den einzigen überlebenden Anführer des Widerstandes gegen seinen Staatsstreich öffentlich hinzurichten. "
    Nein, ein so kompletter Volltrottel hätte doch niemals die Macht über das Imperium Romanum an sich reißen können. Oder?! (Besser nicht darüber nachdenken, sonst platzte mir doch noch der Kopf.)
    "Ich habe ihn erpresst, Seiana. Ich habe ihm klargemacht, dass ich längst dafür gesorgt habe, dass, wenn er mich nicht in Ruhe lässt, die Beweise für seine Verbrechen allesamt vor dem Senat auftauchen werden. Dann bin ich gegangen und er hat es nicht gewagt mich aufzuhalten. Was auch nicht gerade für überragenden Durchblick spricht."
    Und was, aber das mußte ich wohl nicht laut sagen, keinesfalls sicherstellte, dass er mich auch in Zukunft nicht belästigen würde.


    Massa lebte noch. So losgelöst wie ich war, kam auch dies nicht so wirklich bei mir an, ich dachte lediglich, dass das eine sehr gute Nachricht war. Varenus in der Kanzlei. Das wiederum wunderte mich nicht. Livianus zum Konsul gewählt. Zum Konsul?! Was ich ihm sagen wollte?
    "Die Wahrheit, was sonst. - Zum Konsul." widerholte ich staunend. "Das... ist...... -" Und Aquila, der in meiner Erinnerung noch ein Bub war, zum Vigintivir. Die Zeit war an mir vorbeigerauscht. Während ich in einem schwarzen Verlies verrottet war, war das Leben draussen fröhlich weitergegangen. Und meine Familie... mein Gesicht verschloss sich, als diese Erkenntnis langsam an mich heran sickerte... meine Familie hatte sich offenbar flink mit dem Mörder-Regime arrangiert. Ich entzog meine Hand, ich hatte genug davon der zu sein, dessen Hand man halten mußte.
    "Ich... ich nehme an," sagte ich leise, und jedes Wort schmeckte wie Galle, "also... dann haben die beiden... haben sie sich wohl......öffentlich von mir distanziert. Oder?"
    Ich konnte Seiana nicht ansehen. Mit halb schrägem, halb gesenktem Kopf erwartete ich das Urteil. Ich sah nur die Webborte an ihrem Ärmelsaum. Die dumme Webborte. Ihr Muster füllte den Horizont. Jedes Detail davon prägte sich mir ganz tief ein.

    "So natürlich ist das nicht." antworte ich verbittert. Es war ja um so vieles leichter, sich von den Lügen der Palma-Trittbrettfahrer, mochten diese Lügen auch noch so idiotisch sein, einwickeln zu lassen, als der Wahrheit ins Auge zu blicken. Und so hoch ich meinen Vater schätzte... ich hatte auch Iulius Licinus hochgeschätzt, und Octavius Dragonum, und meine Stabsoffiziere bei der Garde... und als es hart auf hart kam, hatten sie alle ausnahmslos den Schwanz eingezogen.


    "Als die kaiserliche Familie ermordet wurde, war ich in Syrien..." begann ich, argwöhnisch in Livianus Zügen nach Anzeichen suchend, dass auch er seine Ohren bereits verschlossen hatte. "Da war ich noch Tribun bei der Garde. Es hatte Hinweise gegeben auf eine patrizische Verschwörung gegen den Kaiser. Der Konsular Manius Tiberius Durus stand im Verdacht, mit dem syrischen Statthalter Veturius Cicurinus zu konspirieren. Ich bin also nach Antiochia gereist, um dem nachzugehen..."
    Auch dies lag... zuvor, war Teil eines Lebens das ein anderer gelebt hatte. Vor meinen Augen stieg Antiochia auf, die Stadt der Lichter, das bunte Treiben und das zwielichtige Netz der Informanten, mit dem ein pflichtbewußter, den Blumen am Wegesrand nicht abgeneigter und doch fest an Rom und die Ehre seiner Soldaten glaubender Tribun Decimus Serapio mühsam nach Fakten gefischt hatte... bis dann alles auf einmal drunter und drüber ging.
    "Aber mein Auftrag wurde von den Geschehnissen überrollt. Noch vor der Nachricht von dem ungeheuerlichen Verbrechen, traf Appius Cornelius Palma in Antiochia ein... und begab sich mit dem Statthalter sogleich auf eine Rundreise zu den Standorten der Legionen. Dann zogen sie die Truppen in Antiochia zusammen, Cornelius ließ sich von ihnen zum Imperator acclamieren und hetzte sie dazu auf, mit ihm gegen Rom zu ziehen. 'Heute ist der Tag gekommen, an dem der Militärstiefel die Straße nach Rom betritt' sagte er zu ihnen."
    Mein Blick wanderte wieder ins hier. Ich fixierte meinen Vater. "Es war von langer Hand geplant." sagte ich eindringlich. "Das war keine spontane Erhebung! Tiberius und Veturius hatten den Aufstand in Syrien vorbereitet. Die Legionen sind Cornelius dann sofort gefolgt. Es war alles schon bereit für den Feldzug gegen das Herz des Reiches." Ich stockte. Hustete, und spuckte den Schleim hinter mir ins Gras. Es war anstrengend so viel zu sprechen. "Die Verschwörer haben... auf ihrem Weg zur Machtergreifung... diesen furchtbaren Bürgerkrieg nicht nur in Kauf genommen, verstehst du, Vater? Sie haben ihn sorgfältig vorbereitet und willentlich entfesselt. "

