Der Lehrer setzte sich gerade, als er seinem Schüler die übliche Frage zu Beginn des Unterrichts stellte: „Nun denn, Phaeneas, zeig mir einmal deine Hausaufgaben.“ Der Sklave reichte ihm darauf seine Wachstafel und gab sie zur Ansicht frei. Nachdem der Magister die ersten Blicke darauf geworfen hatte, wollte er gerade zu einem Kommentar ansetzen, da unterbrach er sich selbst mit dem irritierten Ausruf: „Was ist denn das?!“ Vor ihm, im unteren Teil der Wachstafel, befand sich ein krakeliges, ungelenk und unsauber geschriebenes etwas, das so einige Buchstaben hätte wiedergeben können. Phaeneas lief leicht blass an, was in diesem Fall ungefähr dem gleich kam, wenn andere verlegen rot wurden. „Ach das, da habe ich Cephalus etwas schreiben beigebracht – das hier ist einer seiner ersten Versuche.“ Der Bithynier registrierte das amüsierte Lächeln des Magisters. „Na, da werdet ihr wohl noch etwas mehr üben müssen.“ Damit wandte er sich wieder Phaeneas‘ Bemühungen zu. „Sehr schön“, meinte er. „Es macht insgesamt einen guten Eindruck. Das N ist noch nicht klar genug gezogen, das A in Zukunft auch noch ein wenig schöner. Und das O nicht ganz so rund, etwas ovaler, siehst du?“ Er malte ihm eines vor. „Ansonsten leserlich und die Zeilen gerade. Weiter so!“ Der Lehrer schien es längst gewöhnt zu sein, Phaeneas‘ musternden Blick auf sich gerichtet zu haben, der auf jedes Wort zu lauern schien. Gerade wenn er lobte. Dann war der Bithynier besonders misstrauisch, gegenüber dem Wahrheitsgehalt.
„So, heute kommen ein paar der letzten Buchstaben. Q, R und S.“ Der Magister zeichnete auch diese vor. Inzwischen schrieb er die neu zu lernenden Buchstaben längst nicht mehr so groß wie anfangs. „Meinst du, du kommst mit allen drei zugleich zurecht, Phaeneas?“ Der nickte langsam. „Sic arbitror, magister. Ich denke ja.“ Darauf schob der Lehrer die Tabula zu ihm: „Dann fang an.“ Wie schon längst gewohnt nahm Phaeneas einen Stilus zur Hand und zog den vorgeschriebenen Buchstaben seines Lehrers nach, ritzte ihn in das weiche Wachs ein. „...Q...„ Dann den nächsten: „... R ...„ Ein herrlich rollender Laut! Als letztes schrieb er den dritten Buchstaben. Äh ... „Was war das noch gleich?“, erkundigte er sich. „Das ist das S“, gab der Magister bereitwillig Auskunft. „S“, wiederholte der bithynische Sklave gewissenhaft. So übte er eine Zeit lang weiter. „Q ... R ... S, Q ... R ... S ... Q, R, S ...“ Der Lehrer korrigierte zwischendurch, vor allem die Rundung des Q, die ihm schlicht zu rund war.
Sobald er befunden hatte, dass Phaeneas die neuen Buchstaben genug eingeübt hatte, und ihn mit dem Schreiben aufzuhören geheißen hatte, stellte er fest: „Jetzt kannst du übrigens deinen Namen schreiben, Phaeneas.“
„Wirklich?“ Der Bithynier sah ihn an, als hätte er ihm gerade verkündet, dass er nun ohne Probleme den Mond aus seiner Bahn werfen oder sein Leben im Nachhinein ändern könne. „Ja“, bestätigte der Lehrer. Phaeneas‘ Augen leuchteten auf. Dann griff er nach dem Stilus und der Wachstafel. „Mit P-H am Anfang“, merkte der Magister an. Noch einmal sah der Sklave ihn mit großen Augen an. Ihr Götter, was schrieb man seinen Namen umständlich! Auf jegliche neue Überraschungen gefasst brachte er zuerst P und H zu Papier, dann orientierte er sich daran, wie man ‚Phaeneas‘ sprach. Der Lehrer nickte von der Seite her: „Haargenau so.“
Der Bithynier besah sich das Schriftbild seines Namens. Noch nie hatte er ihn in Buchstaben festgehalten gesehen oder zumindest nicht im Wissen darum. Es war für ihn ein bisschen, wie wenn man als kleines Kind seine Hand im Kies nachzeichnete oder sich in jenem Alter bewusst mit seinem Spiegelbild auseinandersetzte: die Entdeckung eines kleinen Stücks von sich selbst. ‚Das da bin ich, Phaeneas. Diese Buchstabenreihe bezeichnet mich, steht für mich. Genau das da vor mir auf der Wachstafel.‘ Das schwungvolle P gefiel ihm, genau wie das H dahinter. Der ganze Name hatte etwas gleichmäßiges, stimmiges. Das sich abwechselnde A-E E-A eingerahmt von P-H und S. Es hatte Anfang und Ende – eine runde Sache!