    "Vater." Mein Ton stand dem seinen an Kühle nicht nach. Nicht ein einziges Mal hatte er nach mir gesehen. "Schlecht." antwortete ich aufrichtig.
    " - ....Und dir?"
    Ravdushara hatte mir von seinem Wahlsieg berichtet. Ich sollte wohl gratulieren – es war sicher ungemein schwierig gewesen, gerade jetzt, es war der höchste Gipfel den ein Politiker nur zu erklimmen vermochte, und mal ganz abgesehen von Ruhm und Ehre brachte es unserer Gens natürlich auch Sicherheit, die wir zur Zeit dringend nötig hatten... - aber ich sah hier vor allem eines: dass mein Vater keine Zeit verloren hatte, sich in ein Unrechtsregime einzugliedern!
    "Geht." sagte ich zu den Sklaven. Und zu Ravdushara: "Wir wollen ungestört sein." Sie entfernten sich. Mein Nabatäer würde ein Auge darauf haben, dass keiner in der Nähe war, der uns belauschen oder etwas aufschnappen konnte.


    "Ich will dir berichten, was geschehen ist, während du in Hispania warst." stellte ich betont nüchtern fest. Dann biss ich mir auf die Lippen, und nervös zog ich die Ärmel meiner langärmeligen Wintertunika über die Hände. Es war ein Graus... ich war nicht mehr jung, ich war weitgereist, hatte vieles gesehen und vieles bewirkt und schwere Entscheidungen getroffen, hatte die Elitetruppen des Reiches kommandiert, und eine Zeitlang große Macht besessen und wieder verloren... und kam mir unter dem strengen Blick meines Vaters trotzdem nicht viel anders als früher vor... sehr viel früher als ich noch ein Junge war.
    "Willst du es hören?"

    ...lies ich auf den Rost über der Glut rieseln, und sog den süßen Rauch ein. Das half ein wenig. Glättete diese Unruhe. Aber verdammt kalt war mir noch immer. Trotz der zwei Kohlebecken, die die Sklaven neben mir aufgestellt hatten, trotz des angewärmten Backsteins zu meinen Füßen, und der Wolldecken, die über mich gehäuft waren. Die Kälte... die klamme, schimmlig stinkende Kälte des Verlieses lies sich nicht so einfach verjagen. Vergeblich zog ich die Decken fester um mich. Fröstelte. Trotzdem war es besser hier draußen. Ohne die Mauern des Zimmers so eng um mich herum konnte ich freier atmen.
    Der herbstgraue Himmel war weit...Ein welkes Blatt trudelte dort im Luftstrom dahin, auf und ab... Es war von lebhaftem Rot. Ich verfolgte es mit den Augen, bis es neben dem Springbrunnen zu Boden fiel, und ich dachte dabei, dass der Gärtner es aufkehren würde, und dass es dann in einem großen Haufen von Herbstlaub alsbald seine Farbe einbüßen und vermodern würde.


    Die Kline stand im hinteren Bereich des Gartens, neben den Zypressen. Hier war es ruhig und abgeschieden. Das war gut. Ich legte nämlich gerade eigentlich keinen Wert auf die Gesellschaft meiner Familie... auf diese ungute Mischung von tiefer Betroffenheit, aufopferungsvoller Fürsorge und nicht ausgesprochenen Vorwürfen.
    Neben mir stand in Giffreichweite die armlange Kiste für den Fall dass... Ich hoffte dass diese Vorkehrung unnötig war. Aber ich würde mich ganz sicher niemals wieder einsperren lassen.
    Daneben hockte mein Sklave Ravdushara auf einem Schemel. Ravdushara hatte in diesen tristen Tagen einen großen Vorteil... seine Befindlichkeit behelligte mich nicht. Er saß einfach da, mit einem Haufen Notizen, und redete und redete ohne Unterlass. Ich mußte wissen, was in der langen, langen, langen Zeit seit meiner Gefangenahme überhaupt in der Welt, im Kriegsgeschehen, in der Stadt, und in der Familie natürlich geschehen war. Er berichtete ganz kühl und sachlich... und immer wieder überwältigte mich der pure Unglaube angesichts dessen was er sagte, war ich wie benommen vor dem enormen Ausmaß an Feigheit, Verrat und Hinterfotzigkeit, das dieser beschissene Bürgerkrieg über dem Imperium Romanum ausgekippt hatte.


    Es fiel mir aber schwer mich zu konzentrieren. Auch wenn ich kein Fieber mehr hatte, und dafür seit dem Hanf wieder etwas Appetit, und auch wenn ich heute eine ganze Runde allein durch den Garten gegangen war, und der Husten sich langsam löste... Ich konnte nachts nicht schlafen. Der Nebel waberte immer noch in meinem Kopf, gab den Dingen immer wieder unheimliche, verzerrte Halb-Konturen. Ich war fremd hier, wie ein Reisender der schon im Aufbruch begriffen ist, und den die Dinge eigentlich nichts mehr angehen.
    Ravdushara war verstummt, bemerkte ich. Ich rieb mir die Augenbrauen, die Nasenwurzel. Dann gab ich mir einen Ruck, und schickte den Sklaven los. Es war an der Zeit, endlich mit meinem Vater zu sprechen. Aber was ich wußte, und womit ich meine Freiheit erpresst hatte, war ein glühendheißes Eisen. Ich würde Livianus gewiss keinen Gefallen damit tun, ihn einzuweihen. Falls er mir überhaupt glauben würde.

    "Hola." Ich setzte mich auf, die Decke um die Knie herum festgezogen, bemerkte erst jetzt, dass ich sie aus dem Schlaf gerissen hatte. Meine tapfere große Schwester. Sie sah echt fertig aus. Ich rieb mir übers Gesicht. Zuckte die Schultern. Keine Ahnung wie es mir ging. Leer irgendwie.
    "Ich hab das alles so satt. - Hast du zufällig was zu rauchen?"
    Ohne dich wäre ich nicht mehr hier dachte ich. Meine große Schwester. Der einzige Mensch, auf den ich mich immer verlassen konnte. Sogar in den Carcer hinabgestiegen war sie, um mir Zuversicht zu schenken, und hatte mich gepflegt und meine Albträume vertrieben, jetzt, unermüdlich, auch wenn sie dabei selbst immer grauer im Gesicht wurde. Ich schluckte, kämpfte gegen eine Welle von... warmer Bewegtheit, die hart gegen die steinerne Kuppel brandete, die sich um mich herum gebildet hatte... solche Wellen, das war mir klar, würden einen ganzen Orkan von Aufruhr mit sich bringen, und das konnte ich nun wirklich nicht gebrauchen.
    "Aber du mußt echt nicht die ganze Zeit hier... die Zeit totschlagen." sagte ich nervös. "Es geht mir ja schon besser." Ich bemerkte, dass ich das Laken in den Händen knetete...
    "..... was ist überhaupt los mit der Familie? Hast du Nachricht von Massa?! Und ich muß ... ich muß weg hier, ich bringe euch alle in Gefahr, allein durch mein Hiersein! Ich muß mit Vater sprechen... dringend..... - aber er glaubt mir ja sowieso nicht. Ach zum Hades...!!!"

    Wie ein wandelnder Toter schleppte ich mich durch die Gänge des Hauses. Ich wollte niemanden sehen und mit niemandem sprechen, aber ich hielt es einfach nicht mehr aus, immerzu das Krankenlager, immerzu die Wände meines Zimmers, immerzu meine treusorgende und jeden Tag selbst ein Stück fahlere Schwester.
    Das kleine Stück Weges bis zum Balneum zehrte schon an meinen Kräften. Dort angekommen sank ich nur auf die angewärmte Steinbank, und überließ es Ravdushara mich zu entkleiden. Ja, tatsächlich, Ravdushara war immer noch hier. Ich hätte ja erwartet, dass er sich während der Zeit meiner Gefangenschaft längst aus dem Staub gemacht und in Sicherheit gebracht hätte... mit meiner Barschaft oder so... aber da war er, und temperierte mir gerade sorgfältig das Badewasser. Vielleicht war er loyaler als ich dachte? Oder einfach nur zaghafter als ich dachte.
    Glück für ihn jedenfalls, dass ich ihn nicht nach Vicetia mitgenommen hatte. Wie Kieran. Der war da gestorben. Wie so viele. Der schöne Gladiator.


    Ich stieg ins Wasser. Das erste Bad seit.... ich wollte gar nicht daran denken wie lange. Aber ich kann nicht sagen, dass ich es besonders genoss. Die Wärme tat ganz gut. Aber sie reichte eben auch nur an die Oberfläche. Unruhig fuhr mich mit den Fingern durchs Wasser. Es war mir ein Graus, meinen bleichen abgemagerten Körper anzusehen. Und die lange Wunde an meiner Brust... die sich jetzt wandelte, zu einer fleischfarben glänzenden, häßlich schwellenden Narbe... war ein Schandmal. Ich schloß die Augen und tauchte ganz unter. Einfach mit dem Wasser verschmelzen. Das wärs. Mich auflösen. Nicht mehr sein.
    Ich tauchte auf, als mir die Luft ausging.
    Ravdushara fuhr mir dem Schwamm vorsichtig über den Rücken, wusch mich von Kopf bis Fuß, bis nun wirklich auch die allerletzte Spur Kerkerdreck aus meinen Poren verschwunden war. Früher hatte ich selten solche Gelegenheiten ausgelassen über ihn herzufallen, aber heute war mir so entschieden gar nicht danach.
    Ich setzte mich auf den Rand, und ließ mir von ihm Nägel und Bart stutzen. Danach brachte er mir einen Spiegel. So sah ich zum ersten Mal nach der Katastrophe mein Gesicht. Und erschrak zutiefst vor dem bleichen, hohlwangigen Mann, der mich finster daraus anstarrte. Seine Augen lagen tief in den Höhlen. Seine Schläfen wurden schon grau. Verschwunden die unverwüstliche Jugend, die früher seine Züge belebt hatte. Jetzt sahen sie alt und abgenutzt aus. Bitte wandte ich den Blick ab.