Allmählich löste er sich vom Anblick seines Namens, ließ von den dadurch neu entstandenen Gedanken und Empfindungen ab und widmete sich wieder seinem Lehrer.
„Da du dich beim Schreiben auf der Wachstafel bewährt hast, wirst du nun den Umgang mit etwas neuem lernen“, kündigte der an. Ohne sich in Worten noch weiter zu erklären, nahm er ein Stück von einem Papyrusbogen zur Hand und legte es vor den Sklaven. Dann reichte er ihm ein Schreibrohr. „Das hier müsste für deine Hand in etwa das richtige sein. Halt es mal, Phaeneas. So wie man einen Stilus hält.“ Nachdem der Schüler es in Empfang genommen hatte und tat, wie ihm geheißen, betrachtete der Lehrer das Ergebnis kritisch. „Ja, doch, das müsste hingehen“, meinte er schließlich. Dann holte er nacheinander einen kleinen Glasbehälter mit einer schwarzen Flüssigkeit, einen Schwamm, ein kleines Messer und noch etwas hervor, das Phaeneas zuerst nicht sehen konnte. Genau diesen Gegenstand zeigte ihm der Magister zuerst. „Einen Bimsstein benutzt man, um eine vom Schreiben stumpf gewordene Rohrfeder wieder spitz zu machen. Mit diesem Messer hier“ – er hob es hoch und legte es wieder zurück – „spaltet man danach die Spitze der Feder wieder. Frische Schreibfehler lassen sich mit Hilfe des Schwammes beseitigen. Nun denn.“ In sorgsamer Bewegung öffnete er das Tintenfass und machte eine einladende Geste. „Nimm Tinte auf und schreib, was ich dir diktiere: ‚Mens sana in corpore sano.‘*(1) .“ Obwohl Phaeneas das Rohr nur ein wenig eintauchte, verhinderte es trotzdem nicht, als er das Schreibgerät zum Papier zurückführte, dass ein Tintenkleks auf dem beigen Material landete. Der Lehrer hob dazu dezent missbilligend eine Augenbraue, meinte aber nur: „Na ja, hier kannst du gleich den Schwamm ausprobieren.“ Phaeneas nickte: „Gut.“ Er griff danach und wischte damit vorsichtig über den tiefschwarzen Fleck. Erleichtert betrachtete er, wie der Klecks verschwand. „Im Laufe der Zeit wirst du lernen, den Schwamm so zu benutzen, dass man hinterher nichts von seinem Gebrauch sieht“, erklärte der Lehrer dazu. Phaeneas nickte wieder und tauchte die Feder ein zweites Mal in die Tinte, diesmal noch sparsamer als vorher. „Wie war der Satz gleich?“ Geduldig wiederholte sich der Magister. Nun gut. Vorsichtig setzte der Bithynier auf dem dünnen Papyrus an und schrieb.
Immer zufriedener stellte er seit einiger Zeit fest, dass er die Buchstaben immer schneller aneinanderreihen konnte. Zuerst hatte er für jeden einzelnen lange überlegen müssen, bis er ihm eingefallen war, ein Wort war für Phaeneas einer Ewigkeit gleichgekommen, von einem Satz ganz zu schweigen. Mit der Zeit hatte er gelernt jeden Laut mit einem oder mehreren Buchstaben zu verbinden, das war dann nur noch ein gedankliches Abhaken gewesen, das immer weniger Überlegung verlangte. Inzwischen funktionierte das mit dem Schreiben recht flüssig und stellte Phaeneas insgesamt doch relativ zufrieden.
Es hatte mit dem Schreiben neben dem praktischen Nutzen noch eine andere, außergewöhnliche Bewandnis: Es war eine Bestätigung für Phaeneas‘ Bemühungen. Er, der als Sklave aufgewachsen und von früh auf mit den verschiedensten Aufgaben und den damit verbundenen Ansprüchen an ihn vertraut war, sah nichts besonderes daran, wenn er eine dieser Sklavenarbeiten erledigte, und betrachtete es als ganz selbstverständlich zu wissen, wie es funktionierte, und sich dabei zu bemühen es möglichst gut zu machen, (und konnte es am Rande erwähnt oft nicht verstehen, wenn jemand nicht so selbstverständlich damit klar kam). Das Lesen und Schreiben dagegen lernte er nun vom Nullpunkt an, ohne jegliches Vorwissen. Zu sehen, dass die Hingabe, die er in diese Sache investierte, sichtlich Fortschritte mit sich brachte, seine Leistungen so vor Augen geführt zu bekommen, es hatte eine ungewohnt bestärkende Wirkung auf Phaeneas. Denn es zeigte ihm, dass seine Bemühungen nicht sinnlos waren, und wurden hier auf angenehme Weise honoriert.
„Mens sana in corpore sano“, las der Lehrer noch einmal vor. „Genau. Und nun weiter mit ‚Bona bonis.‘*(2) ...“
Sim-Off:*(1) Der Vollständigkeit halber: Ein gesunder Geist in einem gesunden Körper.
(2) Das Gute den Guten.