    Warum nochmal hatte ich im entscheidenden Moment nicht zugestoßen? - ... Etwa, damit ich weiter die Wahrheit verbreiten konnte? Wozu?! Sie war doch schon längst bekannt.... und ohne Resonanz verhallt... in einem Rom, dessen Bürger sich dafür entschieden hatten, Augen und Ohren fest zu verschließen und sich ihr bequemes Opportunistenleben unter dem Kaisermörder nicht durch so was lästiges wie die Wahrheit stören zu lassen. Selbst mein alter Kamerad Licinus, den ich immer für so aufrecht gehalten hatte, selbst er hatte sich dafür entschieden. Trägheit, Feigheit, persönliche Gier, Duckmäusertum und Kleinmut hatten auf ganzer Linie gesiegt...

    Meine Tage vergingen in grauer Verzweiflung. Ich hustete und fieberte und duldete niemanden ausser meiner Schwester bei mir. Nachts verwandelten sich die Wände meines Zimmers in die Mauern des Kerkers, und rückten enger und immer enger zusammen, ich erwachte dann schweißgebadet von meinen eigenen Schreien, glaubte, dass die Mauern mich zwischen sich zermalmt hatten. Oder die Geister meiner gefallenen Kameraden suchten mich heim... und fragten vorwurfsvoll, warum ich denn noch immer nicht zu ihnen gekommen war. Oder ich träumte von dem Garten in dem ich mit den anderen Soldaten stand, und dem Heulen der Keren, und von dem schwarzen Schacht, in dem etwas unsagbar schreckliches lauerte... dieser Traum verfolgte mich schon so lange, er war "alt", und doch war er der schlimmste von allen.


    Ich war in jeder Hinsicht am Ende. Das einzige was mich in diesen Tagen irgendwie festhielt war meine Schwester.... und dass einzige was überhaupt noch klar war - in diesem beschissenen Scherbenhaufen zu dem der Wahnwitz der Schicksalsgötter meine Existenz zertrümmert hatte - das war, dass ich Seiana nicht schon wieder im Stich lassen durfte.
    Ich fürchte allerdings, dass ich ihr ihre Liebe und Fürsorge in dieser Zeit schlecht vergalt, denn wenn ich nicht in einem weit entfernten Dämmerreich verschollen war, dann brütete ich düster vor mich hin, und erwehrte mich gereizt übermässiger Zuwendung. Auch der unserer guten Köchin Candace, die ihr bestes tat, und mir alle Varianten von Krankenkost zubereitete, dazu die Speisen, die ich früher besonders gerne gemocht hatte. Sie briet Seezunge und Sepia, sie kochte Muschelsuppe und buk Perlhuhnpastete und Pistazienkuchen... Aber nachdem ich so lange nichts gegessen hatte, widerstrebte es mir einfach, etwas zu mir zu nehmen, ich hatte keinen Appetit und mir wurde immer schon nach ein paar Bissen schlecht (was Candace nachhaltig kränkte).


    Trotzdem ging das Fieber vorüber, und irgendwann war ich dann nicht mehr länger so schwach wie ein Schluck Wasser, sondern nur noch so schwach wie ein neugeborenes Kätzchen, und schleppte mich zwischendurch wenigstens mal selbst ins Balneum.
    Wie mir dies alles zum Hals heraushing...
    Wie unendlich überdrüssig ich dessen war...
    "Seiana?"

    Der Druck ihrer Hand hielt mich fest. Deutlich sah ich, Furcht war in ihr Gesicht getreten, und ich dachte... irgendwo weit weg... dass ich auch daran schuld war, und dass ich etwas tun sollte, um meiner Schwester nicht auch noch diese Last aufzubürden. Doch auch dies verlor sich in dem trüben Nebel von Erschöpfung und Verzweiflung. Mechanisch streichelte ich ein paar mal über ihre Hand hinweg.
    Mein Vater ging nicht auf das gesagte ein. Anscheinend wollte er mich schonen, suchte zu beschwichtigen. - ... Glaubte er mir nicht? Nicht einmal er?!! Ich ließ den Kopf sinken. Die Beklemmung schloß sich wie ein eiserner Ring um meine Brust. Nein.
    "Nein." sagte ich mit erstickter Stimme. "Das ist nicht alles was zählt."
    Langsam zog ich meine bleischweren Beine hoch auf das Bett. Geschafft. Streckte mich dann darauf aus. Und schloß die Augen. Der Dreck war mir egal. So ziemlich alles war mir egal. Ich wollte einschlafen und nie wieder aufwachen. Und apathisch ließ ich auch jedwede Säuberungsaktion über mich ergehen. Nur als die Wunde an der Brust (die beschämend flach aber schlecht heilend war) versorgt wurde, zuckte ich schmerzlich zusammen. Dann driftete ich wieder weit fort. Ganz weit.

    Ich fand mich in einer unerwarteten Umarmung wieder. Aber irgendwie war mir auch das gerade zuviel, etwas in mir sträubte sich gegen all diese plötzliche familiäre Nähe und Wärme... und das Mitleid.
    Hölzern lehnte mein Kopf an der Brust meines Adoptivvaters. Ich schloß die Augen und atmete schwer aus, und selbst jetzt bohrten sich die bitteren Gedanken wieder unaufhaltsam an die Oberfläche, und ich begann mich vehement zu verteidigen gegen eine Anklage, die Livianus gar nicht ausgesprochen hatte (noch nicht). Er war offen ein Feind von Vescularius gewesen. Ich hatte mich - nach reiflichem Abwägen! - trotzdem dafür entschieden, mich auf dessen Seite zu stellen. Aber Livianus durfte nicht glauben, dass ich deswegen so geworden war wie diese postengeilen, unfähigen Schmeichler, die wie die Schmeißfliegen um Vescularius herumgeschwärmt waren!
    "Vater..." murmelte ich dringlich, "bitte versteh mich... ja, ich habe für Vescularius gekämpft, aber ich habe das getan, weil er... verglichen mit diesem verfluchten Kaisermörder und Kriegstreiber...noch immer das... weil er das bedeutend kleinere Übel für Rom war... Bitte glaub mir, die Ermittlungen, das war keine Propaganda... nun, die... die Art der... Formulierung vielleicht schon, aber der Inhalt nicht... es ist wahr... ich habe versucht...weil... und...ich..." ...verlor den Faden. "Aber es ist mir nicht gelungen." Nein.
    Erst jetzt nahm ich meine Schwester wirklich wahr. Ich sah hinab auf meine Hand, die schlaff in der ihren lag, dann in ihr Gesicht, starr und als hätte ich sie noch nie gesehen.
    "Du bist frei. Ich bin... sehr froh dass du frei bist." sagte ich ausdruckslos. "Wie bist du...? ... Manius... hat uns doch auch im Stich gelassen...." Schleppend kamen die Worte, dann wieder Husten. Ich war so müde. Jedes Wort eine Mühsal. "... was du gemeint hat... nichts sagen... das konnte ich nicht. Aber dann... habe ich das Schwein erpresst... und bin gegangen..."
    Wenigstens ein einziges Mal, war das Wissen, das ansonsten nur Unheil brachte, zu etwas gut gewesen. Restlos erschöpft fuhr ich mir fahrig über die heiße Stirn. Jetzt hatte ich meine Schwester gesehen und sogar meinen Vater. Das war mehr als ich hätte erhoffen dürfen. War damit nun... alles vorüber? Argwöhnisch irrte mein Blick umher suchte in den Schatten nervös nach den ersten Anzeichen von Zerfaserung zu Strängen und Worten...

    Der Hall der Schritte... Schritte ebenso laut und forsch wie die der Wärter... Schritte, die in sich jedesmal die Drohung bargen, dass sie mich nun doch zum 'Verhör' holten... ließ mich heftig zusammenfahren. Ich krallte die Finger in meine Knie, sah dem Eintretenden furchtsam entgegen, und erst als er meinen Namen aussprach glaubte ich daran, dass es kein Henkersknecht war...
    Ich starrte ihn an. Bemerkte wie er förmlich vor mir zurückschreckte... was absolut kein Wunder war... und ich dachte, dass es sehr gut war dass mein Vater hier war, und ich wartete darauf, dass ich die Erleichterung und die Freude verspüren würde, die diesem Wiedersehen mit meinem geliebten und verehrten Vater angemessen waren... aber alles, was durch die Taubheit, die Fühllosigkeit in meinem Inneren, drang, war: Scham. Ich schämte mich zutiefst. Dafür, dass er mich so sehen mußte. So vernichtet. Dafür, dass ich nach verlorener Schlacht überhaupt noch am Leben war. Es wäre meine Pflicht gewesen, ein Ende zu machen, aber ich hatte zu lange gezögert, den Moment als ich es gekonnt hätte versäumt... und nun war ich hier, ein Fremdkörper in diesem Haus, eine Beleidigung für Augen und Nase, und brachte meine Familie allein mit meiner Anwesenheit in Gefahr.
    Sein Gesicht lag im Schatten. Ich sah nur seinen Umriss, seine Haltung.
    "Vater." sagte ich mit erstickter Stimme und wandte den Blick zu Boden.
    Als hätte es all die Jahre nicht gegeben, alles was ich errungen und erreicht hatte war einfach ausgelöscht.... und dies hier erinnerte mich schlagartig ganz fatal an die Situation damals, vor so unendlich langer Zeit, als Livianus mich vom Weg abgekommenen Adoleszenten aus dem Kerker der Urbaner herausgeholt hatte. "Es... wiederholt sich." flüsterte ich. Nur dass es damals ein neuer Anfang gewesen war, und jetzt das Ende. Ein bitteres Lachen stieg abgehackt, von einem feuchtem Knistern begleitet, aus meiner Brust, und meine Schultern zuckten krampfhaft.

    Angefangen mit Ephialtes... waren da mit einem Mal lauter bekannte Gesichter und stützende Arme, teilnahmsvolle Mienen und besorgte Stimmen... alles viel zu nah an mir dran. Sie brachten mich ins Haus... immerhin stand es noch... und erst in meinem Cubiculum ließen sie mich endlich wieder los. Hustend sank ich auf das Bett. Ja. Nun war ich wieder hier. War ich? Oder lag ich noch immer auf der Pritsche in den Tiefen des Kerkers und träumte einen verzweifelten Traum vom Freisein... ein Traum in einem Traum in einem Traum durchfuhr es mich, ich zuckte zusammen, riss die Augen weit auf, starrte auf meine Hände, ja, ich erwartete dass meine Umgebung und ich selbst im nächsten Augenblick zu einer Halde von Buchstaben zerrinnen würde... tat sie aber nicht, tat ich nicht, ich schien... für den Moment jedenfalls... da zu sein, und das mit den Buchstaben war natürlich nur ein Fiebertraum gewesen...?
    Mir war auch so verteufelt heiß, glühendheiß hinter den Augen, und zugleich fror ich, ein Beben von innen, die widerliche, klamme, faulige Kälte des Kerkers hielt mich weiter umfangen, ebenso wie die Mauern, die mir gefolgt waren, und deren schimmliges Gestein nun bedrohlich mit den bemalten Wänden meines Zimmers verschmolz.
    Die Sklaven umdrängten mich, und behelligten mich mit ihrer Hilfe, es war mir zu viel und zu nah, es nahm mir fast den Atem, einer setzte mir einen Becher an die Lippen und nötigte mich zum Trinken, eine brachte Öllampen, einer kniete vor mir und löste meine halbzerfallenen Calcei, und eine legte mir fürsorglich eine Decke um die von Schweiß und Regen nassen Schultern.
    "Lasst mich... in Ruhe." brachte ich brüchig hervor. "Und... öffnet das Fenster."
    Als sie zurückwichen, und als das Rauschen des Regen, und mit ihm ein Schwall feuchter Nachtluft ins Zimmer drang, konnte ich besser atmen. Schwester hatten sie gesagt. Seiana dachte ich Seiana ist frei. Und Senator hatten sie gesagt. Seiana ist nicht allein dachte ich , und das ist gut dachte ich, aber ich dachte es lediglich, ohne dabei etwas zu spüren, denn eigentlich... eigentlich war ich, auch wenn ich dort zusammengesackt auf dem Rand des Bettes saß, schmutzig und ausgezehrt, in einer Tunica militaris und mit Seianas Tuch ums linke Handgelenk, die Arme auf den knochigen Knien, und das Gesicht in den Händen... war ich... nein... nein, eigentlich war ich wo auch immer aber jedenfalls nicht hier.

    Stumm wartend beäugten die beiden Träger das Geschehen. Der eine kratzte sich am Bauch. Der andere rückte seine phrygische Mütze zurecht.
    Als die Sklaven mit dem lädierten Decimer im Inneren des Hauses verschwunden waren, und der Ianitor sich den beiden wieder zuwandte, da räusperte der Glubschäugige sich erst einmal umständlich.
    "Via Sacra." sagte er dann mit schwer verständlichem Akzent. Er streckte Ephialtes die geöffnete Hand hin und forderte: "Geld."

    An Stelle einer Antwort trat der zwielichtige Bursche einen Schritt zurück, hob die Laterne und ließ ihren Schein auf die Gestalt im Tragesessel fallen:
    Es war ein ausgezehrter, völlig abgemagerter Mensch, unter dessen verwahrlostem Äusseren und in dessen apathischem Starren sich nicht auf den ersten, und vielleicht noch nicht mal auf den zweiten Blick Decimus Serapio erkennen ließ. Er wandte den Kopf weg vom Licht, und stützte sich mit den Händen auf den Lehnen ab, als er sich langsam und mühselig erhob. Dann tat er taumelnd einen Schritt auf die Porta zu.

    Klick klick schlugen die harten Ledersohlen der Träger auf das Pflaster. Eine Laterne hatten sie bei sich, die warf einen trüben Schein, der bei jedem Schritt schwankte. In dem Tragesessel, dessen Last die beiden auf den breiten Schultern trugen, hing in sich zusammengesunken eine reglose Gestalt.
    Es ging auf Mitternacht zu, und noch immer fiel ein leichter Regen. Verödet lagen die Straßen des Caelimontiums. Vor der Casa Decima machten die beiden Männer halt, ließen die Tragestangen sinken, setzten kaum ausser Atem ihre Last ab und wischten sich den Regen aus den Gesichtern.
    Einer der beiden pochte kräftig an die Türe. Der Schein der Funzel meißelte seine Züge grob aus dem Dunkel. Untersetzt und muskelbepackt war er, hatte hervortretende Augen und ein grotesk fliehendes Kinn. Er pochte noch einmal.




    Ein Häufchen von.... 'Nullen' und Einsen? Mir sträubten sich die Haare. Das klang seeehr ungut, auch wenn mir völlig schleierhaft war, was denn eine 'Null' sein sollte. Zugleich beschlich mich der böse Verdacht, sie sage mir nicht die ganze Wahrheit.... zu offensichtlich war die Muse darauf bedacht, dass ich nicht in die wahre Welt hinübergelangte....!


    "Was ist schon Wirklichkeit! Warum sollte deine Welt, Faustus, weniger wahr sein, als die unsere?"


    "Es sind nur Worte... Es ist nicht real."
    Ich fror bis ins Mark. Nur meine Stirn glühte. Nicht real. Schlang die Arme um mich. Nicht real. Mein Oberkörper begann ein wenig zu wippen. Nach vorne und zurück. Nicht real. Es ist nicht real. Nicht real. Ich bin nicht real. Ich bin nicht.


    "Sieh sie dir an an." forderte sie mich auf. "Sieh hin..."


    Von ihrer Stimme wie von einem Band gezogen, hob ich den Kopf. Blickte mit Augen, die meine fremd gewordene Welt durchdrangen, durch den Regen die endlosen Buchstabenzeilen der nächtlichen Straße entlang... und sah durch Insulae aus Textspalten und Wortkolonnen hindurch... in eine kleine Garstube, wo zwei aus Worten und Strängen gewebte Männer gerade herzhaft in dampfende Teigtaschen bissen.


    "Könnt ihr eure Welt denn nicht genauso mit euren Sinnen erfassen wie wir die unsere? Ist diese Mahlzeit für diese beiden, mit all ihren Nuancen von würzigem Fleisch und frischem Brot, denn weniger köstlich, weil sie zuvor jemand erdacht hat? - "


    Klio nickte einem bärtigen Schweiger, der dort in der Garküche am Tresen lehnte, freundlich zu, und fuhr leidenschaftlich fort:


    "Ein Traum in einem Traum! Auch wir, die wir eure Welt erträumt haben, mögen Figuren im Traum eines Schlafenden sein. Nichts ist, ohne Abbild einer Idee zu sein. Nichts ist vorstellbar, das nicht im Geist eines Vorstellenden wäre. Esse est percipi.
    Und darüber hinaus, Faustus, weißt du gar nicht, was für ein privilegiertes Leben du hier führst! Du hast Atemberaubendes erlebt! Gegen parthische Panzerreiter hast du im Feld gestanden, hast exotische Länder bereist, die ausschweifendsten Feste gefeiert und die schönsten Männer geliebt, warst Gardepräfekt, warst Feldherr, und hast zuletzt, um deinem Gewissen treu zu bleiben, alles aufgegeben... Niemals hat dich je der graue Hauch des Banalen, des Alltäglichen gestreift, du bist Gedanke, ungebunden, frei..."

    Ein melancholisches Lächeln umspielte ihren steinernen Mund.
    "Du hast... Dinge gesehen, die andere sich nicht erträumen würden. Götter und Heroen erfüllt von Feuerglut, lodernd im wilden Korybantentanz. Du sahst den Widerschein des Mondes, glitzernd auf euren Klingen, am Tor von Circesium. All diese Momente werden verloren sein in der Zeit, so wie Tränen im Regen. Zeit zu -"


    "Halt." schnitt ich ihr schnell das Wort ab. Denn dies klang mir viel zu sehr nach einer Grabrede.
    "Ich will meine Schwester wiedersehen. Ich will die, die ich liebe, noch einmal wiedersehen, Klio!" Aber wie konnte ich, nach allem was geschehen war und nach allem was ich jetzt wußte... hier überhaupt noch existieren?


    Sie wies wieder auf die beiden Gäste der Garküche. Die verließen gerade wohlgemut das Lokal.


    "Was kannst du von ihnen lernen, Faustus?"


    Mit zusammengekniffenen Augen starrte ich ihnen nach. Dann sprach ich tiefempfunden:


    "Der größte Segen den es gibt – ist IGNORANZ!"


    Ihre kühle Hand legte sich auf meine Stirn.


    "Du wirst dich an alles erinnern. Doch es wird nur ein fiebriger Traum in einem Traum in einem Traum sein. Du bekommst eine letzte Frist, Faustus. Vale."


    "Klio" flüsterte ich benommen. "Klio – du bist auch nur... eine prätentiöse Maske, oder?"


    Schwer lag ihre Hand auf meiner Stirn. Meine Lider waren schwer... Langsam glitt die Hand über meine geschlossenen Lider. Dann hörte ich, nur noch von ferne, ihre Stimme, wie sie einen 'Gregor' um einen Gefallen bat, und dann war es mir, als würde ich aufgehoben, und säße rittlings auf einem riesigen Käfertier, und dieses Ungetüm trüge mich fort, trippele mit mir durch die Straßen der Stadt. Klick klick machten die vielen Beinchen auf dem Pflaster. Klick klick.

    http://img560.imageshack.us/img560/6055/ckno.jpg
    Da geschah es. Hände! Zuerst sah ich zwei Hände, die aus dem Abgrund von Schwärze heraus griffen... und die Schwärze wie einen Vorhang zur Seite schoben. Dahinter lag, wie ich nur für einen Wimpernschlag erahnen konnte... eine Welt, deren Andersartigkeit mich schwindlig machte. Und durch den Vorhang trat die Muse Klio. Auf bloßen Füßen ging sie über das Netz der Stränge und Worte auf mich zu. Blieb vor mir stehen. Ihr steinerner Chiton wogte sacht. Die Lettern des Regens wichen vor ihr zurück. Sie allein, wie sie sich mitleidig zu mir erbärmlich unechtem Wortgeschöpf herabbeugte war real, hatte... Substanz.


    "Faustus." sprach sie zu mir, "fürchte dich nicht."


    "Klio?" fragte ich brüchig. "Erklär es mir... was ist das hier?"


    "Müde der ewigen Versuche uns durch die rohe Materie zu kämpfen, wählten wir einen anderen Weg und wollten dem Unendlichen entgegeneilen. Wir gingen in uns und schufen eine neue Welt. - So hat es einmal jemand gesagt. Eine unendliche Geschichte. Andere jedoch sagen... es ist nur ein Spiel und sollte nicht allzu ernst genommen werden."


    "Ein Spiel?! Ich bin in einem Spiel?! Ich bin bloß... Unterhaltung?! Zeitvertreib?! Zum Hades mit euch!" fluchte ich wutentbrannt. "Verdammt, ich LEBE!"


    "Es ist komplex. Viele Kräfte sind hier am Werk, Faustus, sie walten und gestalten, bauen auf reißen ein. Machtvoll sind die Kräfte des Traumes, des künstlerischen Strebens, der Herzenswünsche, des Wettkampfes und des puren Schaffensdranges... der Neugier, des Forscherdranges und des Wachsens..... doch nicht allein sie wirken hier, auch die rohen Kräfte des Trivialen, der Enttäuschung, der Gewöhnung, des Banalen, der Einfaltslosigkeit und der persönlichen Eitelkeit ringen hier mit ihren Geschwistern beständig um die Vorherschaft..."


    "Ich brauche kein mystisches Blaba!" wischte ich ihre Worte achtlos beiseite, drängte zornbebend: "Ich will ANTWORTEN! - Warum habt ihr uns diesen Krieg angetan??! Warum mußte ich alles... alles verlieren?!"


    Die Muse neigte traurig den Kopf. Nun sah sie eher wie Melpomene aus.
    "Nur ein Wirrwarr im Spiel der Kräfte, Faustus. Aber sieh es einmal so: hätte es den Krieg nicht gegeben, hätte er mit seinen Unstimmigkeiten die Struktur eurer Wirklichkeit nicht so nachhaltig beschädigt, dann hättest du niemals die Risse in der Matrix, will sagen in eurer Lebenswelt erkannt. Du hast ein Eigenleben entwickelt, Faustus, Bewußtsein..."
    Bewegt strich sie mir mit ihrer kühlen Hand über den Scheitel.
    "Aber du hattest ja immer schon den starken Drang zum sein. Ursprünglich warst du nur Dekor, doch sobald Hannibal dir einen Namen gab, tratest du selbst ins Leben."


    Es war unendlich zu viel. Risse in der Wirklichkeit. Ich, Dekor. Ich atmete heftig aus, und das Wissen, dass ich keine Luft atmete, sondern... Lettern... Tinte?...Buchstaub?... ließ mich keuchen.
    "Warum... warum mußte Hannibal sterben? So elendiglich sterben."


    "Er war wohl auserzählt, Faustus."


    "Auserzählt?!" widerholte ich entsetzt das grausame Wort. "Ich habe ihn GELIEBT! Und ich, bin ich jetzt auch 'auserzählt'?"


    "Ich fürchte ja."


    Auserzählt hallte es entsetzlich in mir nach. Mit weiten starren Augen fixierte ich das grausame Wesen vor mir.
    "Nein. sagte ich mit kleiner Stimme, krampfhaft den Kopf schüttelnd. "Nein." weigerte ich mich, gab alles um sie zu überzeugen. "Ich bin nicht auserzählt! Ich... ich will wenigstens meine Schwester wiedersehen. Und ich habe... ich habe noch immer eine aufgeschobene Verabredung mit einem echten Adonis! Und Manius. Ich muß wissen ob er... - " Ich stockte. "...er hat mich angelogen. Oder?"


    "Du bist immer so dramatisch, Faustus. So alles oder nichts..."


    "Und warum?!" verteidigte ich mich, "Ganz recht, weil ich so geschaffen wurde!"
    Ein neuer Gedanke keimte da in den Ruinen meiner geistigen Gesundheit, begann Wurzeln zu schlagen und seine Blätter zum Licht zu recken... Es gab eine Welt dahinter, die Welt der Schöpfer... dann müßte es doch möglich sein auszubrechen aus diesem Gefängnis! Die Höhle der Schatten zu verlassen! Die wahre Wirklichkeit zu sehen!


    "Nein, Faustus." zerschmetterte die Muse, kaum hatte ich es gedacht, auch diese zarte Hoffnung. "Versuch das nicht. Du bist an deine Welt gebunden. Kannst bei uns nicht existieren. In dem Augenblick in dem du die Grenze überquerst, würdest du zu einem Häufchen Nullen und Einsen zerfallen."